Freitag, 21. Juni 2019

Rechtspopulismus und die Europawahl

„Es ist die Bestätigung dafür, dass sich das Ergebnis der kommenden Europawahl weit über das Parlament hinaus auswirken und direkte Konsequenzen für die Zukunft der EU haben wird.“ Dieses Zitat stammt aus einer linksliberalen spanischen Tageszeitung und wurde am 24. Mai 2019 veröffentlicht. Auch war in Berichterstattungen in den Wochen und Monaten vor der eigentlichen Wahl oftmals von einer sogenannten „Schicksalswahl“ zu lesen oder zu hören.

Und anders als bei Lord Voldemort“ - „Er, dessen Name nicht genannt werden darf!“ - hatte man das Gefühl, dass ein Begriff in jeglicher politischen Diskussion genannt werden muss: (Rechts)Populismus. So wurde beispielsweise vor der Wahl von 30 Intellektuellen und Schriftstellern zu einem Widerstand gegen Populismus aufgerufen: „Die Europawahl drohe zu einem Horrorszenario zu werden, wenn sich keine Mehrheit dagegenstelle.“

Wer sich im Zuge der Wahl ausführlicher mit dem aktuellen Tagesgeschehen befasst hat, wird bemerkt haben, dass es sich bei diesen Aussagen über Populismus um keine Einzelfälle handelte. Natürlich tragen die Aktualität und die Brisanz dieses Phänomens dazu bei, dass (Rechts)Populismus immer häufiger in verschiedenen Debatten zentrales Thema ist. Dennoch ist häufig unklar, wie dieser doch schwierige und umstrittene Begriff richtig zu deuten ist.

Aufgrund dessen stellen sich folgende Fragen für diesen Beitrag: Wie kann (Rechts)Populismus genauer definiert werden? Und wie lassen sich die Ergebnisse der Europawahl 2019 in Bezug auf (Rechts)Populismus interpretieren?

Dabei soll wie folgt vorgegangen werden: In einem ersten Schritt wird versucht, dem schwierigen und allgegenwärtigen Begriff (Rechts)Populismus klarere Konturen zu geben, um sich diesem schwer zu fassenden Begriff anzunähern und ein grundlegendes theoretisches Verständnis zu schaffen. Mit diesem (neuen) Wissen soll in einem weiteren Schritt auf verschiedene Analysen zu der vergangenen Europawahl eingegangen werden. Anhand dieser soll das Ergebnis der Europawahl und die Rolle des Rechtspopulismus analysiert werden.

Kernmerkmale des (Rechts)Populismus

Damit sich im weiteren Verlauf mit dem zentralen Thema dieses Beitrages beschäftigt werden kann, muss in einem ersten Schritt der Begriff Populismus genauer definiert werden. Es wird dabei versucht, auf zentrale Aspekte einzugehen, dennoch ist und bleibt (Rechts)-Populismus ein kontrovers diskutierter Begriff, der in dieser Arbeit nicht vollständig analysiert werden kann.

Das wohl bekannteste Merkmal des Populismus ist die Berufung auf den so genannten common-sense. Hierbei wird sich auf den „gesunden Menschenverstand“ bezogen, welcher
„[…] dem Reflexionswissen von Intellektuellen nicht nur ebenbürtig, sondern überlegen, weil er auf konkreter, lebensweltlicher Erfahrung beruhe, noch nicht vom Virus des modernen Skeptizismus infiziert sei und daher noch einen unverfälschten, "gesunden" Zugang zu Recht und Wahrheit habe (Anpassung F.L.).“ (Priester 2012) 
Mit dieser Art der Argumentation wird versucht, den eigenen Standpunkt glaubhaft zu vermitteln, ohne wirklich rationale Begründungen darlegen zu müssen. Des Weiteren kann es dadurch zu einer Annäherung an mögliche Wähler kommen, da die Anknüpfung an Alltags- beziehungsweise lebensweltliche Erfahrungen bei Wählern eine Art Zugehörigkeitsgefühl (Stichwort: „Einer aus dem Volk“, Wolf 2017, S. 9) auslösen kann. Dieses Gefühl der Zugehörigkeit kann durch geschicktes Handeln erweitert werden. Besonders kann es zu einer Haltung führen, welche sich gegen die gegebene Politik und die damit verbundenen Eliten richtet. Populisten „[…] treten daher als antipolitisches Sprachrohr und Seismografen des common sense auf [...] (Anpassung F.L.)“ (Priester 2012).

