Sonntag, 5. Juli 2020

Legitimations- und Demokratiedefizit der Europäischen Union

Nachdem wir uns mit den vielen Krisen beschäftigt haben, denen sich die EU gegenübersieht ("Polykrise"), geht es im nächsten und letzten Abschnitt des Corona-Semesters um die Frage nach der Demokratie in der EU, die deutlich komplexer ist, als die ständige Beschwörung eines (in der Regel unbestimmt bleibenden) "Demokratiedefizits" vermuten lässt. Mir ist eingefallen, dass ich vor ziemlich genau 20 Jahren (!) einen Text dazu geschrieben habe, der u.a. als Teilkapitel in dem Sammelband "Internationale Geschichte" (siehe hier) erschienen ist. Vielleicht ist der Text für Sie von Interesse...

Die normativen Aspekte der europäischen Integration: Demokratie- und Legitimationsdefizit

Die Dynamik des Integrationsprozesses seit Mitte der 80er Jahre, die sich am auffälligsten darin manifestiert, daß nach einer Phase der „Eurosklerose“ in rascher Folge drei große Vertragsänderungen erfolgten (Einheitliche Europäische Akte, Maastricht, Amsterdam), hat die normativen Probleme der Integration aus ihrem Dasein im Schatten des permissive consensus ins grelle Licht der Öffentlichkeit und der akademischen Debatte gezerrt. Insbesondere die intensiven Diskussionen nach Maastricht, das französische Referendum, das dänische Nein sowie das „Maastricht-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts bilden Meilensteine dieser Entwicklung.

In der Bundesrepublik konzentrierte sich die öffentliche Auseinandersetzung auf den schwierigen Abschied von der D-Mark, der den Bürgern deutlich vor Augen führte, in welchem Maß die EU in ihr Leben einzugreifen mittlerweile in der Lage ist. Gerade bei umstrittenen und unliebsamen Entscheidungen liegt die Frage nach ihrer Legitimität nahe. Was legitimiert das ferne Brüssel, autoritative Wertzuweisungen vorzunehmen, die massive Konsequenzen für belgische, dänische, deutsche, englische etc. Bürger mit sich bringen?

Der folgende Beitrag diskutiert diese normative Problematik des Integrationsprozesses in mehreren Teilschritten. Zunächst wird die Situation vor Maastricht beleuchtet. Wie war es um Demokratie und Legitimation in den ersten Jahrzehnten des europäischen Einigungswerkes bestellt? In einem zweiten Schritt wird gefragt, woraus die Virulenz des Legitimations- beziehungsweise Demokratiedefizits der EU seit Maastricht resultiert. Auf den ersten Blick scheint diese Entwicklung paradox zu sein, denn zum einen ist seit der Einheitlichen Europäischen Akte mit der Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments eine zunehmende Demokratisierung zu verzeichnen, zum anderen können sich die Legitimationsressourcen der EU im Vergleich mit Internationalen Organisationen traditioneller Prägung durchaus sehen lassen.

Daran anschließend wird zusammenfassend dargestellt, worin das Demokratiedefizit der EU besteht. Der folgende vierte Teil ist der Frage gewidmet, was einer Behebung des Defizits im Weg steht. Hier zeigt sich der enge Zusammenhang der Legitimationsproblematik mit dem Problem der adäquaten Erfassung des EU-Systems. Ein kurzer Exkurs soll diese Probleme verdeutlichen. Im abschließenden fünften Schritt werden gängige Lösungsvorschläge vorgestellt, die sich in der aktuellen und intensiven Debatte im Rahmen aller Teildisziplinen der Politikwissenschaft sowie benachbarter Disziplinen abzuzeichnen beginnen. Einigkeit herrscht bis dato lediglich in der Feststellung der „Unmöglichkeit des Status quo“ [1], wobei allerdings bereits unbestimmt bleibt, wie der Status quo treffend gekennzeichnet werden kann.


Demokratie und Legitimation in der Gemeinschaft vor Maastricht

Forderungen nach mehr Demokratie in Europa sind alles andere als neu, die Rede vom „Demokratiedefizit“ der EG begleitet Integration und Integrationsforschung seit der Gründungsphase. Tatsächlich litt der europäische Einigungsprozeß – wie jede zwischenstaatliche Zusammenarbeit – von Anfang an unter einem „Demokratieproblem“ [2].

Wenn Regierungen erfolgreiche internationale Verhandlungen führen sollen, so setzt das eine gewisse Handlungsfreiheit dieser Regierungen voraus. Nationale Parlamente als die Hauptquelle von Legitimation in liberaldemokratischen Systemen haben in der Außenpolitik nicht die gleichen Gestaltungsmöglichkeiten wie innenpolitisch. Das liegt in der Natur der Sache, Innen- und Außenpolitik laufen nach unterschiedlichen Prozeßmustern ab. Diese defizitäre Form von Demokratie, verglichen mit den Verhältnissen in nationalen Systemen, die lange und brüchige Repräsentationskette vom Bürger bis zum international verhandelnden Regierungsvertreter, eignet allen Internationalen Organisationen. Allen ist gemeinsam, daß sie sich nicht über die traditionellen, aus dem nationalen Rahmen bekannten, demokratischen Verfahren legitimieren. Wie läßt sich zwischenstaatliche Politik dann rechtfertigen?

Die gängige Antwort lautet: über ihren Erfolg. Internationale Organisationen legitimieren sich durch die Fähigkeit zur Lösung grenzüberschreitender Probleme, durch output-Legitimation. Aus diesem Grund sind sie ja überhaupt erst von den Staaten ins Leben gerufen worden, nämlich um Probleme zu bearbeiten, die von jedem Staat allein nicht sinnvoll bearbeitet werden können.

Bezogen auf die EG bedeutet das: Solange die Bevölkerungen in den Mitgliedstaaten mit den Brüsseler Entscheidungen zufrieden waren, oder zumindest nicht in einem Maße unzufrieden, daß sie die Integration in Frage stellten, solange konnte die Politik der Gemeinschaft als legitim gelten. Trotzdem bestand das „Demokratiedefizit“. Man muß also zwischen Demokratie- und Legitimationsdefizit unterscheiden, auch wenn sich beide wechselseitig beeinflussen.

