Sonntag, 19. Juli 2020

Demokratiedefizit in der EU? - eine kleine Bilanz

Das Demokratiedefizit in der EU wird in der Wissenschaft unterschiedlich betrachtet. Verschiedene Lager definieren und begründen dieses ausgehend von verschiedenen Blickwinkeln. Die einen sehen das Defizit als unbehebbar an, da die Demokratie an ein kulturelles, sprachliches, historisches oder ethnisch vermitteltes Zusammengehörigkeitsgefühl gebunden sei. Andere halten eine stärkere Demokratisierung der EU für möglich, aber möchten sie nicht. Denn sie widerspräche dem ursprünglichen Konstrukt auf Basis eines gemeinsamen Marktes im Kern und finden daher, dass die wichtigen Entscheidungen in die Hände von unabhängigen Instanzen gehören. Weitere sehen genau darin das Problem: Die Zuständigkeiten seien bei der Schaffung des Marktes detailliert festgelegt und so der politischen Auseinandersetzung entzogen worden. Bereiche wie Sozial-, Steuer- und Energiepolitik bleiben aber weiterhin in Hand der Länder, obwohl sich gerade diese für eine Legitimation besonders eignen.


Frank Decker sieht sich zu einer weiteren Gruppe zugehörig. Diese teilt vorherige Analyse, aber glaubt auch das die vorhandenen Kompetenzverteilungen demokratisiert werden können. Decker sieht vor allem auf institutioneller Seite der EU behebbare Defizite. Die “polity” der EU als „Extremform eines Konsenssystems“ (Decker 2017:164) hindert durch die hohen Zustimmungshürden, die benötigte Einstimmigkeit, sowie dem Verfolgen von Einstimmigkeit obwohl diese nicht benötigt würde den politischen Wettbewerb. Die vorherrschenden Konfliktstrukturen, pro/anti-europäische Lager anstatt links/rechts, im politischen Wettbewerb machen es den Wählern schwer verschiedene Positionen der Parteien und identifizieren, führen zu einer geringen Wahlbeteiligung und verzerren so das Ergebnis. Verstärkt wird dieser Effekt durch die unterschiedliche Wahlbeteiligung in den einzelnen Staaten der EU.

Decker schlägt daher eine Neuordnung des Wahlsystems sowie die Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Volk vor. Der Kandidat wäre so mehr legitimiert und sollte auch sein Kabinett selbst einsetzten und nicht die Kommissare wie bisher in Abhängigkeit von Länderparität aufgestellt sein. Weiter schlägt Decker vor, Anwärter auf das Kabinett zusammen mit dem Kommissionspräsidenten zur Wahl zu stellen. Aus diesem Pool an legitimierten Kandidaten könnte sich der Präsident ein Kabinett bilden das eine bedeutend höhere Legitimation der Europäer inne hätte. Für seine Vorschläge sieht Decker allerdings unter den aktuellen Voraussetzungen keine Realisierungschancen.

Ein Vertreter aus der Gruppe derer, die die Demokratisierung für möglich halten aber gegen die bisher getroffenen Maßnahmen sind, ist Antoine Vauchez. Denn er sieht Europa im Zeichen der Unabhängigkeit und des Expertentums. Die „Unabhängigen“ Instanzen, denen die Hauptverantwortung zugewiesen wird, sind für ihn der Europäische Gerichtshof (EuGH), die Kommission und die Europäische Zentralbank (EZB). Dieses Triumvirat ist nicht im Besonderen durch die Wählerinnen und Wähler legitimiert, übernimmt aber in den letzten Jahrzehnten immer mehr die Geschicke der EU. Problematisch findet Vauchez vor allem, dass die EU versucht dieses Demokratiedefizit mit Parlamentarisierung zu beheben, für ihn eine klare Fehleinschätzung. Um dieses existierende Defizit zu beseitigen schlägt er vor, die Zuständigkeitsbereiche der genannten Organe nicht zu beschneiden, aber zu beachten, dass diese Institutionen nicht im gebräuchlichen Sinn „unabhängig“ sind: Sie sind Regierungsinstitutionen, denen die Führungsrolle bei der Verwirklichung des europäischen Projekts zukommt. Sein Weg zu mehr Demokratie sieht vor, sich kritisch zu der vollständigen Souveränität in der Auslegung der Mandate zu stellen, die wissenschaftliche Objektivität in den Diagnosen und Urteile anzuzweifeln und das Verständnis der Unabhängigkeit zu überdenken. Weiter schlägt er vor, die europäischen Mandate zu erweitern und merkt an, dass mit der Entscheidung, die EZB zur Rechenschaft zu zwingen, bereits erste Schritte in die richtige Richtung gemacht wurden. Um das Demokratiedefizit der EU zu beseitigen benötigt es seiner Meinung nach einen neuen Politikstil, bei dem die EU nicht zu viele Entscheidungen an die “Unabhängigen” abgibt.

