Donnerstag, 16. Juli 2020

Bilanz zu "Demokratie(defizit) & Reformen"

Die letzten vier Pflichtlektüren beschäftigten sich allesamt mit der Demokratie bzw. mit Defiziten im demokratischen Mehrebenensystem der Europäischen Union. Da die Titel der Pflichtlektüren unter der Überschrift „Demokrate(defizit) und Reformen“ standen, wird es in dieser Bilanz hauptsächlich um die verbesserungswürdigen Elemente der EU gehen. Betrachtet man zunächst die beiden Komponenten der Betitelung, so erkennt man bereits einen Zusammenhang zwischen Reformen und Defiziten. Durch das Vorhandensein von Defiziten entsteht automatisch das Verlangen nach Reformen. Reformen, welche es im Laufe der Geschichte der EU immer wieder gegeben hat. So spielt, will man Defizite und Reformen genauer beobachten, auch immer der historische Kontext eine Rolle, wie sich unter anderem bei Dieter Grimm feststellen lässt.


Dieter Grimm betont den historischen Stellenwert des EuGH, welcher von ihm als „Gericht mit Agenda“ bezeichnet wird. Diese Bezeichnung erhielt der Gerichtshof, da er es als seine Aufgabe sah, die (wirtschaftliche) Integration voranzubringen. Laut Dieter Grimm sind besonders zwei Urteile für die heutige Position des EU-Rechts verantwortlich. Der erste Punkt war, dass das Gemeinschaftsrecht der EU dem nationalen Recht vorrangig ist und zudem (zweitens) auch an nationalen Gerichten angeklagt werden kann. Durch dieses Prärogativ ging die Kompetenzenübertragung an die EU schleichend voran.

Für Grimm ist ein weiterer Meilenstein, dass das Einstimmigkeitsprinzip im Rat im Jahre 1987 abgeschafft wurde. Durch die Abschaffung dieses Prinzips hoffte man, die Effizienz zu verbessern. Im Jahr 1992 wurde der Vertrag von Maastricht unterzeichnet, welcher der (damals oft vertretenen) Vorstellung widersprach, die EU sei eine reine Wirtschaftsunion. Durch einige weitere Reformen wurde die EU zu der Union, wie wir sie heute kennen. Für die Einen ist die EU auf dem Weg zum europäischen Staat, den USE, für die Anderen ist sie dagegen eine Zweckgemeinschaft der Mitgliedsstaaten.

Diese verschiedenen Zielvorstellungen spielen besonders bei Frank Decker eine Rolle, welcher von vier verschiedenen Positionen hinsichtlich der Demokratiefrage ausgeht. Die erste Gruppe hält das Demokratiedefizit für nicht behebbar, da das Konzept von Demokratie nur mit einer „kulturellen“ Zusammengehörigkeit erreicht werden kann. Die zweite Gruppe hält die Demokratisierung zwar für möglich, aber nicht für wünschenswert, da sie der Idee der innereuropäischen Integration widerspreche. Die dritte Gruppe kritisiert, dass das Gebilde der EU zu streng festgelegt wurde und daher keinen Platz für politische Auseinandersetzung lässt. Die vierte Gruppe glaubt an eine mögliche Demokratisierung und legt besonders Wert auf das EP.

Aus der Sicht der vierten Gruppe sind die wichtigsten demokratischen Stellschrauben ein einheitliches Wahlrecht, die Wahl des Kommissionspräsidenten und die Wahl einzelner Kommissare. Mit dem einheitlichen Wahlrecht ist hierbei zum Beispiel gemeint, dass das Alter für das passive und aktive Wahlrecht im Ländervergleich angepasst wird, die Wahllokale sollen zu gleichen Zeiten geöffnet sein und ob die Wahlpflicht in allen Staaten eingeführt werden soll oder nicht. In dem Unterpunkt der Wahl des Kommissionspräsidenten wird angesprochen, dass die „Regierung“ der EU bisher nicht vom Volk gewählt werden kann. Frank Decker unterstützt diese Idee, auch wenn dieses Konzept innerhalb der EU nur in Zypern angewendet wird. Dies könnte möglicherweise zu einer stärkeren Legitimation führen und das Prinzip der Gewaltenteilung unterstützen.

Auch bei Jan-Werner Müller werden Lösungsvorschläge zur Behebung des Demokratiedefizits gemacht. Besonders in der Kritik steht bei ihm der Artikel 7. Dieser Artikel müsste „[...] um die Möglichkeit erweitert werden, ein Mitgliedsland ganz aus der Union auszuschließen.“ (S.145) Da der bisherige Artikel 7 einem betroffenen Mitgliedsland lediglich bestimmte Rechte entziehen kann, würde die EU ihrer Rolle als „Hüterin der Demokratie“ nicht gerecht werden.

Jan-Werner Müller schlägt zudem eine „Kopenhagener Kommission“ vor, welche aus Experten bestehen soll, die sich mit akuten Problemen beschäftigen und diese zur Sprache bringen. Diese Kommission kann nicht die bereits vorhandene Europäische Kommission sein, da diese in den letzten Jahren bewusst „politisiert“ wurde. Diese Kommission soll nicht direkt gewählt werden können, da es sich hierbei nicht um parteipolitische Fragen handeln soll. Zudem fordert Jan-Werner Müller, dass diese Kommission über genügend Fachkompetenz, politische Urteilskraft und Autorität verfügt, um Untersuchungen anzustellen und Sanktionen auszulösen. Des weiteren soll routinemäßig über den Zustand des Rechtsstaates und der Demokratie in den verschiedenen Mitgliedsstaaten berichtet werden.

Auch wenn die drei genannten Autoren allesamt einen anderen Schwerpunkt setzen und sich daher auch in ihrer Herangehensweise unterscheiden, kann man eine Sache allgemeingültig sagen: Es gibt sicherlich Defizite innerhalb des Mehrebenensystems der EU, doch diese Defizite sind laut der drei Autoren zu bewältigen. Sei es Dieter Grimm, welcher durch den geschichtlichen Aspekt eine Kontinuität aufzeigt, welche noch heute fortgeführt und die EU dadurch weiterhin reformiert werden kann; sei es Frank Decker, welcher die vier Positionen analysiert und dadurch eine Grundlage für das Verständnis der Problematiken schafft, oder aber sei es Jan-Werner Müller, welcher direkte Vorschläge zur Verbesserung des Artikels 7 macht und den Vorschlag einer zusätzlichen Kommission einbringt. Die EU hat zweifelsohne Defizite, jedoch lassen sich diese, da scheinen sich die drei Autoren einig zu sein, bewältigen.

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