Zusammenfassend dienen common sense-Argumente der Reduktion von komplexen Sachverhalten. Diese Art der Reduktion ist zwar nicht nur bei Argumentationen von Populisten wahrnehmbar, jedoch wird sich hier besonders stark dieses argumentativen Mittels bedient. Priester geht des Weiteren davon aus, dass sich Populismus meist an bildungsferne Bevölkerungsschichten richtet, in welchen die Berufung auf den common sense umso mehr eine tragende Rolle spielt (vgl. Priester 2012).

Wie bereits angedeutet, ist Populismus ein sehr kontrovers diskutierter Begriff. So widerspricht Jan-Werner Müller Priesters Aussage. Er ist der Auffassung, dass Populismus an keinen sozioökonomischen Status der Bevölkerung gebunden ist (vgl. Müller 2016 S. 129).

Die von Populisten verwendete Sprache ist zudem oft bewusst einfach gehalten und beinhaltet nur selten Fremdwörter oder einen komplexen Satzbau. Darüber hinaus sind Tabubrüche eines der wichtigsten rhetorischen Mittel von Populisten. Dadurch kann auf der einen Seite betont werden, selbst eine Außenseiterrolle zu besetzen („Anti-Eliten“), auf der anderen Seite kann damit eine gewisse Kühnheit unter Beweis gestellt werden (vgl. Bauer 2010, S. 7). 

In Bezug auf populistische Inhalte ist es schwierig bis unmöglich, eine sinnige Ideologie zu identifizieren. Auch eine Betrachtung der Urheber vermeintlich populistischer Erzeugnisse bringt keine tiefere Erkenntnis im Hinblick auf gemeinsame Wesenszüge. So findet sich Populismus in den verschiedensten Bereichen der politischen Landschaft (vgl. Voßkuhle 2017).

Ebenfalls charakteristisch für das Phänomen Populismus sind bestimmte Merkmale der entsprechenden Führungspositionen. Diese müssen nicht zwangsweise ein Indikator für Populismus sein, können aber durchaus signifikant in Erscheinung treten (vgl. Müller 2016, S. 66). So geht Jan Werner-Müller davon aus, dass es irreführend sei, Populismus immer mit einem charismatischen Anführer in Verbindung zu bringen (vgl. Müller 2016, S. 48). Dennoch kristallisiert sich laut Müller eine wichtige Eigenschaft eines populistischen Anführers heraus: die angebliche Fähigkeit, den imaginären „Volkswillen“ richtig zu interpretieren und diesen dementsprechend umzusetzen (vgl. ebd., S. 49). Wenn dieser Gedanke weiter fortgeführt wird, zeigt sich, dass ein populistischer Redner oder Anführer ein gewisses sprachliches Geschick benötigt, um sich seinem Publikum anzupassen und eine deutliche Zugehörigkeit zu diesem suggerieren zu können (vgl. Wolf 2017, S. 8).

Dies ist eine sogenannte „dünne Ideologie“, wie es der Ideologietheoretiker Michael Freeden ausdrückt (vgl. Priester 2012). Diese Ideologie beruht auf „einer vertikalen Achse von ‚Volk‘ und ‚Elite‘“ (vgl. ebd.). Es kommt zu einer vertikalen Abgrenzung, in welcher die herrschenden Eliten beziehungsweise das „Establishment“ von dem sogenannten „wahren Volk“ abgegrenzt wird (vgl. Wolf 2017, S. 9). Eine Abgrenzung findet allerdings immer nur gegen die gerade herrschende Elite statt und paradoxerweise wird dabei eine neue „homines novi“, also eine überlegene Elite angestrebt, welche auf moralischer Ebene erhaben ist (vgl. Priester 2012).