Diese Unterscheidung entspricht weitgehend derjenigen zwischen input- und output-Legitimation. Die vor allem aus den demokratischen Verfahren resultierende input-Legitimation war bei der Gemeinschaft immer schwach ausgeprägt. Allerdings nur, wenn man mit nationalen liberaldemokratischen Systemen vergleicht. Dann erfüllt die EG/EU nicht einmal die Mindeststandards demokratischer Entscheidungsfindung, die sie selbst von potentiellen Beitrittskandidaten fordert. Vergleicht man aber mit Internationalen Organisationen traditioneller Prägung, dann können sich die Legitimationsressourcen durchaus sehen lassen. Immerhin verfügt die Gemeinschaft seit 1979 über ein direkt gewähltes Parlament und ihr Rechtssystem ist in der internationalen Politik ohne Beispiel.

Geht man davon aus, daß sich die Legitimität einer politischen Ordnung „zugleich auf Grundnormen, auf konstitutive Verfahren und auf die (empirische) Anerkennung der Bürger“ [3] stützt, so läßt sich das Defizit näher bestimmen. Das Problem bilden vor allem die Verfahren [4] und die Anerkennung durch die Bürger, wobei sich beide Faktoren wechselseitig beeinflussen. Der permissive consensus, die Basis der Europapolitik, ist eine schwache Ausprägung des support für ein politisches System, ein eher desinteressiertes und uninformiertes Zuschauen seitens der Bürger, das den Eliten relativ freie Hand ließ beim Aufbau Europas. Unterfüttert wird diese Form der Legitimität zum einen durch die eher diffuse und ebenfalls nachlassende Zustimmung zur „Idee Europa“, das heißt Motive, die zur Gründung der westeuropäischen Gemeinschaften nach Kriegsende geführt haben und nach wie vor fortwirken, wie Versöhnung oder „Europa als dritte Kraft“, zum anderen durch die Wohlfahrtsgewinne (output-Legitimation). Diese Faktoren waren allerdings nicht stark genug, um die Ausbildung einer „kollektiven Identität“ im EG/EU-Europa zu befördern (mangelnde soziale Legitimation).

Es ergibt sich folgendes Bild: Die Legitimationsressourcen der EG in den ersten Jahrzehnten des Einigungsprozesses waren nicht gerade beeindruckend, insbesondere mangelte es an input- und sozialer Legitimation. Gemeinsame Grundnormen und ein permissive consensus reichten zusammen mit Erfolgen auf der output-Seite aber aus für eine Gemeinschaft als Zweckverband zur Regelung von wirtschaftlichen Interdependenzproblemen. Diese Ressourcen waren darüber hinaus weitgehend konstant, tendenziell ist durch die schrittweise Aufwertung des Europäischen Parlaments seit der ersten Direktwahl 1979 sogar ein Mehr an demokratischer Qualität der Verfahren zu verzeichnen. Erklärungsbedürftig ist demnach nicht in erster Linie das Demokratie- beziehungsweise Legitimationsdefizit der Gemeinschaft, sondern dessen Virulenz seit Maastricht. Der folgende Abschnitt nennt einige zentrale Gründe für die Zuspitzung des Problems zur gegenwärtigen Legitimationskrise.

Ursachen für die Virulenz des Demokratie- beziehungsweise Legitimationsdefizits

Allgemein gehalten lautet die Antwort auf die Frage nach der Legitimationskrise der EU, daß die bisherige legitimatorische Basis – der permissive consensus – durch die Entwicklungen der letzten Jahre überstrapaziert wurde und einem verbreiteten Mißtrauen gegenüber dem „Maastricht-Europa“ gewichen ist.

In dem Maße, wie sich die EG/EU von einer Internationalen Organisation weg zu etwas anderem entwickelte, wurden ihre Legitimationsressourcen an denjenigen nationaler politischer Systeme gemessen und traten die Defizite deutlicher zutage. Die im vorigen Abschnitt skizzierte Form der Legitimation reichte damit nicht mehr aus.

Den Maßstab nationaler liberaldemokratischer Systeme anzulegen, ist insofern nicht ungerechtfertigt, als die Gemeinschaft mit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament 1979 eben diesen Anspruch erhoben hat [5]. Nur hat sich in der Folge gezeigt, daß die Einlösung dieses Anspruchs auf schwerwiegende Hindernisse stieß. Vorhandene Demokratiemodelle erwiesen sich als strukturell ungeeignet zur Übertragung auf die supranationale Ebene, weil sie auf Nationalstaaten zugeschnitten und mit ihnen unentwirrbar verflochten sind [6]. Nachdem damit der allgemeine Rahmen zur Beantwortung der Frage nach den Ursachen für die Zuspitzung des „Demokratieproblems“ zur Legitimationskrise dargestellt wurde, geht es nun um die wichtigsten Gründe für diese Entwicklung im einzelnen.

Die erhebliche Ausweitung der Zuständigkeit der EG/EU seit der Gründung und insbesondere seit Beginn des Binnenmarktprojekts weit über eine Wirtschaftsge­meinschaft hinaus haben den Legitimationsbedarf erheblich erhöht. Seit Maastricht gibt es kaum mehr ein Politikfeld, das nicht in irgendeiner Form auch in Brüssel bearbeitet wird. Die in Maastricht auf den Weg gebrachte Währungsunion bedeutet darüber hinaus einen qualitativen Sprung in der Gemeinschaftsentwicklung, die sich zuvor durch vorsichtigen Inkrementalismus ausgezeichnet hatte. Die Währungshoheit als Kernbestand nationaler Souveränität wird vergemeinschaftet, eine „unkündbare Solidargemeinschaft“ verspricht nicht zuletzt auch Fortschritte auf dem Weg zu einer – wie auch immer gearteten – „Politischen Union“. Insofern kann kaum überraschen, daß mit der Ratifizierungskrise nach Maastricht der normative Aspekt der Integration in den Mittelpunkt rückte. Die Intensivierung der Europadiskussion, insbesondere die „Euro-Debatte“ hat die Bürger wachgerüttelt.

Dabei ist auch die Art und Weise, wie sich ein großer Teil dieser Kompetenzausweitung vollzog, legitimatorisch umstritten und wurde vom Bundesverfassungsgericht in dessen „Maastricht-Urteil“ als (unkontrollierte) „eigendynamische“ Erweiterung der Kompetenzen scharf kritisiert [7]. Nicht nur in diesem Zusammenhang wird häufig von Integration „hinter dem Rücken der Politik“ gesprochen. Gemeint ist die Kooperation der supranationalen Organe (vor allem der Kommission und des Europäischen Gerichtshofes) unter Umgehung der Nationalstaaten als eigentliche „Herren der Verträge“.

