Sonntag, 19. Juli 2020

Machtkampf zwischen Bundesverfassungsgericht und EuGH

Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVG), das Rahmenprogramm PSPP der Europäischen Zentralbank (EZB) würde teilweise gegen das deutsche Grundgesetz verstoßen, ist ein Novum eingetreten. Zum ersten Mal wendet sich das höchste deutsche Gericht gegen Bestimmungen des Gerichtshofs der EU (EuGH), der das Rahmenprogramm PSPP für rechtens erklärt hat.

Gammelin bewertet die Verkündung des Urteilsspruchs als umsichtig, indem schon bei der Urteilsverkündung versucht wurde, der Entscheidung „die Schärfe zu nehmen“. Dem entgegen empfindet Kaiser die Begründung des BVG seltsam und undurchsichtig.

Während der EuGH beim Anleihenkauf der EZB keine Bedenken äußerte, sieht das BVG das ganze kritisch, da in ihren Augen die Verhältnismäßigkeit nicht überprüft wurde. Laut den EU-Statuten wurden der EU von ihren Mitgliedsländern nur Kompetenzen im Währungs- nicht aber im Wirtschaftsbereich übertragen. Diesen Rahmen würde die EZB überschreiten, was von dem EuGH allerdings nicht angemerkt wurde.

Die eigentliche Problematik ist aber viel größer und allgemeiner. Die vom BVG angemerkte Kompetenzüberschreitung der EU würde einen ausbrechenden Rechtsakt (ultra vires) darstellen, da die EU nur in den Bereichen die Entscheidungshoheit besitzt, in denen sie die Kompetenzen von den Mitgliedsländern übertragen bekommen hat. Die Anmerkung des ultra vires ist aber laut Gutschker so nicht im europäischen Recht vorgesehen.

Dabei würde der EuGH EU-Kompetenzen großzügig auslegen und hätte somit laut Bednarz die Möglichkeit, sich neue Kompetenzbereiche einzuverleiben. Es wäre die Aufgabe des BVG, das zu verhindern. Trotzdem oder gerade deshalb wäre durch die Entscheidung des BVG laut Bednarz die Legitimation der EU durch die Mitgliedsstaaten gestärkt.

Dem gegenüber sieht die EU laut Hofer hierdurch teilweise ihr Justizsystem gefährdet, da laut den europäischen Statuten allein der EuGH das Recht hat festzustellen, ob ein EU-Organ gegen das EU-Recht verstößt. Dabei äußert Brüssel die Befürchtung, Deutschland würde die Einheit der Europäischen Union aufs Spiel setzen, da die Entscheidungen des EuGH für die Mitglieder laut den aktuellen Statuten bindend seien.

Auf der einen Seite erwartet Gammelin als direkte Folge eine Einschränkung der Anleihenkäufe, da diese laut dem BVG-Urteil in Zukunft besser begründet werden müssen. Besonders die Einschränkung, dass höchstens ein Drittel der Anleihen von einem Staat sein dürfen, wird sich in Zukunft sicherlich bemerkbar machen.

Kaiser erwartet durch das Partei-Ergreifen des BVG auch politische Folgen, da eine stärkere Kontrolle und ein Angriff auf die Notenbanken gleichzeitig ein Widerspruch zu der eigentlichen Unabhängigkeit der EZB darstellt.

Auf der anderen Seite sind die weitreichenden politischen Folgen noch nicht genau absehbar. Während Bednarz sich eine gesteigerte Transparenz innerhalb der EU erhofft und der Meinung ist, dass „je klarer die Kompetenzen innerhalb der EU verteilt sind, desto stärker würde die EU werden“, befürchten Finke, Gammelin, Janisch und Kolb eine Kettenreaktion. Da Deutschland eine Vorreiterrolle in Europa innehat, verbreitet sich die Sorge, wie das Machtspiel zwischen nationalen Gerichten und dem EuGH in Zukunft aussehen wird. Besonders Länder wie Ungarn oder Polen könnten Aufforderungen des EuGH zur Rücknahme von umstrittenen Gesetzen in Zukunft ignorieren. In solch einem Fall wären die Folgen für die EU kaum abzuschätzen.

Literatur
  • Cerstin Gammelin: Urteil zu EZB-Anleihekäufen: Schlechte Nachricht für Europa (Süddeutsche Zeitung, 05.05.2020)
  • Stefan Kaiser: Urteil zu EZB-Anleihekäufen: Die seltsame Machtdemonstration der Verfassungsrichter (Spiegel, 05.05.2020)
  • Liane Bednarz: Warum das EZB-Urteil die EU stärkt, nicht schwächt (Spiegel, 12.05.2020)
  • Björn Finke / Cerstin Gammelin / Wolfgang Janisch / Matthias Kolb: Konflikt um EU-Anleihen: Heikel, aber vielleicht heilbar (Süddeutsche Zeitung, 11.05.2020)
  • Sophia Hofer: EuGH sieht europäisches Justizsystem durch EZB-Urteil gefährdet (Zeit, 08.05.2020)
  • Thomas Gutschker: Kampf um das letzte Wort (Das Parlament, 18.05.2020

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