Dieter Grimm sieht drei große Problemfelder in der europäischen Union. Die sinkende Akzeptanz, das Demokratiedefizit sowie das Legitimitätsproblem. Seiner Meinung nach gründen sich die sinkende Akzeptanz der Bürger für die EU in verschiedenen Bereichen: Erstens in der Selbstverständlichkeit des europäischen Friedens, zweitens, dass die Grundlage der der EWG ein völkerrechtlichen Vertrag war und drittens, dass vor allem die juristische Integration vorangetrieben, die politische aber stark vernachlässigt wurde. Die Ursachen hierfür finden sich in den Verträgen der EU, in denen Aufgaben und Zielvorgaben sehr eng festgeschrieben sind. So will der EuGH die größtmögliche Wirksamkeit des europäischen Rechts erreichen, was zur Folge hat, dass er seine Befugnisse zu Lasten der anderen Organe ausbaut. Gesetzgebungen der EU konnten kaum dagegen vorgehen, da zum einen die Kommission, die das Initiativrecht innehat, kaum Interesse an einer Einschränkung hatte und zum anderen, die Staaten im Rat zu unterschiedliche Interessen verfolgen. Zusätzlich bietet die Verfassung der EU nur geringe Handlungsmöglichkeiten. Die Abkehr vom Einigkeitsprinzip hin zu Mehrheitsentscheidungen im Rat, der Beginn des Sekundärrechts, mit dem Entscheidungen nach EU Recht in den Mitgliedsstaaten umgesetzt werden mussten und dem Vertrag von Maastricht, der durch die Erweiterung der Mitbestimmungsrechte des Parlaments die Vorstellung einer Wirtschaftsunion endgültig auflöste, führten zusätzlich zu einem Akzeptanzverlust bei den Bürgern. Das Demokratiedefizit verortet Grimm ebenso bei den Befugnissen der schon genannten „Unabhängigen“, die sich seiner Meinung nach verselbstständigen und auch gegen den Willen der Mitgliedsstaaten stellen. Um mehr Akzeptanz der EU bei den Bürgern zu gewinnen, stellt er fest, müsse der politische Modus der Entscheidungsfindung demokratischer werden. Da sich allerdings die Bürger mehr über die Nationalstaaten identifizieren als über die EU wird ein Ausgleich zwischen den Nationalstaaten und der EU benötigt. Weder das Subsidaritätsprinzip, nachdem die EU nur eingreifen kann, wenn die Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichen, noch der Wandel von einem völkerrechtlichen Vertrag hin zur Schaffung einer Verfassung haben zu einer größeren Akzeptanz geführt. Ein weiterer Ausbau der Kompetenzen des EU- Parlament bringt für ihn zudem mehrere Schwierigkeiten mit sich. Er erklärt, dass der Rat und nicht das Parlament als legitimierendes Organ eine Voraussetzung wäre und dieses stärker legitimationsgebend werden müsse. Problematisch ist, dass die Europawahl aber nach nationalem Wahlrecht und mit nationalen Themen stattfindet und auch auf europäischer Ebene der gesellschaftliche Meinungs- und Interessensartikulationsprozess mit dem Parlament nicht funktioniert, da keine europäische Öffentlichkeit existiert. Des Weiteren hängt die Legitimität der EU von den Mitgliedstaaten ab, die Entscheidungen werden aber in einem unpolitischen Modus an deren Willen vorbei getroffen. Die Verträge der EU wirken nicht konstitutionalisiert wodurch verfassungsartige Bestimmungen auf eigenes Recht abgestuft und somit die Gesetzgebung korrigiert werden kann. Grimm schlägt daher vor, einen gemeinsamen Katalog aufzustellen, der den Nationalstaaten gewisse Handlungsfreiheiten lässt. Er merkt an, dass dabei beachtet werden muss, dass es nicht zu einer Kompetenzverschiebung zugunsten der EU kommt.

Auf ein ganz anders gelagertes Demokratiedefizit geht Jan-Werner Müller ein. Er führt an, dass der Demokratieabbau in den EU-Mitgliedstaaten viel gravierender ist als das Defizit in den Institutionen der EU. Er schlägt vor, die EU solle als „Hüterin der Demokratie in den Mitgliedsstaaten agieren und die europäischen Völker vor sich selbst zu schützen.“ (Müller 2017: 133). Um diese edle Aufgabe erfüllen zu können, müssen ihr allerdings auch die nötigen Befugnisse und Mittel bereitgestellt werden. Er benennt im Weiteren drei grundlegende Hürden für die Ausfüllung dieser Rolle: Da die EU selbst unter einem Demokratiedefizit leidet, kann sie somit die übergeordnete Funktion des Beschützers der Demokratie nicht erfüllen. Ebenso existiert im Gegensatz zum gemeinsamen Markt kein gemeinsames Demokratieverständnis in den Mitgliedstaaten der EU. Beim Verhängen von Sanktionen, misst die EU mit mehrerlei Maß: Die kleineren Mitgliedstaaten wie Polen oder Ungarn werden bei Vertragsbruch sanktioniert, die Gründungsstaaten bleiben aber unbehelligt.

Wenn man zusammenfassend die Stellungnahmen der Autoren betrachtet, bleibt die EU noch in vielen Punkten reformbedürftig und es besteht die Gefahr, dass sich aus der Unabhängigkeit der Institutionen und den offensichtlichen Demokratiedefiziten weitere Akzeptanz- und Legitimitätsverluste ergeben.

Literatur
  • Decker, Frank (2017): Weniger Konsens, mehr Wettbewerb; Ansatzpunkte einer institutionellen Reform in Rüttgers/Decker: Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 163-179
  • Grimm, Dieter (2017): Europa: Ja-aber welches? in Rüttgers/Decker: Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 31-48
  • Müller, Jan-Werner (2017): Europas anderes Demokratieproblem, oder: Ist Brüssel Hüter der Demokratie in den Mitgliedsstaaten? in Rüttgers/Decker: Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 133-147
  • Vauchez, Antonine (2017): Die Regierung der „Unabhängigen“: Überlegungen zur Demokratie der EU * in Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union, S. 181-193

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