Der Trend zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit im Rat seit der Einheitlichen Europäischen Akte ist ebenfalls zu den wichtigen Ursachen für die Virulenz der Legitimationsproblematik zu rechnen [8]. Von Beginn an zählte dieser Aspekt zu den „neuralgischen Punkten“ der Integration. Er bringt die Möglichkeit der Majorisierung von (formal) souveränen Nationalstaaten mit sich, was den Legitimitätsbedarf verglichen mit den in Internationalen Organisationen üblichen einstimmigen Entscheidungen deutlich erhöht. Die ohnehin lange und fragile Repräsentationskette vom Bürger zum Minister im Rat hat nämlich nur Bestand, wenn einstimmig entschieden wird. Die jahrzehntelangen Auseinandersetzungen zu diesem Punkt unterstreichen seine Bedeutung [9]. Außerdem setzt das Mehrheitsprinzip die Bereitschaft der jeweiligen Minderheit voraus, die von der Mehrheit getroffenen Entscheidungen zu akzeptieren. Das wiederum erfordert eine „kollektive Identität“, ein Wir-Gefühl, das es in der EU nach einhelliger Meinung nicht in ausreichendem Maß gibt.

Weiterhin ist in Rechnung zu stellen, daß die fast 50jährige Zusammenarbeit sowie die epochalen Umbrüche der Jahre 1989/90 dazu führten, daß sich einzelne Gründungsmotive abgeschwächt haben. So ist die „Bedrohung aus dem Osten“ – also das Motiv der Westblockbildung – mit dem Ende des Kalten Krieges obsolet geworden. Frieden zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern – ein weiteres Gründungsmotiv – gilt heute als selbstverständlich. Auch das Motiv der Einbindung Deutschlands nimmt trotz Irritationen im Zusammenhang mit der Vereinigung an Bedeutung ab. Diese Motive unterfütterten den Integrationsprozeß, sie entfalten aber immer weniger Rechtfertigungskraft. Damit erhöht sich umgekehrt die Bedeutung des outputs für die Legitimation – eine Entwicklung, die schon seit der Norderweiterung 1973 zu beobachten ist. Besonders Großbritannien neigte dazu, die Integration in weit höherem Maße als die sechs Gründungsmitglieder an ihren (zählbaren) Ergebnissen zu messen. Mit der schrittweisen Erweiterung auf nunmehr fünfzehn Mitgliedstaaten nahm die Heterogenität weiter zu.

Als weiterer Faktor wäre zu nennen, daß die Perspektive der Osterweiterung den Blick in den letzten Jahren auf die Institutionen und Verfahren gelenkt hat, die ursprünglich für eine Gemeinschaft mit sechs Mitgliedern entworfen wurden. Einigkeit darüber, daß tiefgreifende Reformen erforderlich sind, konnte schnell erzielt werden, aber das Wie ist nach wie vor heftig umstritten. Daß die Reformdiskussion nur im Zusammenhang mit Legitimation geführt werden kann, liegt auf der Hand.

Einen ganz zentralen Stellenwert besitzt in diesem Zusammenhang auch die Feststellung, daß die Legitimationskrise der EU eingebettet in eine allgemeine Krise des westeuropäischen Wohlfahrtsstaates betrachtet werden muß. Diese Krise hat mehrere Facetten, die in diesem Rahmen nicht diskutiert werden können. Nur auf zwei interdependente Faktoren sei hingewiesen: zum einen wirken sich die allgemeine „output-Krise“ in vielen Mitgliedstaaten (Arbeitslosigkeit etc.) und die damit zusammenhängende Unzufriedenheit der Bürger auch auf die EU aus, zumal sie häufig als Sündenbock herhalten muß (s.u.), zum anderen ist es auch im nationalstaatlichen Bereich mit der Legitimität nicht zum besten bestellt.

Vor allem zwei Entwicklungen sind hierfür verantwortlich: erstens die funktionale Differenzierung und Fragmentierung innerhalb der liberaldemokratischen Systeme, die zu neuen Formen des Regierens in Netzwerken geführt hat. Hier greifen die traditionellen Kategorien der Legitimationsbeschaffung, wie demokratischer Rechtsstaat oder Parlamentarismus, nur noch bedingt. Die zweite Entwicklung – häufig als „dritte Transformation der Demokratie“ bezeichnet – ist die Internationalisierung. Immer mehr Politikbereiche lassen sich sinnvoll nur noch international bearbeiten. Die Diskussion um die daraus resultierende Erosion des Nationalstaats wird häufig im primär wirtschaftlichen Kontext unter dem Stichwort „Globalisierung“ geführt. Eine globalisierte Wirtschaft läßt sich durch national und territorial verfaßte Staaten nicht mehr kontrollieren [10]. Die Steuerungsfähigkeit der Staaten nimmt in mehrfacher Hinsicht ab. Mit zunehmender Internationalisierung von Handlungszusammenhängen stellt sich die Frage nach Formen und Legitimationsquellen von „Regieren ohne Staat“ bzw. „Regieren jenseits des Nationalstaats“ [11].

Hier kommt die EU in mehrfacher Hinsicht ins Spiel. Zum einen ist sie zugleich Ursache und Folge von Globalisierung. Diese Diskussion um europäische Integration und Globalisierung kann hier nicht vertieft werden [12]. Zum anderen – und das ist der entscheidende Punkt hinsichtlich der Ursachen für die Legitimationskrise der Gemeinschaft – finden sich beide Entwicklungen, funktionale Differenzierung und Internationalisierung, in der EU in besonders ausgeprägter Form. Sie ist das am weitesten entwickelte Anschauungsbeispiel für neue Formen des Regierens jenseits der bekannten Muster. So erklärt sich auch die immense Aufmerksamkeit, die diesem Forschungsgegenstand in den letzten Jahren entgegengebracht wird.

Das Grundproblem des „Regierens in der EU“ besteht darin, daß die herkömmlichen Verfahren, die sich im Rahmen territorial verfaßter Nationalstaaten entwickelt haben, in dieser neuartigen, nicht-hierarchischen und entgrenzten Umwelt nicht mehr greifen. Die Virulenz des Problems „Regieren ohne Staat“ – und damit des Legitimationsproblems – in der EU läßt sich also auch in der Perspektive dieser allgemeinen und bedeutenden Entwicklungen erklären, die eine große und bislang nur in Ansätzen verstandene Herausforderung für die Demokratietheorie darstellen [13].

