Sonntag, 4. Oktober 2020

Europäische Identität und Demokratiedefizit

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Europäischen Union ohne die Diagnose eines Demokratiedefizits kann nur noch selten gefunden werden. Eine Liste der Symptome wird fein säuberlich geführt und gelegentlich werden Behandlungsmethoden vorgeschlagen. Einer der Ansätze verweist zur Demokratisierung der Europäischen Union auf die Förderung einer europäischen Identität. Doch inwiefern kann diese tatsächlich dem Legitimationsdefizit entgegenwirken? Um in die Thematik einzusteigen, wird im Folgenden zunächst einmal kurz gezeigt, worauf sich die Kritik an der europäischen Demokratie bezieht.

Die Grundfrage in diesem Diskurs fragt zunächst nach den Eigenschaften, die eine repräsentative Demokratie legitimieren. Decker (2017) bezieht sich hier auf zwei Punkte, die erstmals von Robert A. Dahl hervorgebracht wurden. Demnach sollte ein demokratisches System einen politischen Wettbewerb ermöglichen. Parteien sollten auf der Basis unterscheidbarer politischer Ziele gegründet werden und an Wahlen teilnehmen. So wird sichergestellt, dass Bürger*innen politische Werte und Handlungen mit ihren Stimmen bewusst unterstützen oder ablehnen können.

Die zweite für Dahl legitimierende Eigenschaft einer Demokratie ist die gleiche Partizipation der Bürger*innen. Zunächst fußt diese auf ein allgemeines Wahlrecht. Gleichzeitig muss jedoch auch das Grundgefühl herrschen, dass eine Veränderung durch die Abgabe des Stimmzettels bewirkt werden kann. Beide Punkte können als miteinander verbunden angesehen werden. Es wird davon ausgegangen, dass ein stärkerer politischer Wettbewerb zu einer höheren formalen Partizipation in Wahlen führt. (vgl. Decker 2017, 167)

Werden diese Überlegungen von Dahl nun auf das europäische System übertragen, ergeben sich einige Defizite der europäischen Demokratie. Zunächst wird nach Decker der politische Wettbewerb durch die polity der Europäischen Union eingeschränkt. Grund dafür sei die ständige Suche nach einem Konsens unter den Beteiligten, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Beispiele hierfür können in den hohen Zustimmungshürden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und vor allem in einstimmigen Entscheidungen des Europäischen Rates hinsichtlich der Außen- und Sicherheitspolitik gefunden werden.