Montag, 20. Juli 2020

Demokratie im EU-Mehrebenensystem – eine Bilanz

Im Folgenden werden die Erkenntnisse aus den Sitzungen über die Demokratie im EU-Mehrebenensystem zusammengefasst. Dabei haben wir mit Frank Decker und seinen Überlegungen zu „Weniger Konsens, mehr Wettbewerb“ angefangen, gefolgt von den Ausführungen über die „Unabhängigen“ von Antoine Vauchez. Daraufhin haben wir uns mit Dieter Grimm beschäftigt und seiner Frage, welches Europa es denn nun sein soll. Abschließend wurde Jan-Werner Müllers Idee, wie die Mitgliedsstaaten geschützt werden können, untersucht. Grundsätzlich sehen alle Autoren teilweise unterschiedliche, teilweise aber auch sich überschneidende Defizite im EU-Mehrebenensystem. 

Frank Decker erkennt aufgrund des fehlenden politischen Wettbewerbs sowie der ungleichen Partizipation der BürgerInnen ein institutionelles Demokratiedefizit. Da die Demokratie in der EU keine historisch gewachsene Zusammengehörigkeit beinhaltet und die EU als technokratisches System nicht wünschenswert ist, versucht Decker an den institutionellen Stellschrauben zu drehen, um eine positive Veränderung hervorzurufen. Insgesamt drei Reformvorschläge macht Decker:
  • Erstens: Das Wahlrecht muss angepasst werden. Er wünscht sich europäische Wahllisten und einen europäischen Wahlkampf, um die Zeit der national geführten Wahlkämpfe der Vergangenheit angehören zu lassen. Kleinere Parteien will er mit einer Sperrklausel von 3% dazu zwingen, sich zusammenzuschließen, um eine Chance zu haben, in das EP einzuziehen.
  • Zweitens: Der Kommissionspräsident sollte durch das Volk gewählt werden, was seine Legitimation steigern würde.
  • Drittens: Die Anzahl der Kommissare sollte verringert werden, um die Kommission handlungsfähiger zu machen. Außerdem sollte der durch das Volk legitimierte Kommissionspräsident sein Regierungskabinett ernennen dürfen.
Die Umsetzungschancen stuft Decker als gering ein. Eine europäische Öffentlichkeit und ein starkes Europäisches Parlament wären da schon hilfreich.


Antoine Vauchez befasst sich mit der Rolle der von ihm sogenannten „Unabhängigen“. Zu den Unabhängigen zählt der Europäische Gerichtshof (EuGH), die Kommission sowie die Europäische Zentralbank (EZB). Vauchez ist der Meinung, dass die Experten der Unabhängigen seit Jahrzehnten große Befugnisse in der EU haben, ohne die notwendige Legitimität durch die EU-BürgerInnen vorweisen zu können. Dabei ist die Schuld an dieser Tatsache nicht ausschließlich bei der EU selbst zu suchen, sondern auch bei den einzelnen Mitgliedsstaaten, die seit Jahren dazu bereit sind, immer mehr Kontroll- und Entscheidungsbefugnisse an das Triumvirat abzugeben.

Das größte Problem sieht Vauchez aber in der Fehleinschätzung der EU, das Demokratiedefizit mittels Parlamentarisierung beheben zu können. Was schlägt Vauchez vor, um die beschriebene Problematik und das damit einhergehende Demokratiedefizit aufzulösen? Zuallererst müssen die Unabhängigen als das erkannt werden, was sie tatsächlich sind: Faktische Regierungsinstitutionen, welchen eine Führungsrolle bei der Verwirklichung des europäischen Projekts zukommt! Hier muss an dem Verständnis von Unabhängigkeit gearbeitet werden. Außerdem dürfen die Unabhängigen nicht zu stark werden. Um deren Macht einzuschränken, dürfen nicht zu viele Befugnisse an die Unabhängigen abgegeben werden. Zudem hat man in der EU den Einschätzungen und Empfehlungen der Unabhängigen zuletzt zu häufig blind vertraut, ein Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität muss hergestellt werden.