Schließlich sei noch auf einen EU-typischen Faktor verwiesen, der ebenfalls für die Legitimationsprobleme, insbesondere für das Schwinden des permissive con­sensus, verantwortlich ist. Nationale Regierungen benutzen die Union als Sündenbock zur Durchsetzung umstrittener Vorhaben. Dieses Problem hat die Gemeinschaft von Anfang an begleitet, es hat sich aber nach Maastricht im Zusammenhang mit den – ohnehin notwendigen – Strukturanpassungen intensiviert, die den Wählerinnen als „Opfer für Europa“ verkauft wurden. Klaus Hänsch, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, fand im September 1996 drastische Worte für diesen Sachverhalt, als er ausführte [14], „daß es schon ein Riesenerfolg wäre, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten endlich aufhören würden, die Risiken der Politik auf die Union abzuschieben und Erfolge zu nationalisieren. Wer in der Union nichts weiter sehe als eine Deponie für nationalen Politikmüll, brauche sich nicht zu wundern, daß sie den Menschen stinke“.

Die Vorgänge um die Errichtung der Währungsunion, die wesentlich für das sinkende Ansehen der EU verantwortlich sind, illustrieren dieses Argument in eindringlicher Weise.

Nachdem damit einige wesentlichen Ursachen für die Virulenz der normativen Probleme benannt wurden, soll es im folgenden Abschnitt um die Frage gehen, worin das allseits beklagte Demokratiedefizit der EU besteht.

Kernelemente des Demokratiedefizits der EU

 Die Politikprozesse in Brüssel – darauf wurde bereits hingewiesen – verfehlen in mehrfacher Hinsicht die Mindeststandards, die in den liberaldemokratisch verfaßten Mitgliedstaaten gelten. Als wichtigste Defizite werden genannt, daß das Europäische Parlament trotz dessen schrittweiser Aufwertung kein gleichberechtigter Mitspieler in den Entscheidungsprozessen auf supranationaler Ebene ist. Die Kontrollmöglichkeiten wurden zwar deutlich verbessert, die Gestaltungsmöglichkeiten sind aber nach wie vor äußerst begrenzt. Hinzu kommt, daß das Wahlverfahren uneinheitlich ist und deutliche Schräglagen in der Repräsentation zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten verzeichnet werden müssen. Europawahlen sind außerdem immer noch „nationale Wahlen zweiter Klasse“. Die Legitimitätsbeschaffung über das Parlament als grundlegendes Prinzip ist somit nur mangelhaft gegeben.

Dem steht das Übergewicht der Exekutive in den Entscheidungsprozessen gegenüber, das zu der Kennzeichnung der supranationalen Politikprozesse als unübersichtliche und unkontrollierbare Komitologie geführt hat [15]. Die mangelnde Transparenz des Systems sowie die damit verbundene Diffusion der Verantwortlichkeit bilden zentrale Kritikpunkte. Ein weiteres grundlegendes Merkmal demokratischer Politik, die Partizipation der Regierten wird ebenfalls als unzureichend angesehen. Gleichgültig welche Minimalbedingung für Demokratie man favorisiert, im EU-System findet sie sich lediglich in defizitärer Form. Das gilt für das Abwählbarkeitskriterium (Popper) ebenso wie für das Prinzip der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, nach dem Regierungen ihre rechtmäßige Gewalt von der immer neu zu gebenden Zustimmung der Regierten ableiten [16].

Ein weiterer Aspekt des Demokratiedefizits der EU, der in letzter Zeit vermehrt Beachtung findet, besteht in den Rückwirkungen der europäischen Politik auf die nationale und regionale Ebene, deren Kompetenzen und Verfahren durch die Ver­lagerung von Entscheidungen nach Brüssel, und damit in den Bereich der Exekutive, ausgehöhlt werden. Das gilt insbesondere für die Parlamente auf beiden Ebenen. Abromeit führt hinsichtlich dieses Problems aus [17]: „Die entscheidenden Akteure auf allen Ebenen und in allen Netzwerken sind Regierende und ‚Geschäftsführer‘, die, indem sie in den europäischen Verhandlungssystemen ihr Wort verpfänden, innerstaatliche parlamentarische Debatten witzlos machen“.

Es handelt sich also um ein „doppeltes Demokratiedefizit“, das sowohl die supranationale als auch die nationale und regionale Ebene des Mehrebenensystems betrifft.

Häufig wird in diesem Zusammenhang zurecht darauf hingewiesen, daß nicht vergessen werden darf, daß auch im nationalen Rahmen die als Maßstab zugrundeliegenden „Idealvorstellungen“ von Demokratie nirgendwo verwirklicht sind. Insbesondere das Regieren in Netzwerken mit den damit verbundenen Problemen der Kontrolle und Transparenz findet sich in den Mitgliedstaaten der EU ebenfalls. Das läßt zwar die normativen Probleme des Mehrebenensystems in einem etwas milderen Licht erscheinen, ändert grundsätzlich aber nichts an der Problematik, die sich zusammenfassend folgendermaßen charakterisieren läßt:

Die EU ist keine Internationale Organisation mehr. Besonderheiten wie ein direkt gewähltes Parlament und das Rechtssystem (Vorrang und Direktwirkung des Gemeinschaftsrechts) verbieten diese Kategorisierung ebenso wie die weitreichenden und breiten Regelungsbefugnisse bis hin zur Alleinzuständigkeit in einzelnen Politikfeldern. Die EU steckt sich den rechtlichen Rahmen selbst und verfügt über eigene Ressourcen.

Sie ist aber auch kein politisches System, wie man es aus dem nationalen Rahmen kennt. Sie hat – um nur einige Aspekte zu nennen – kein staatliches Gewaltmonopol, keine ausreichende eigenständige Legitimität und umfaßt Bereiche wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die sich durch traditionelle zwischenstaatliche Zusammenarbeit auszeichnen. Insofern kann sie den herkömmlichen Demokratiemaßstäben nicht genügen. Andererseits kann aber auf „Demokratie“ auch nicht verzichtet werden.

Nachdem die Defizite in diesem Abschnitt in ihren Grundzügen skizziert wurden, wird anschließend zu fragen sein, was einer Behebung dieser Mängel im Weg steht.

Hindernisse für die Demokratisierung des EU-Systems

Die EU steht wie jedes politische System vor dem grundlegenden Dilemma demokratischer Politik zwischen governance und government, zwischen effektivem/effizientem und legitimem Regieren, also demokratischer Kontrolle und Partizipation. Dieses Dilemmaverhältnis wird zusätzlich dadurch verkompliziert, daß Effektivität und Effizienz in aller Regel zur befriedigenden Problemlösung erforderlich sind und damit eine wesentliche Determinante für die output-Legitimation darstellen. Insofern führt die Diskussion der normativen Aspekte der europäischen Integration – und das macht ihren Reiz aus – zu den Grundfragen der Politikwissenschaft nach legitimer Herrschaft zurück. Diese Grundfragen stellen sich angesichts der oben erwähnten „dritten Transformation der Demokratie“ in neuer Schärfe. Da die Internationalisierung im Rahmen der EU besonders weit fortgeschritten ist, spielt die Europaforschung gerade in theoretisch-konzeptioneller Hinsicht eine Vorreiterrolle [18].