Das „Volk“ spielt für die Definition des Populismus eine tragende Rolle. Dabei ist es jedoch wichtig zu vermerken, dass Populismus nicht unbedingt an ein bestimmtes Wählerklientel oder einen Politikstil gebunden ist, sondern einem Alleinvertretungsanspruch für dieses Volk folgt. Resultat dessen ist somit eine anti-pluralistische Haltung als Kennzeichen für Populismus (Müller 2016, S. 129). Populisten erheben demzufolge den Anspruch, dass nur sie allein das „wahre Volk“ vertreten und sehen sich als „[…] Vertreter der vox populi, also als Stimme des Volkes […] (Anpassung F.L.)“ (Wolf 2017, S. 8).

Dies führt dazu, dass das politische Programm von Populisten oftmals sehr undurchsichtig und unpräzise artikuliert ist. Damit soll erreicht werden, dass man sich immer nach dem Volk und dessen (angeblichem) „Willen“ ausrichten kann – in etwa wie bei einem „Chamäleon“ (vgl. ebd., S. 8). Diesbezüglich wird davon ausgegangen, dass das „wahre Volk“ eine homogene Masse sei, in welcher es keine Abweichung von „diesem einen Willen“ gäbe (vgl. Wolf 2017, S. 1). Dies wird oftmals noch durch „[…] moralisch aufgeladene Chiffren“ besetzt („der kleine Mann“, „die Fleißigen und Tüchtigen“, „die schweigende Mehrheit“ etc.) […] (Anpassung F.L.)“ (Bauer 2010, S. 5).

Dieser Glaube und dessen Umsetzung sind Gründe, warum Populismus besorgniserregend ist. Der Wille des „wahren Volkes“ wird nicht aus empirischen Ergebnissen gewonnen, sondern in einer Art Interpretation zurechtgelegt (vgl. Müller 2016).

Damit einhergehend entsteht ein weiteres Problem im Umgang mit Populismus: Wer populistischen Aussagen widerspricht oder eine abweichende Position vertritt, „gehört per Definition gar nicht zum wahren Volk“ (ebd., S. 53). Somit lässt Populismus keinen Raum für Pluralismus, welcher ein zentrales Merkmal von Demokratien ist. Die Bundeszentrale für politische Bildung schreibt dazu Folgendes:
„Als Leitbild der Legitimität moderner Demokratien zielt P.[luarlismus] auf ein freies politisches und gesellschaftliches Zusammenleben […] (Anpassung F.L.)“.
Populisten erheben also den Anspruch, die einzigen, wahren und richtigen Vertreter des Volkes zu sein. Auch Müller bekräftigt erneut in einem Artikel, dass die antipluralistische Haltung als eine zentrale Eigenschaft von Populismus gesehen werden kann. In einem abgedruckten Text eines Referates von Jan-Werner Müller beim NZZ Podium beschäftigt sich Müller mit der Frage, warum Populismus so gefährlich sei. Antipluralismus „[…] geschieht offensichtlich auf der Ebene der Parteipolitik und weniger offensichtlich, wenn Populisten Teile des Volkes – mit Vorliebe auch ohnehin schon verletzliche Minderheiten – für «unecht» (oder gar gleich zu Volksverrätern) erklären. (Anpassung F.L.)“.

Ein weiteres Merkmal des Populismus ist eine massive Kritik und ein starkes Misstrauen gegenüber bestehenden Institutionen beziehungsweise deren Verfahren und den damit verbundenen Repräsentanten (vgl. Müller 2016, S. 63). Diese Kritik führt so weit, dass es zu einer Delegitimierung der gewählten Volksvertreter und den damit verbundenen Institutionen kommt (vgl. ebd., S. 130).

Bei Rechtspopulismus wird „zusätzlich das eigene Volk, die eigene Nation von den Fremden, den Anderen bzw. den Ausländern abgegrenzt“ (Wolf 2017, S. 8). Nach rechtspopulistischer Auffassung ist das „wahre Volk“ dabei ebenfalls wieder eine homogene Gemeinschaft. Zusätzlich wird eine angebliche gemeinsame Kultur und Entstehungsgeschichte als Indikator für das Volk benutzt. Eine Besonderheit des Rechtspopulismus ist somit ein ausgeprägter Nativismus (vgl. Wolf 2017, S. 13).

