Donnerstag, 16. Juli 2020

Demokratie(defizit) & Reformen (IV): Jan-Werner Müller

Die Kopenhagener Kommission, ein Vorschlag von Jan-Werner Müller

Die sogenannte Kopenhagener Kommission soll in Anlehnung an die Venedig-Kommission entstehen und über die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien wachen. Die Venedig-Kommission besteht aus „unabhängigen Sachverständigen“,,die durch ihr Wirken in den demokratischen Institutionen oder durch ihren Beitrag zum Fortschritt der Rechts- und Politikwissenschaft internationales Ansehen erworben haben".1

Das ist auch die Grundlage, auf der die Kopenhagener Kommission entstehen soll. Die Mitglieder sollen ein Gespür für Kontexte und Verhältnismäßigkeiten haben und zudem nicht gewählt werden können, da es sonst um „Parteipolitik und Kulturkämpfe“ gehen wird. Als Grundlage für ihr Handeln sollen die Kopenhagener Kriterien von 1993 gelten. Diese Kriterien sind in drei Bereiche aufgeteilt:
  • Das „politische Kriterium“, welches für institutionelle Stabilität, demokratische Ordnung, die Einhaltung der Menschenrechte und den Schutz von Minderheiten steht.
  • Das „wirtschaftliche Kriterium“ besagt, dass die Bedingungen für einen Beitritt eine funktionsfähige Marktwirtschaft ist, welche dem Wettbewerbsdruck der EU standhalten kann.
  • Das letzte Kriterium ist das „Acquis-Kriterium“, welches die Verpflichtungen und Ziele, welche vom gemeinsamen Rechtssystem ausgehen, als Vorgabe gibt.2


Die Europäische Union soll daher um eine Kommission erweitert werden. Die Mitglieder dieser Kommission sollen die Fachkompetenzen, die politische Urteilskraft und die Autorität besitzen, um Untersuchungen anzustellen und Sanktionen auszulösen. Dies entspricht quasi der Funktion von Artikel 7. Dieser Artikel wurde durch den Vertrag von Amsterdam im Jahr 1997 eingeführt. Anhand diesen Artikels können zwei verschiedene Verfahren ausgelöst werden.

Das erste Verfahren ist der Präventionsmechanismus (Artikel 7 (1)), welcher zum Tragen kommt, wenn eine eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Werte der EU besteht. Das Verfahren kann hierbei von mindestens einem Drittel der Mitgliedsstaaten im Rat oder durch die Europäische Kommission oder das Europäische Parlament ausgelöst werden. Anschließend muss das Europäische Parlament mit einer absoluten Mehrheit für das Verfahren stimmen. Dann wird der betroffene Staat vom Rat angehört, welcher danach mit einer Mehrheit von vier Fünftel der Mitgliedsstaaten für die Präventionsmaßnahmen stimmen muss. Der betroffene Mitgliedsstaat darf an diesem Verfahren nicht teilnehmen.

Der Sanktionsmechanismus (Artikel 7 (2)) kommt zum Einsatz, wenn schwerwiegende und anhaltende Verletzungen der Werte der EU vorliegen. In der ersten Phase muss der Europäische Rat den Sanktionsmechanismus auslösen. Alternativ ist dies auch durch die Europäische Kommission möglich. Der gemachte Vorschlag zur Sanktionierung muss mit einer 2/3 Mehrheit der abgegebenen Stimmen vom Parlament bestätigt werden. Nachdem der betroffene Mitgliedsstaat Stellung bezieht, muss der Europäische Rat nun einstimmig entscheiden. Der Artikel 7 (3) regelt nun die Möglichkeit, gewisse Mitgliedsrechte auszusetzen. Hierbei kann beispielsweise das Stimmrecht des betroffenen Staates entzogen werden. Nachdem die erste Phase nach Artikel 7 (2) abgeschlossen ist, kann in der zweiten Phase nach Artikel 7 (3) der Rat mit einer qualifizierten Mehrheit von 72% der Mitgliedsstaaten und 65% der gesamten EU-Bevölkerung die Rechte des betroffenen Staates einschränken. Die Verfahren als Graphik

An diesen Verfahren kritisiert Jan-Werner Müller, dass dem sanktionierten Staat nun zwar das Stimmrecht entzogen wurde, er jedoch noch immer Teil der Union ist. Er fordert daher eine Erweiterung des Artikels 7. Der Artikel 7 „müsste […] um die Möglichkeit erweitert werden, ein Mitgliedsland ganz aus der Union auszuschließen.“ (S. 145) Auch diese Kompetenz soll der Kopenhagener Kommission zugeteilt werden. Ebenfalls sollen die Mitglieder routinemäßig über den Zustand des Rechtsstaates und der Demokratie in den einzelnen Staaten berichten.

Die Kopenhagener Kommission soll also die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie der einzelnen Staaten kontrollieren. Zudem soll die Artikel 7 um die Möglichkeit, einen Staat aus der Union auszuschließen, ergänzt werden.

Da eine Diskussionsrunde in dieser Form nur schwierig umzusetzen ist, bitten wir darum, an der folgenden Umfrage zum Thema "Kopenhagener Kommission" teilzunehmen: ... zur Umfrage 

Auf folgende Literatur wollen wir aufmerksam machen:
  • Begrifflichkeiten des Rechtsstaats S. 51-55
  • Rechtsstaat und Demokratie S. 55-58
https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845286365-34/demokratie-als-feigenblatt-zum-verhaeltnis-von-rechtsstaat-und-demokratie?page=17
Aus: Die gefährdete Demokratie: illiberale Demokratie - Populismus – Europaskepsis. Siegfried F. Franke, Nomos 2017 (Zugriff über Shibboleth) 

Vertiefende Darstellungen zu den im Text genannten Aspekten:
  • Die EU als wehrhafte Demokratie: 4 Einwände (und ihre Gegenthesen) S. 36-47
  • Kriterien für eine EU-Intervention S. 47/48
  • politische und rechtliche Instrumente der EU (+welche Instrumente wären noch wünschenswert) S.48-64
(PDF im Moodlekurs)
Aus: Wo Europa endet. Ungarn, Brüssel und das Schicksal der liberalen Demokratie. Jan-Werner Müller, suhrkamp 2013

Als weiterführende Lektüre:

Ungarn: An der Schwelle zum autoritären Staat? – Gedanken zum »Enfant terrible« der Europäischen Union. Ein Ausblick. S.227-244, https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/9783845286365-226/ungarn-an-der-schwelle-zum-autoritaeren-staat-gedanken-zum-enfant-terrible-der-europaeischen-union?page=1; aus: Die gefährdete Demokratie: illiberale Demokratie - Populismus – Europaskepsis. Siegfried F. Franke, Nomos 2017 (Zugriff über Shibboleth)

Sherin Arab, Tim Zwacka und Michael Tarek Feil

1 Kommentar:

  1. Danke für die von Euch erstellte Umfrage. Ich fand es aber gar nicht mal so ganz einfach zu beantworten, ob in der EU nun ein Demokratiedefizit vorliegt oder ob sie gar "Hüterin" der Demokratie ist. Die Wahrheit wird hier wie so oft wohl irgendwo in der Mitte liegen.

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