Bei der Suche nach Hindernissen, die der EU bei den Versuchen zur Behebung ihrer Defizite im Weg stehen, stößt man auf strukturelle Merkmale des „dynamischen Mehrebenensystems“ [19] der EU, einem System „sui generis“, das mit traditionellen Kategorien nach dem Muster des Nationalstaats nicht angemessen erfaßt werden kann. Es handelt sich dabei um das gleiche Problem, vor das sich die analytische Erfassung der EU gestellt sieht. Es gibt kein angemessenes Modell für Demokratie in der EU. Das Demokratiedefizit der EU ist demnach auch ein „EU-Defizit der Demokratietheorie“ [20]. Das grundlegend Neue des Systems besteht darin, daß die wesentlichen Konstituenten Nationalstaaten sind – eine banale Feststellung, die aber in ihren Konsequenzen nicht überschätzt werden kann.

Exkurs: Das Grundproblem der konzeptionellen Erfassung des EU-Systems

Die zahlreich auftretenden Dilemmata, die sich bei einer Beschäftigung mit Demokratie und Legitimation im Gemeinschaftssystem einstellen, lenken den Blick auf das Grundproblem der EU-Analyse, die konzeptionelle Erfassung des eigentümlichen Systems. Vor dieses Problem sieht sich die Europaforschung seit Jahrzehnten gestellt. Es fehlt nicht an Etikettierungen, zu den bekanntesten zählt der Buchtitel von Hallstein, der die Gemeinschaft als „unvollendeten Bundesstaat“ bezeichnet. Das verweist auf den Bezugsrahmen für die Einordnung der europäischen Integration. Lange Zeit wurde versucht, den Integrationsstand auf dem Kontinuum zwischen Staatenbund und Bundesstaat zu verorten. Das Bundesverfassungsgericht spricht im „Maastricht-Urteil“ vom „Staatenverbund“. Ein anderer ehemaliger Kommissionspräsident, Jacques Delors, hat das Problem folgendermaßen formuliert: „L´Europe est un objet politique non identifié“. Häufig findet sich auch die zweifach negative Kennzeichnung der EU als „mehr als ein Regime, weniger als ein Staat“.

Ohne auf Einzelheiten der Entwicklung der Integrationstheorie eingehen zu wollen, läßt sich bilanzierend sagen, daß die Europaforschung mittlerweile versucht, die Zielperspektive des Integrationsprozesses auszublenden, damit der Blick auf den eigentümlichen Gegenstand nicht durch traditionelle Kategorien verengt wird. Man will das Phänomen EU in seiner Einzigartigkeit des gleichzeitigen Weder-noch und Sowohl-als-auch erfassen. Das steckt hinter dem integrationstheoretischen Neuansatz mit der neutralen Formulierung „Regieren in der EU“ [21].

Es ist unstrittig, daß in der EU regiert wird, also autoritative Wertzuweisungen vorgenommen werden. Das Problem besteht darin, daß dieses Regieren ohne Regierung im herkömmlichen Sinn stattfindet. Damit laufen sowohl die traditionellen Kategorien aus den Nationalstaaten als auch diejenigen der Internationalen Politik ins Leere. Um nur ein Beispiel zu nennen: Wie kann die Politik angemessen erfaßt werden, die ein deutscher Minister in Brüssel macht – handelt es sich um Innen- oder Außenpolitik?

Die Gemeinschaft befindet sich im zunehmend verschwimmenden Grenzbereich zwischen Innen- und Außenpolitik, nationaler und internationaler Politik. Sie stellt weder ein politisches System dar, wie wir es aus den Nationalstaaten kennen, noch eine Internationale Organisation, trägt aber Züge von beidem. Soweit dazu, was die EU nicht ist. Fragt man aber danach, wie der Forschungsgegenstand positiv bestimmt werden kann, herrscht nach wie vor Ratlosigkeit. Die konzeptionelle Erfassung ist über die schon ältere Bezeichnung des EU-Systems als „Gebilde sui generis“ nicht hinausgelangt.

Das heißt aber nicht, daß sich in der Europaforschung nichts tun würde. Es ist im Gegenteil sogar seit Anfang der 90er Jahre gehörig Bewegung in den Forschungszweig gekommen. Die politikwissenschaftliche Teildisziplin Vergleichende Systemforschung hat sich dem Gegenstand angenommen, der zuvor nahezu ausschließliche Domäne der Teildisziplin Internationale Beziehungen gewesen war. Auch das macht deutlich, daß sich die EU an der Schnittstelle zwischen beiden Bereichen befindet. Die integrationstheoretische Debatte ist aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Anknüpfend an die traditionellen Ansätze hat sie an Komplexität (und damit an Angemessenheit) sowie an Dynamik gewonnen. Gespeist wurde diese Dynamik nicht zuletzt dadurch, daß im Zusammenhang mit der EU modellhaft die aktuell im Brennpunkt stehenden Fragen der Disziplin diskutiert werden können. Legitimations- und Globalisierungsdebatte (Denationalisierung, Entgrenzung) haben Europa in den Mittelpunkt gerückt. Davon zeugt nicht zuletzt auch die Einrichtung des DFG-Schwerpunktprogramms „Regieren in der EU“.

Nach diesen kurzen Bemerkungen zum Grundproblem der Europaforschung, dem Problem der angemessenen konzeptionellen Erfassung des Forschungsgegenstands, wird die Darstellung der wichtigsten Hindernisse für eine Demokratisierung des EU-Systems fortgesetzt. Mehrfach wurde bereits darauf hingewiesen, daß die passenden Begriffe fehlen. Warum greifen die traditionellen Muster liberaldemokratischer Systeme nicht? Eine Antwort lautet, daß der EU wichtige Voraussetzungen fehlen: Es gibt kein europäisches Staatsvolk, keine den nationalen Parteien vergleichbaren europäischen Parteien, keine europäischen Medien beziehungsweise eine europäische Öffentlichkeit, keine europäische Identität. Mit anderen Worten: die Voraussetzungen für Parlamentarismus fehlen. Das führt zu einem weiteren Dilemma der europäischen Politik. Eine parlamentarisierte EU wäre möglicherweise in der Lage, eine kollektive Identität zu schaffen. Diese Parlamentarisierung wäre aber auf eben die Voraussetzungen angewiesen, die sie selbst erst schaffen müßte.