Euroskeptizismus

Wie bereits angesprochen besteht bei Populisten oftmals eine massive Kritik an bestehenden Institutionen. So ist gerade in Europa zu beobachten, dass (Rechts)Populisten häufig die Europäische Union kritisieren beziehungsweise die demokratischen Mittel ausschließlich dazu nutzen wollen, um sie abzuschaffen. Bestätigend hierzu sagte Cas Mudde in einem Interview: „Fast jeder Populist ist euroskeptisch, nicht jeder Euroskeptiker ist ein Populist.“

Aus diesem Grund soll in einem weiteren Schritt das Phänomen Euroskeptizismus genauer beleuchtet werden. Um Kritik an der EU besser kategorisieren zu können, wurde der Begriff „Euroskeptizismus“ entwickelt. In älteren (teilweise überarbeiteten) Modellen wird weiter in ‚harte‘ und ‚weiche ‘ Euroskepsis unterteilt. Dabei ist die ‚weiche‘ Skepsis für eine Kritik vorgesehen, welche sich an einzelne Aspekte der EU richtet. Erstere stellt die EU als Ganzes in Frage (vgl. Miliopoulos 2017, Seite 60).

Kritiker wie Cas Mudde und Peter Kopecky erstellten ein alternatives Modell zu dieser gängigen Definition. Hierbei wird genauer zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung des politischen Systems unterschieden. Die spezifische Unterstützung bezieht sich dabei auf die Situation, in welcher sich die EU gerade eben befindet. Dabei wird anhand der Effektivität und der demokratischen Legitimation gewertet.

Die diffuse Unterstützung hingegen richtet sich nach den jeweiligen Zielen des politischen Systems. Hierbei beziehen sich Kritiker eher auf die Ideen und Werte der EU als Staatenverbund, also die jeweilige Haltung zur Idee von Europa. Diffuse Unterstützung der EU wird nun weiter als „europhil“ gekennzeichnet und im Umkehrschluss als „europhob“. Daraus resultieren verschiedene Positionen nach Cas Mudde und Peter Kopecky: EU-Optimistisch mit euroenthusiastisch und europragmatisch; EU-pessimistisch mit euroskeptisch und eurogegnerschaftlich (vgl. Miliopoulos 2017, Seite 61).

Einschätzungen zu den Ergebnissen der Europawahl

Bisher wurde versucht, den schwierigen Begriff des Populismus genauer zu umreißen und zusätzlich wurde ein kleiner Einblick in das Thema Euroskeptizismus gegeben. In einem nächsten Schritt sollen nun verschiedene Betrachtungsweisen auf die Ergebnisse der Europawahl dargelegt werden. Hierzu werden aktuelle Beiträge von verschiedenen (Politik)Wissenschaftlern gebündelt dargelegt.

Während sich auf der einen Seite (berechtigterweise?) über den Ausgang der Europawahl gefreut wird und dieser unter anderem auch als Sieg für die Demokratie bezeichnet wird, findet der Politikwissenschaftler Cas Mudde in einem Artikel des Guardian andere Worte für den Ausgang der Wahl. Cas Mudde ist niederländischer Politikwissenschaftler. Kernpunkte seiner Forschung sind dabei Extremismus und Populismus. Er beschreibt den Ausgang der Wahl mit folgenden Worten:
„These elections were no victory for democracy – upbeat responses to the results show how much the far right has joined the mainstream“ (Mudde 2019).
Er sieht den Ausgang der Wahl also nicht wie beispielsweise Martin Selmayr (Generalsekretär der Europäischen Union) als Sieg für die Demokratie, sondern deutet diesen sehr gegensätzlich. Um seine These zu unterstützen, versucht Mudde, unterschiedliche Aspekte der Wahl aufzugreifen und diese aus seiner Sichtweise zu beleuchten.