Dieter Grimm sieht die EU mit einer sinkenden Akzeptanz seitens der BürgerInnen konfrontiert. Um dieser Problematik entgegenzutreten, muss der Modus politischer Entscheidungsfindung demokratischer werden. Es muss ein Ausgleich zwischen Nationalstaaten und EU geschaffen werden, da sich die BürgerInnen auch auf Dauer mehr mit den Nationalstaaten identifizieren werden. Bis jetzt hat die EU zwei Versuche unternommen, den Modus demokratischer zu gestalten. Eine europäische Verfassung scheiterte unter anderem an Referenden in Frankreich und den Niederlanden, und das Subsidiaritätsprinzip, wonach die EU nur tätig werden darf, wenn die Maßnahmen der Mitgliedsstaaten ungenügend sind, wird in der Praxis so nicht angewandt.

Dieter Grimm schlägt eine Aufwertung des Europäischen Parlaments vor, zudem könnte die Kommission zu einer Art Regierung umgewandelt werden. Auf der anderen Seite müssten der Rat und die Ministerräte deutlich an Kompetenz verlieren, da diese immer die Souveränität der Nationalstaaten verteidigen. Robert Menasse geht gar soweit, den Europäischen Rat komplett abzuschaffen, da dieser behindert, was er eigentlich fördern soll: die Überwindung der Nationalstaaten!

Grimm kritisiert darüber hinaus (wie auch Decker) das Wahlsystem mit seinen nationalen Themensetzungen, fehlende europäische Parteien und die fehlende europäische Öffentlichkeit, was in Legitimationsproblemen resultiert. Dieter Grimm schlägt einen gemeinsamen Katalog vor, der den Nationalstaaten einen gewissen Handlungsspielraum lässt und dabei eine Kompetenzverschiebung zugunsten der EU zu verhindern weiß.

Jan-Werner Müller legt den Fokus auf den Demokratieabbau in einigen EU-Mitgliedsstaaten und stellt Überlegungen an, welche Rolle die EU einnehmen kann, um dies zu verhindern und als „Hüterin der Demokratie in den Mitgliedsstaaten“ auftreten zu können. Müller stellt drei Ansätze vor, wie ein Schutz der Mitgliedsstaaten aussehen könnte:
  • Es könnten den Mitgliedsstaaten erstens einige Rechte entzogen werden, sollten diese gegen bestimmte Grundrechte verstoßen, was sich auf Artikel 7 des Lissabon-Vertrags stützen lassen würde.
  • Zweitens könnte ein „Frühwarnsystem“ eingeführt werden, in welchem ein auftretendes Risiko über mögliche Verletzungen von europäischen Werten angezeigt werden würden.
  • Und drittens sollten die EU-BürgerInnen die Option haben, sich an nationale Gerichte wenden zu können, sollten sie Klage gegen Verluste von europäischen Grundrechten einreichen wollen.
Müller kritisiert außerdem die Tatsache, dass kleinere Mitgliedsstaaten schneller sanktioniert werden, als dies bei den Gründungsstaaten der Fall ist.

Zusammenfassend erkennen die Autoren einen Legitimationsverlust, der unter anderem in der relativ schwachen Rolle des Europäischen Parlaments und dem Wahlsystem zu verorten ist, welches mit seinen nationalen Wahlkämpfen und seinen fehlenden europäischen Parteien und auch der nicht vorhandenen europäischen Öffentlichkeit fehlerhaft konstruiert ist. Außerdem lässt sich ein Akzeptanzverlust bei den BürgerInnen der EU erkennen. Die starke Position des Ministerrats wird zudem häufig als Grund erkannt, warum die Souveränität der Nationalstaaten so stark ist und die Nationalstaaten nicht überwunden werden können. Die Vorschläge reichen von einer Schwächung der Kompetenzen des Rats bis zu einer kompletten Abschaffung! Außerdem sollte die Rolle der sogenannten "Unabhängigen" (EuGH, EZB, Kommission) überdacht werden.

Literatur
  • Decker, Frank (2017): Weniger Konsens, mehr Wettbewerb; Ansatzpunkte einer institutionellen Reform. Rüttgers/Decker: Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 163-179
  • Grimm, Dieter (2017): Europa: Ja-aber welches? Rüttgers/Decker: Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 31-48
  • Müller, Jan-Werner (2017): Europas anderes Demokratieproblem, oder: Ist Brüssel Hüter der Demokratie in den Mitgliedsstaaten? Rüttgers/Decker: Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 133-147
  • Vauchez, Antonine (2017): Die Regierung der „Unabhängigen“: Überlegungen zur Demokratie der EU. Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 181-193

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