Einen wichtigen Aspekt in diesem Kontext der fehlenden Infrastruktur für Parlamentarismus bildet das Sprachenproblem, das erstaunlicherweise erst in letzter Zeit vermehrt Aufmerksamkeit erfährt. Greven, der die Demokratisierungschancen der EU niedrig einstuft, führt dazu aus [22]: „Die Vernachlässigung der Sprachprobleme als einem entscheidenden Hindernis für die weitere politische Integration und Demokratisierung in der Debatte über das Demokratiedefizit der Europäischen Union verrät indirekt deren elitären bias.“

Da Politik im wesentlichen aus kommunikativen Prozessen besteht, liegt die Bedeutung der Sprachbarrieren auf der Hand. Sie sind nicht nur eine Hauptursache für das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit sondern auch ein wesentliches Hindernis bei dem Versuch, eine solche zu befördern.

Weiterhin stellt die nicht-hierarchische Ordnung, das Regieren ohne Staat, ein ebenso schwerwiegendes Problem dar wie die Tatsache, daß das EU-System im Gegensatz zu den relativ stabilen nationalen Systemen stetigem Wandel unterworfen ist. Dazu kommt eine Schwierigkeit, die Jachtenfuchs ungleichmäßige Europäisierung nennt [23]. Damit ist gemeint, daß sich Handlungszusammenhänge schneller europäisieren als die darin handelnden Akteure. Zürn hat den generelleren Begriff der ungleichzeitigen Denationalisierung geprägt [24], der unter anderem auf das im hier besprochenen Kontext wichtige Problem aufmerksam macht, daß die demokratischen Verfahren der raschen Internationalisierung der Problembearbeitung hinterherhinken. Im EU-System ist zusätzlich zu berücksichtigen, daß sich supranationale – also ganz oder weitgehend vergemeinschaftete Politikfelder – und intergouvernementale Bereiche gegenüberstehen, die EG-Säule auf der einen, die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und die Zusammenarbeit auf den Feldern Justiz und Inneres auf der anderen Seite. Die Vielfalt und Unübersichtlichkeit der Entscheidungsverfahren zeugt eindrucksvoll davon. Daß unter diesen Bedingungen die Versuche zur Beseitigung der Legitimitätsdefizite von besonderer Schwierigkeit sind, versteht sich von selbst. Der unterschiedliche Grad der Europäisierung von Politikfeldern stellt also ein weiteres Hindernis dar.

Hinzu kommen Faktoren, die darüber hinaus noch zusätzlich für Heterogenität im Gemeinschaftssystem sorgen und die sich mit Begriffen wie abgestufte Integration oder variable Geometrie verbinden [25]. Dieser Aspekt birgt mannigfaltige legitimatorische Probleme. Wie wirken zum Beispiel Regierungen von Mitgliedstaaten an Entscheidungen im Rat mit, die an dem zur Debatte stehenden Integrationsschritt (noch) nicht teilnehmen? Daran schließen sich eine ganze Reihe ähnlich brisanter Fragen an. Da dieser Integrationsweg bei der Verwirklichung der Währungsunion beschritten wurde und in Zukunft – angesichts einer noch größeren und heterogeneren Gemeinschaft – vermutlich als Modell herangezogen werden wird, muß sich die Europaforschung den Folgeproblemen stellen.

Nachdem damit einige bedeutende Schwierigkeiten auf dem Weg zur Demokratisierung der Union aufgezeigt wurden, sollte die Tragweite und Komplexität der normativen Problematik des Integrationsprozesses deutlich geworden sein. Abschließend geht es um die Perspektiven: welche Lösungsvorschläge zeichnen sich in der Debatte ab?

Perspektiven [26]

Um eines gleich vorwegzunehmen: eine allumfassende Lösung der Legitimationsprobleme ist nicht in Sicht und angesichts der Schwierigkeiten vielleicht auch nicht möglich. Trotzdem trägt die aktuelle intensive Debatte Früchte, beispielsweise indem sie den Blick für die Besonderheiten der EU schärft, was zumindest dazu geführt hat, daß es zum Gemeingut geworden ist, daß die schlichte Übertragung von herkömmlichen Modellen und Leitbildern nicht weiter führt. Die Dichotomie Bundesstaat – Staatenbund als Zielperspektive ist der Einsicht gewichen, daß von dem eigentümlichen Schwebezustand zwischen Weder-noch und Sowohl-als-auch als Dauerzustand ausgegangen werden muß, um Erkenntnisse über das dynamische Mehrebenensystem zu gewinnen. Damit ist auch klar, daß die traditionellen Forderungen – die verbreitetste ist die Forderung nach einer Stärkung des EP – zu kurz greifen.

Die Entwicklung hin zu einem Zweikammersystem (z.B. nach deutschem Vorbild) entbehrt – wie oben dargestellt – wichtiger Voraussetzungen. Eine Aufwertung des Parlaments – und damit eine Zentralisierung – wird häufig sogar hinsichtlich des Zieles der Demokratisierung als kontraproduktiv angesehen [27]. Einzelne Verbesserungen wie die Öffentlichkeit von Ratssitzungen wären sicherlich hilfreich, können aber die Grundprobleme des „Regierens ohne Staat“ nicht lösen. Die zahlreicher werdenden Forderungen nach direkt-demokratischen Beteiligungsformen [28] werfen unter anderem Effizienzprobleme auf. Auch die verstärkte Beteiligung der Regionen an den Entscheidungen – eine weitere Variante – scheitert an der Heterogenität der Mitgliedstaaten, die häufig schlicht über keine etwa den deutschen Ländern vergleichbaren dezentralen Einheiten verfügen. Eine Re-Nationalisierung zur Entschärfung der Legitimitätsprobleme – ebenfalls eine häufig vorgebrachte Forderung [29] – scheint angesichts der Tendenz zur Internationalisierung ebenfalls kein gangbarer Weg zu sein. Die konsequentere Anwendung des Subsidiaritätsprinzips – ein verwandter Vorschlag – stößt auf das Problem der mangelnden Operationalisierbarkeit dieses Prinzips [30]. Weiterhin wird als Lösung vorgeschlagen, Demokratisierung durch Verhandlungssysteme und Expertennetze, damit durch diskursive Willensbildung und Konsensfindung zu erreichen. Diese Variante findet sich unter den Etiketten „postparlamentarische“ oder „assoziative Demokratie“ [31]. Dabei erscheint allerdings problematisch, daß die Intransparenz der Entscheidungen und damit die Diffusion der Verantwortlichkeit als eine Ursache des Demokratiedefizits sogar noch zunehmen würde.

Eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Lösungsvorschlägen ist eine angemessene, und das heißt im fragmentierten und komplexen EU-System eine differenzierte Analyse des Problems. Die Hoffnungen auf eine für alle Bereiche der EU-Politik gleichermaßen geeignete Lösung scheint angesichts der dargestellten Hindernisse und hinsichtlich der Besonderheiten der Union illusionär. Man wird nicht umhin können, genau zu fragen, welche Entscheidungen in welchem Maße legitimiert beziehungsweise legitimierungsbedürftig sind, wo Verbesserungen dringend erforderlich sind, wie solche Verbesserungen im jeweiligen Bereich aussehen könnten etc. Mit anderen Worten: Man wird nicht umhin können, politikfeldspezifisch vorzugehen [32]. Es gibt nicht die Legitimität des EU-Systems, damit auch nicht die holistische Lösung wie beispielsweise die Errichtung eines Zwei- oder Mehrkammersystems. Für die EU als System sui generis müssen Legitimitätsressourcen „sui generis“ entwickelt werden [33].

Endnoten

[1] So lautet der Titel eines wichtigen Diskussionsbeitrags: Club von Florenz (Hrsg.), Europa. Der unmögliche Status quo, Baden-Baden 1996.

[2] Arthur Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, in: Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Regieren in entgrenzten Räumen, PVS-Sonderheft 29/1998, S. 345.

[3] Hella Mandt, „Legitimität“, in: Dieter Nohlen (Hrsg.), Pipers Wörterbuch zur Politik, Bd.1 Politikwissenschaft (herausgegeben von Dieter Nohlen und Rainer-Olaf Schultze), München 19893, S. 503.

[4] Mangelnde input-Legitimation, vergleiche dazu den Abschnitt „Demokratiedefizit“.

[5] Vgl. Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, S. 345.

[6] Dieser Aspekt wird weiter unten im Abschnitt „Hindernisse für die Demokratisierung des EU-Systems“ vertieft.

[7] Im einzelnen vergleiche dazu Bundesverfassungsgericht, Urteil zum Maastricht-Vertrag, in: Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 85, Tübingen 1994, S. 155-213 und Ulrich Everling, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und seine Bedeutung für die Entwicklung der Europäischen Union, in: Integration 17. Jahrgang, Nr. 3/1994, S. 165-175.

[8] Dieser Aspekt steht im Mittelpunkt des einflußreichen Beitrags von Peter Graf Kielmansegg, Integration und Demokratie, in: Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, 47-71.

[9] Der erste in den Gründungsverträgen vorgesehene Versuch des Übergangs zu Mehrheitsentscheidungen im Rat Mitte der sechziger Jahre mündete in eine der schwerwiegendsten Krisen des Integrationsprozesses, die 1966 nach der „Politik des leeren Stuhls“ seitens Frankreichs durch den sogenannten „Luxemburger Kompromiß“ derart beigelegt wurde, daß de facto am Prinzip der Einstimmigkeit festgehalten wurde.

[10] Zur Diskussion des Mißverhältnisses zwischen Politik und Wirtschaft und seinen Konsequenzen vgl. u.a. Roger Tooze, International Political Economy in an Age of Globalization, in: John Baylis/Steve Smith (eds.), The Globalization of World Politics, Oxford 1997, S. 212-230.

[11] So lautet der Titel einer einflußreichen Monographie zum Thema: Michael Zürn, Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und Denationalisierung als Chance, Frankfurt/Main 1998.

[12] Einen hervorragenden Zugang zu dieser Diskussion ermöglicht das bereits weiter oben angeführte PVS-Sonderheft 29/1998 (Kohler-Koch, Regieren in entgrenzten Räumen). Der darin enthaltene Kommentar von Markus Jachtenfuchs („Entgrenzung und politische Steuerung“, S. 235-245) faßt die Diskussion kompetent zusammen. Neben der dort aufgeführten Literatur sei noch auf einen weiteren wichtigen Titel verwiesen: Werner Fricke (Hrsg.), Jahrbuch Arbeit + Technik 1997. Globalisierung und institutionelle Reform, Bonn 1997. Der dortige Teil 5 ist mit den Aufsätzen von Wolfgang Streeck, Wilhelm Hankel, David Soskice und Edgar Grande folgendem Thema gewidmet: „Die Perspektiven der Europäischen Union im Zeitalter der Globalisierung“.

[13] Die Bedeutung dieses Faktors wird auch daran ersichtlich, daß die DFG ein Schwerpunktprogramm „Regieren in der Europäischen Union“ aufgelegt hat, das sich genau dieser Herausforderung zu stellen versucht. Mehrere Arbeiten im Rahmen des Programms beschäftigen sich explizit mit Fragen der Legitimität des Regierens im europäischen Mehrebenensystem.

[14] Zitiert nach H. Hausmann, „Keine Deponie für nationalen Politikmüll“, in: Das Parlament 39/1996. Ein aktuelles Beispiel für eine Interpretation dieses Sündenbock-Pro­blems (Regierungen setzen dieses Mittel systematisch ein zum Ausgleich von Verlusten innerer Autonomie) ist der Aufsatz von Klaus Dieter Wolf, Entdemokratisierung durch Selbstbindung in der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Projekt Europa im Übergang?, Baden-Baden 1997, S. 271-294.

[15] So werden beispielsweise nach Schätzungen von Wessels etwa achtzig Prozent der Entscheidungen des Rates von dessen bürokratischem Unterbau, bestehend aus knapp 200 Ausschüssen und Arbeitsgruppen, gefällt (Wolfgang Wessels, The EC Council: The Community’s Decisionmaking Center, in: Robert O. Keohane/Stanley Hoffmann (Hrsg.), The New European Community. Decisionmaking and Institutional Change, Boulder u.a. 1991, S. 140).

[16] Kielmansegg, Integration und Demokratie, S. 53.

[17] Heidrun Abromeit, Überlegungen zur Demokratisierung der Europäischen Union, in: Wolf, Projekt Europa im Übergang?, S. 116.

[18] Diesen Aspekt macht Wolf in der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Sammelband deutlich (Klaus Dieter Wolf, Einleitung: Die Integrationsforschung integrieren, in: Wolf, Projekt Europa im Übergang?, S. 7-13).