Der wohl offensichtlichste Punkt seiner Argumentationskette bezieht sich auf die neue Sitzverteilung der MEPs (Members of the European Parliament). Dabei gibt er zu bedenken, dass Populismus eben nicht eingedämmt worden sei, wie dies an manchen Stellen behauptet wird. So hätten die drei am äußerst rechten Rand und die euroskeptischen Fraktionen (ENF, EFDD & EKR) zusammengenommen beinahe so viele MEPs wie die Liberalen und Grünen im europäischen Parlament. Des Weiteren bemerkt er, dass zwar nicht alle rechtspopulistischen Parteien einen Zuwachs generieren hätten können, es aber insgesamt durch den Gewinn einiger großer rechtspopulistischer Parteien (Beispiel: Lega, Italien), zu einem Anstieg der rechtsextremen MEPs im Europäischen Parlament käme.

In der Analyse von Mudde werden im weiteren Verlauf andere weniger offensichtliche Punkte dargelegt. Ein Blick richtet sich dabei auf die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformisten (kurz: EKR). Diese Partei wäre traditionell von konservativen Briten angeführt worden. Allerdings hätte sich nach der Wahl herauskristallisiert, dass die polnische Partei für Recht und Gerechtigkeit (kurz: PiS) die meisten Mitglieder der EKR beisteuern würde. Um dies zu verdeutlichen, führt Mudde ein weiteres Beispiel an, nämlich die Fidesz Partei von Viktor Orban. Sie sei nun die drittstärkste Partei innerhalb der konservativen ‚Europäischen Volkspartei‘ (kurz: EVP) geworden. Zwar ist die Partei vorläufig am 20. März 2019 von der EVP suspendiert worden, dennoch stellt Mudde anhand dieser Beispiele fest:
„[…] populist parties, as well as parties that pander to nativist and populist audiences, increased their representation, and therefore power, within the various “mainstream” groups. (Anpassung F.L.)“ (Mudde 2019).
Mudde geht außerdem auf die gestiegene Wahlbeteiligung ein. Eigentlich eine gute Nachricht, für Mudde aber kein Anlass für Enthusiasmus. Erstens sei es kein Gewinn für die Demokratie, wenn gerade einmal knapp über die Hälfte der europäischen Wahlberechtigten von ihrem Recht Gebrauch machen. Noch dazu, wenn in drei Mitgliedstaaten der Union eine Wahlpflicht herrsche. Unter diesem Aspekt sei das Wahlergebnis nüchterner zu betrachten.

Auch wäre es ein Wunschdenken, eine erhöhte Wahlbeteiligung darauf zurückzuführen, dass die Wähler die Relevanz Europas oder europäischer Problemfelder im Sinn gehabt hätten. Im Gegensatz dazu beschreibt er dieses Phänomen mit folgenden Worten:
„[…] the biggest increases in turnout were in countries with particularly polarised national politics (such as Austria, Hungary and Romania) (Anpassung F.L.)“ (Mudde 2019).
Mit anderen Worten sei nicht das Interesse an Europa für die gestiegene Wahlbeteiligung verantwortlich, sondern ein gestiegenes Interesse an nationaler und polarisierender Politik. Auch in einem anderen Artikel von Mudde unterstreicht er diese Aussage noch einmal. Er sieht für die gestiegene Wahlbeteiligung und die damit einhergehende erhöhte Mobilisierung nationale Interessen im Vordergrund und eben kein gestiegenes Interesse an Europa (vgl. Mudde 2019).

Des Weiteren wurden laut Mudde auch Interviews oder Gespräche, welche im Vorfeld der Wahl geführt wurden, nicht etwa mit den oberen Plätzen der Parteiliste geführt, sondern mit den jeweiligen Vorsitzenden auf nationaler Ebene. Auch darin lasse sich eher ein Interesse an nationaler Politik als an Politik auf europäischer Ebene wiedererkennen.

In Summe kommt Mudde auf folgendes Urteil über die Europawahl 2019: Die Wahlen haben ihm gezeigt, inwieweit Populismus und die populistische radikale Rechte bereits im Mainstream angekommen seien, beziehungsweise eine Normalisierung dieses Spektrums sei zu erkennen. Er schreibt, dass wir es mittlerweile als normal empfinden, wenn eine Neonazipartei die drittstärkste Kraft in einem Mitgliedsland bildet (vermutlich wird hier an die „Kotleba – Volkspartei unserer Slowakei“ angespielt, welche bei den Europawahlen 12,07 % der Stimmen erhielt). Ebenfalls wird es kaum mehr wahrgenommen, dass die populistische radikale Rechte in mehreren Mitgliedsstaaten die größte Partei wurde, wie unter anderem in Frankreich und Italien der Fall. Gleichzeitig wird jedoch trotzdem davon gesprochen, dass dem Rechtspopulismus die Stirn geboten wurde.

