Freitag, 17. Juli 2020

Die EU und das Demokratiedefizit - Versuch einer Bilanz

Im Seminar „EU für Fortgeschrittene“ bei Ragnar Müller haben wir als Themenblock im SoSe 2020 „Die Demokratie im Mehrebenensystem der Europäischen Union“ besprochen. Hierzu haben wir uns maßgeblich mit vier Texten der Autoren Frank Decker, Antoine Vauchez, Dieter Grimm und Jan-Werner Müller auseinandergesetzt. Allen vier Autoren ist gemeinsam, dass sie sich mit der Frage beschäftigt haben, inwiefern und ob es innerhalb der Europäischen Union einen Mangel an Demokratie gibt und ob dies nicht langfristig das Projekt Europäische Union gefährden könnte.

Schaut man sich die Positionen von Antoine Vauchez und Frank Decker an, so kann man konstatieren, dass die Europäische Union insgesamt in folgenden Punkten demokratischer und verstehbarer für die Bürgerinnen und Bürger der EU gemacht werden kann:
  • Die Regierungsinstitutionen bräuchten die vollständige Souveränität in der Auslegung des Mandats.
  • Es muss einen Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität in den Diagnosen und Urteilen geben.
  • Es muss ein bestimmtes Verständnis von Unabhängigkeit als Abgrenzung von vorhandenen und sozialen Interessen etabliert werden.
  • Es müsste ein europäisches Verhältniswahlrecht mit einheitlichen Wahllisten geben.
  • Es müsste eine europaweite Sperrklausel von 3% eingeführt werden: Kleine Parteien müssten sich europäisch organisieren, um Sitze im EP zu erreichen.
  • Da aber ungleiche Wahlbeteiligung zu ungleicher Gewichtung der Wählerstimmen führt, müsste die Sitzverteilung an die nationale Wahlbeteiligung angepasst werden. Hierbei würde man gleichzeitig für einen Anreiz für hohe Wahlbeteiligung sorgen.
  • Es müsste eine Fortentwicklung der Demokratisierung in präsidentieller Form geben; hier ist aber noch zu klären ob das Verfahren mit absoluter oder relativer Mehrheit eingeleitet werden kann und wie die Wahlen organisiert werden.
Nimmt man hier die Positionen Dieter Grimms hinzu, so muss
  • ein Ausgleich geschaffen werden zwischen der EU und den Nationalstaaten. Das ist so, weil sich die Bürgerinnen und Bürger der EU auf lange Sicht weiterhin mit ihren Nationalstaaten identifizieren werden.
  • Ein Akzeptanzgewinn kann aber dadurch erzielt werden, dass eine gemeinschaftliche Verfassung etabliert wird anstelle der völkerrechtlichen Verträge.
  • Das Subsidiaritätsprinzip müsste nicht nur de jure, sondern auch de facto angewandt werden.
Jan-Werner Müller möchte hier noch mehr den Schutz im Fall der Demokratieerosion in einzelnen Mitgliedsstaaten betont wissen:
  • Es könnte Artikel 7 des Lissabon-Vertrags Anwendung finden: Falls einige Mitgliedsstaaten gegen Grundrechte verstoßen, können diesen Rechte entzogen werden.
  • Es könnte weiterhin ein „Frühwarnsystem“ eingeführt werden, sollte eine Demokratieverletzung konstatiert werden.
  • Die EU-Bürgerinnen und Bürger sollten die Möglichkeit haben, sich an nationale Gerichte zu wenden.

Welches Fazit können wir aus den Aufsätzen der Autoren Grimm, Vauchez, Müller und Decker ziehen?

In der EU wird ein Demokratiedefizit wahrgenommen. Die Akzeptanz für das „Europäische Haus“ sinkt dabei hinsichtlich der Zustimmungswerte bei den EU-Bürgerinnen und Bürgern.

Ein Problem wird in den Befugnissen der „Unabhängigen“ gesehen. Hier sind die Institutionen EuGH, EZB und Kommission gemeint. Hierin liegt der Vorwurf, dass die EU zu viele Kompetenzen an dieses Triumvirat übertragen hat. So wurden die Unabhängigen qua Übergabe der Befugnisse sehr stark. Hilfreich wäre es hier, die europäischen Mandate politisch zu erweitern.

Das bedeutet aber nicht, dass die Arbeit der Unabhängigen obsolet sein sollte. Die Unabhängigen stellen ihre Entscheidungen in der EU aufgrund von Daten, Diagnosen und Prognosen bereit. Dadurch können wiederum europapolitische Strategien definiert werden. Jedoch sollte man die Entscheidungen der Unabhängigen auch unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass hier viele methodische Vorentscheidungen fallen. Somit ist die Objektivität der Entscheidungen der Unabhängigen nicht vollständig gegeben.

Es würde sicherlich auch helfen, wenn das Europäische Parlament bei der Bestellung der / des Kommissionspräsidentin / -präsidenten ein Nominierungsrecht hätte, oder wenn die Wählerinnen und Wähler über das Kommissionspersonal abstimmen könnten. Durch die Wahl durch die Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedsstaaten könnte es insgesamt eine demokratische Aufwertung der gesamten EU-Institution geben. Der Beitrag zur Europäisierung der Wahlen und des Wahlkampfes würde zudem erleichtert werden, weil hier immer nationale Spitzenkandidatinnen und Kandidaten zur Seite gestellt werden könnten.

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