[19] Das ist der Kernbegriff eines neueren Versuchs zur Konzeptualisierung des eigentümlichen EU-Systems. Damit soll verhindert werden, daß bereits die begriffliche Ebene durch die Orientierung an der Dichotomie Bundesstaat – Staatenbund den Blick auf die Besonderheiten des Systems „sui generis“ (so die ältere Verlegenheitsbezeichnung) verstellt. Vergleiche dazu Markus Jachtenfuchs/Beate Kohler-Koch, Re­gieren im dynamischen Mehrebenensystem, in: dies. (Hrsg.), Europäische Integration, Opladen 1996, S. 15-44 sowie Markus Jachtenfuchs, Die Europäische Union – ein Gebilde sui generis?, in: Wolf, Projekt Europa im Übergang?, S. 15-35.

[20] Rainer Schmalz-Bruns macht diesen Gedanken zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen, wenn er ausführt, daß es nicht auszuschließen sei, „daß es sich bei diesem auf den ersten Blick gewiß entmutigenden Befund eines europäischen Demokratiedefizits lediglich um den spiegelbildlichen Reflex eines EU-Defizits der Demokratietheorie handeln könnte“. Vgl. Rainer Schmalz-Bruns, Bürgerschaftliche Politik – ein Modell zur Demokratisierung der Europäischen Union?, in: Wolf, Projekt Europa im Übergang?, S. 67. Mit Recht wird allerdings in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß man Vorsicht walten lassen und darauf achten müsse, daß man die Demokratie(theorie) nicht unbegrenzt der schlechten Realität anpaßt. In diesem Sinne z.B. Michael Th. Greven, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum: Problemdimensionen der Demokratisierung der Europäischen Union, in: Kohler-Koch, Regieren in entgrenzten Räumen, S. 249-270.

[21] Problematisch an diesem Versuch eines Neuansatzes ist zweierlei. Zum einen zeigt die gegenwärtige Reformdebatte (Agenda 2000), daß es ohne eine – wie auch immer geartete – Zielvorstellung nicht geht. Wie soll man Reformschritte entwerfen oder beurteilen, wenn nicht einmal die Richtung klar ist, in die sich das Gebilde EU bewegen soll? Zum anderen begibt man sich mit dem Verzicht auf die traditionellen Kategorien der Möglichkeiten des Erkenntnisgewinns durch Vergleich. Noch immer lassen sich – um nur ein Beispiel zu nennen – supranationale und intergouvernementale Teilbereiche unterscheiden und sind m.E. für eine angemessene Konzeptualisierung unabdingbar. Die Tatsache, daß die Gemeinschaft weder Staat noch Internationale Organisation ist, heißt nicht, daß sie nicht gewinnbringend mit beiden verglichen werden kann. Außerdem gewinnt man den Eindruck, daß die zwischenstaatliche Seite der EU in der gegenwärtigen Diskussion unterbelichtet ist, nachdem sie lange Zeit im Vordergrund stand. Damit würde die Debatte vom Regen in die Traufe kommen und einmal mehr die alte Forderung nicht beherzigen, den „ganzen Elefanten“ zu erfassen (Donald J. Puchala, Of Blind Men, Elephants and International Intergration, in: Journal of Common Market Studies, Vol. 10, No. 4, 1972, S. 267-284).

[22] Greven, Mitgliedschaft, Grenzen und politischer Raum, S. 266.

[23] Jachtenfuchs, Die Europäische Union, S. 19.

[24] Michael Zürn, Jenseits der Staatlichkeit. Über die Folgen der ungleichzeitigen Denationalisierung, in: Leviathan 20. Jahrgang, Nr. 4/1992, S. 490-513. Vergleiche dazu auch: Michael Zürn, Über den Staat und die Demokratie im europäischen Mehrebenensystem, in: Politische Vierteljahresschrift 37. Jahrgang, Nr. 1/1996, S. 27-55.

[25] Nach wie vor grundlegend dazu: Eberhard Grabitz (Hrsg.), Abgestufte Integration: Eine Alternative zum herkömmlichen Integrationskonzept?, Kehl/Straßburg 1984.

[26] Einen hervorragenden Überblick über die akademische Debatte sowie einen Systematisierungsversuch bietet folgender Aufsatz: Frank Schimmelfennig, Legitimate Rule in the European Union. The Academic Debate, Tübinger Arbeitspapiere zur Internationalen Politik und Friedensforschung Nr. 27, Tübingen 1996. Für eine kurze Zusammenfassung der Diskussion vgl. Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept, S. 347-350.

[27] So beispielsweise in Abromeit, Überlegungen zur Demokratisierung der Europäischen Union.

[28] Vergleiche dazu etwa ebd. oder Zürn, Über den Staat und die Demokratie.

[29] Ein prominentes Beispiel für diesen Strang der Debatte, in dem eine Lösung der Legitimationsprobleme darin gesehen wird, daß der Legitimationsbedarf möglichst niedrig gehalten wird, bilden die Veröffentlichungen von Scharpf, vgl. etwa Fritz W. Scharpf, Autonomieschonend und gemeinschaftsverträglich: Zur Logik der europäischen Mehrebenenpolitik, in: ders., Optionen des Föderalismus in Deutschland und Europa, Frankfurt/Main/New York 1994, S. 131-155.

[30] Einen guten Überblick über die Diskussion zum Subsidiaritätsprinzip vermittelt folgender Aufsatz: Rudolf Hrbek, Wie sollen sich Arbeitsteilung, Subsidiarität und regionale Beteiligung nach Amsterdam entwickeln?, in: Bertelsmann Stiftung/Forschungsgruppe Europa (Hrsg.), Systemwandel in Europa – Demokratie, Subsidiarität, Differenzierung, Gütersloh 1998, S. 27-39.

[31] Vgl. unter anderem Schmalz-Bruns, Bürgergesellschaftliche Politik, oder Christian Joerges/Jürgen Neyer, Transforming strategic interaction into deliberative problemsolving: European comitology in the foodstuffs sector, in: Journal of European Public Policy 4/1997, S. 609-625.

[32] Im Bereich der konzeptionellen Erfassung des EU-Systems findet sich eine solche Vorgehensweise über Politikfelder bei Wolfgang Schumann, Neue Wege in der Integrationstheorie. Ein policy-analytisches Modell zur Interpretation des politischen Systems der EU, Opladen 1996.

[33] In diese Richtung weisen etwa die folgenden Beiträge: Thomas Gehring, Die Europäische Union: Legitimitätsstrukturen eines Regimes mit föderativen Bestandteilen, in: Wolf, Projekt Europa im Übergang?, S. 125-153, sowie Benz, Ansatzpunkte für ein europafähiges Demokratiekonzept.

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