So findet Mudde im Gegensatz zu verschiedenen anderen Medien und Autoren an den Ergebnissen der Europawahl nicht viel Erbauliches. In diesem Beitrag macht er auf unterschiedliche Punkte aufmerksam. Fakt ist, die Ergebnisse der Populisten sind nicht so hoch ausgefallen wie prognostiziert, dennoch wurden gerade durch die überschwängliche Begeisterung der Medien darüber die tatsächlichen Ergebnisse verharmlost.

In einem weiteren Beitrag von Mudde werden die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Wahl 2019 mit der von 2014 verglichen. Erschienen ist der Beitrag auf der Internetseite www.voxeurop.eu. Einzelne Punkte aus diesem wurden bereits zuvor angesprochen, dennoch lohnt sich ein Blick auf diese genauere Analyse der Europawahl.

Mudde ist der Überzeugung, dass bei der Wahl 2019 der Sieger im populistischen Spektrum eindeutig auf der rechten beziehungsweise der extremen rechten Seite zu finden sei. So haben im Vergleich zu 2014 rechtsextreme populistische Parteien ihre Macht ausweiten können und linkspopulistische Parteien, welche noch 2014 im Aufstieg waren, gehörten 2019 zu den Verlierern (Beispiel: Podemos in Spanien).

Warum das so ist, macht er an mehreren unterschiedlichen Punkten fest. So würden zum Beispiel in Italien, Polen und Großbritannien erstmalig rechtsextreme populistische Parteien zu den großen Gewinnern zählen. Überdies postuliert Mudde, zwischen 2014 und 2019 hätten Entwicklungen stattgefunden, in welchen sich verschiedene große Parteien über diesen Zeitraum zu radikal rechts- populistischen Parteien entwickelt hätten. Als Beispiel hierfür nennt er Fidesz in Ungarn und in Polen die Partei für „Recht und Gerechtigkeit“. Ferner konnten rechtsradikale Populisten ihren Einfluss in den meisten Mitgliedsländern vergrößern, auch wenn dies manchmal bedeutet, eine „alte“ Partei durch eine „neue“ zu ersetzen (Beispiel: Niederlande; Partei von Geert Wilders (Partei für die Freiheit) abgelöst durch die Partei „Forum für Demokratie“).

Für die künftigen 5 Jahre sagt Mudde voraus, dass das Europäische Parlament so fragmentiert sein würde wie selten zuvor. Als Grund dafür nennt er beispielsweise, dass die zwei größten Fraktionen (EVP und S&D) nicht wie bisher eine Mehrheit im Parlament mehr stellen könnten und so auf verschiedene Koalitionen angewiesen wären. Aber auch im rechten Block der Populisten existiert eine Zersplitterung. So könne es sein, dass dieser wieder in zwei oder drei Blöcke aufgespalten wird.

In einem Artikel von Jon Henley (Europakorrespondent für den Guardian) wird behauptet, ein fragmentiertes Europäisches Parlament sei genau das, was die EU im Moment benötige. Der Artikel von Henley erschien kurz nach der Wahl. Er beschreibt, ähnlich wie Mudde, dass diese Fragmentierung bei den zentristischen Fraktionen zu sehen sei, aber auch bei Fraktionen, die nach „weniger EU“ verlangen. Um seine Leitthese zu stützen, beruft sich der Autor auf unterschiedliche Wissenschaftler. So postuliert der EU-Historiker Luuk van Middelaar, dass eine ernstzunehmende Opposition das Europäische Parlament stärken könne.

Unterstützung erhält diese These auch aus dem Centre for European Reform (britische Interessengruppe; eher Pro-EU einzuschätzen) von Agata Gostyńska-Jakubowska und Leonard Schuette. Sie gehen davon aus, ein solcher politischer Wettbewerb könne das öffentliche Interesse an der EU stärken und somit auch die Wahlbeteiligung erhöhen.

Im Zusammenhang der Europawahl ist ein Beitrag von rund 70 verschiedenen Wissenschaftlern erschienen. Dabei handelt es sich um einen „Europawahl-Guide“. Auch Cas Mudde ist in dieser Sammlung mit einem Artikel vertreten. In diesem Abschnitt will Mudde darauf hinaus, dass für ihn Populismus tot, und anstatt dessen „far-right“ der wahre Gewinner sei. Bevor es aber zu einer Begründung dieser These kommt, bedarf es einer Klärung des Begriffes „far-right“. 

„Far-right“ ist laut Mudde ein Terminus, welcher die Begriffe Rechtsextremismus und die radikale Rechte miteinander in Verbindung setzt. Ausgangspunkt ist, den Kernunterschied zwischen Rechtsextremismus und der radikalen Rechten zu beschreiben. Rechtsextremisten stellen die Demokratie prinzipiell in Frage. Die radikale Rechte akzeptiert zwar die Demokratie an sich, zweifelt jedoch wichtige Aspekte einer liberalen Demokratie an, so zum Beispiel Pluralismus und Minderheitenrechte. Dies macht Mudde als den Hauptunterschied zwischen beiden Begriffen fest. Mit dem Begriff „far-right“ will er einen flächendeckenden Begriff schaffen, welcher beide Begriffe ineinander vereint. Damit sollen gewisse ‚Sonderfälle‘, welche zwischen beiden Bedeutungen stehen, kategorisiert werden können.

In dem zuvor angeführten Text beschreibt Mudde eine wichtige Änderung in der Entwicklung von Populismus. Er sieht keinen Aufstieg des Populismus, sondern einen Aufstieg von Nativismus. Nativismus ist ein zentrales Merkmal von Rechtspopulismus. Es kam allerdings in den letzten Jahren zu einer Verschiebung des Hauptfeindbildes nach Mudde. So würden nun nicht mehr die eigentliche Elite (vertikale Abgrenzung) das stärkste Feindbild ausmachen, sondern die Abgrenzung gegenüber des „Fremden“ (horizontale Abgrenzung) würde die ausschlaggebende Rolle spielen. So kommt er zu dem Schluss, dass die Opposition nun nicht mehr vielfältig sei, sondern nur noch von rechts außen kommt. Daher rührt auch die eingangs beschriebene These Muddes.

Weiter ist in diesem „Europawahl-Guide“ unter anderem auch ein Beitrag von Nathalie Brack aus der französischsprachigen Universität in Brüssel (Université libre de Bruxelles) veröffentlicht. Auch sie beschreibt die Lage ähnlich wie Mudde. So hätten die Medien erleichtert festgestellt, dass die Welle des Populismus und/oder der Euroskeptiker durch Stimmen an Liberale und Grüne abgeschwächt worden sei. Darüber hinaus dürfe aber nicht vergessen werden, dass fast ein Drittel der europäischen Bürger sich für euroskeptische, populistische oder radikale Parteien entschieden hätten. Erschwerend kommt hinzu, dass die zwei sonst stärksten Fraktionen (EVP und S&D) im Europäischen Parlament nun nicht mehr die Mehrheit der Sitze stellen.

Sie sagt vorher, dass der rechte Flügel der Euroskeptiker nun vor dem Problem stehe, politisch auf der EU-Ebene relevant zu werden. Dafür müsse man in erster Linie eine stabile Fraktion bilden. Das ist deshalb problematisch, weil Euroskeptiker dazu neigen würden, in Punkten wie dem Widerstand gegen die EU einig zu sein, sich aber in anderen wichtigen politischen Punkten zu unterscheiden. Weiter geht Brack davon aus, dass bei Euroskeptikern aus dem rechten Flügel eher darauf geachtet werden würde, nationale Interessen zu vertreten, wodurch es auch zu Problemen untereinander kommen könnte. Wenn allerdings diese negativen Voraussetzungen beseitigt werden könnten, geht sie von folgendem aus:
„But despite these obstacles, if they indeed become the fourth largest group, they will be able to claim positions within the EP in terms of rapporteurships and chairmanships of committees, through which they could potentially have some legislative or political influence.“
Zusammenfassend schreibt sie, dass euroskeptische Parteien besonders aus dem rechten Flügel einen zunehmend größer werdenden Einfluss auf die EU hätten. Abseits von diesem direkten Einfluss auf die EU geht sie weiter darauf ein, dass sich euroskeptische Parteien in den letzten Jahren immer mehr etablierten und gerade dadurch würden diese Parteien weiterhin die europäische Politik indirekt beeinflussen. So seien etwa Themen (wie Migration, Handel, EU-Skeptizismus usw.) von und gerade durch solche Parteien immer mehr im politischen Mainstream angekommen und damit einhergehend auch eine bestimmte Art der Rhetorik.

Fazit

In den letzten Jahren sind vermehrt wissenschaftliche Arbeiten erschienen, die sich eingehend mit dem Thema (Rechts-)Populismus beschäftigen. Es bleibt jedoch schwierig, dieses Phänomen klar zu definieren und bestimmte Merkmale zuzuschreiben. Dennoch ist es unabdingbar, sich detailliert und kritisch damit auseinanderzusetzen, denn Entwicklungen in ganz Europa zeigen die immer größere politische Präsenz und Bedeutung von (Rechts-)Populismus.

Dieser Beitrag hat gezeigt, dass Populismus nicht mit einem Satz zu erklären ist. Das Phänomen setzt sich aus unterschiedlichsten Merkmalen zusammen, welche mal mehr und mal weniger stark vertreten sind. Der Versuch dieser Arbeit war es, sich diesem multidimensionalen Gesamtbild anzunähern und mit diesem Wissen die Europawahlen 2019 aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten. So wurde unterstrichen, dass Populismus und besonders Rechtspopulismus in Europa eine immer größere Rolle einnimmt.

Es hat sich gezeigt, dass es deutliche Unterschiede in der Betrachtungsweise zu dieser Wahl gibt. Während auf der einen Seite über die „grüne Welle“ oder „ein Sieg für die Demokratie“ gejubelt wird, interpretieren andere Seiten die Wahlergebnisse längst nicht so euphorisch. Wenn zum Beispiel Cas Mudde davon spricht: „[…] populism is dead, long live the far right! (Anpassung F.L.)“, ist es schwer sich über den Ausgang der Wahl noch zu erfreuen.

Ich denke, es ist wichtig, die ‚positiven‘ Seiten der Wahl anzuerkennen. Dennoch hat dieser Beitrag gezeigt, dass rechte Tendenzen in Europa immer stärker ausgeprägt sind und diese Tendenzen sich in einem immer prägnanteren Nativismus entwickeln. So ist vielleicht in Teilen Deutschlands von einer „grünen Welle“ zu berichten, aber in anderen Länder Europas (Italien, Slowakei, Ungarn) ist rechtes Gedankengut immer mehr im Mainstream angekommen. Wenn antipluralistische Parteien in Europa sich größer werdender Macht erfreuen, so kann von einem „Sieg für die Demokratie“ kaum die Rede sein.

Ferner stellt sich mir die Frage, ob gerade die eingangs beschriebene Berichterstattung zu einem Teil dafür verantwortlich ist, dass trotz der beschriebenen Entwicklungen die Wahl als solche eher positiv aufgenommen worden ist. Ich denke dadurch, dass im Vorfeld der Wahl in den Medien hauptsächlich negative Bilder für den Ausgang der Wahl prognostiziert worden sind, ist es jetzt leichter, den tatsächlichen Ausgang der Wahl als ‚normal‘ oder gar als ‚Sieg‘ zu bewerten.

Es wird spannend bleiben, zu beobachten, inwieweit es der rechtsgerichtete populistische Flügel schafft, sich zu organisieren und wie darauf von den anderen im EP vertretenen Parteien reagiert wird. Als liberal denkender Europäer betrachte ich die Entwicklungen in Europa mit Schrecken. Dennoch bin ich der Überzeugung, dass es neben den (für mich) negativen Entwicklungen die Möglichkeit für ein Europa gibt, in welchem ich gerne leben möchte.

Literaturverzeichnis

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen