Montag, 20. Juli 2020

Demokratie(defizit) im EU-Mehrebenensystem – eine Bilanz

Macht Europa demokratischer“ heißt es im Titel des Kommentars von Steffen Dobbert in der ZEIT ONLINE vom Mai 2019, kurz nach der Europawahl. Doch muss Europa demokratischer werden? Viele der Punkte, die Dobbert in seinem Kommentar als Ursache für ein herrschendes Demokratiedefizit sieht, finden sich auch in den Texten von Decker, Vauchez, Grimm und Müller. Diese gilt es im Folgenden nochmals kurz zu erläutern, um anschließend eine Bilanz zu ziehen. Es wird der Frage nachgegangen, wie Demokratie in der Europäischen Union gelebt und gestaltet wird. Lassen sich Defizite feststellen? Und wenn ja, woran lassen sich diese festmachen?


Zunächst bedarf es eines einheitlichen Verständnisses bezüglich der Eigenschaften, die ein demokratisches System kennzeichnen müssen. Demnach bezieht sich Decker in seiner Textlektüre auf Ronald A. Dahl: Zum demokratischen Systemverständnis gehört zum einen der politische Wettbewerb der Parteien, die transparente und voneinander unterscheidbare Ziele verfolgen, sich durch diese profilieren und voneinander abgrenzen.

Außerdem ist für ein demokratisches System ein zentrales Merkmal die Partizipation. BürgerInnen können ihr Wahlrecht nutzen, um Veränderungen herbeizuführen und damit das Gefühl des „Ich kann mit meiner Stimme etwas bewegen“ zu haben. Auf diesen Punkten aufbauend kann anschließend geschaut werden, ob und inwieweit die EU diese Merkmale erfüllt, und wenn nicht, welche Ursachen eventuelle Defizite bewirken.

Vauchez sieht die Ursachen des Demokratiedefizits insbesondere in dem Umgang mit den sogenannten „Unabhängigen“ (EZB, EuGH und Kommission). Diese „unabhängigen“ Instanzen werden ihrem Namen nicht gerecht, da sie mehr „konkrete“ Regierungsinstitutionen mit einem klar definierten Führungsauftrag wahrnehmen.

Auch die anderen oben genannten Autoren sehen im Kern das gleiche Problem innerhalb der EU in den drei Instanzen EuGH, Kommission sowie dem Parlament. Grimm stellt fest, dass Entscheidungen der Instanzen nicht ausreichend transparent kommuniziert werden. Die judikative Seite (EuGH) und die Exekutive (Kommission) führen quasi ein „Eigenleben“, das im Endeffekt einen Graben zwischen Entscheidungsbefugnis und Entscheidungsverantwortlichkeit bewirkt. Nationale Regierungen führen Entscheidungen aus, über die sie zuvor keine Befugnisse hatten.

Wegen des Fehlens einer europäischen Öffentlichkeit, einem Legitimationsproblem u.v.m. schlägt unter anderen Grimm bestimmte Lösungsansätze vor: Demnach kann ein gemeinsamer Katalog den Mitgliedsstaaten dazu dienen, einen größeren Handlungsspielraum zu bieten. Um eine erfolgreiche Demokratie zu leben, bedarf es eines gemeinsamen Demokratieverständnisses, das allerdings, im Gegensatz zum Marktverständnis, in der EU nicht gegeben ist. Demnach lässt sich, wie anfangs beschrieben, das Demokratieverständnis nach Dahl nicht auf alle Mitgliedsstaaten übertragen.

Müllers Lösungsvorschlag ist eine „Kopenhagen-Kommission“, die unabhängig, aus ExpertInnen bestehend, Prozesse überwachen und wenn nötig eingreifen kann. Sie soll nicht wählbar sein, da parteipolitisch unabhängig, und über Sanktionsmöglichkeiten verfügen. Decker plädiert dafür, dass ein institutionell geteilter Rahmen kreiert wird, in dem dann wiederum ein breiter, europäischer Wettbewerb stattfinden kann. Um dieses Ziel zu erreichen, gilt es, eine größere Öffentlichkeit und ein europäisches Parteiensystem zu schaffen. Ein Beispiel hierfür ist ein einheitliches Wahlrecht mit gleichen Wahllisten in ganz Europa.

Decker beschreibt zudem das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung als das zentrale Moment der Demokratisierung. Demnach soll die Möglichkeit bestehen, den/die KommissionspräsidentIn durch direkte oder indirekte Wahlen zu wählen. Vauchez sieht eine Aufgabe darin, Instanzen der sogenannten „Unabhängigen“ transparenter zu gestalten, indem Mandate der EU im politischen Sinn ausgeweitet werden. Es sollten weniger Entscheidungen ungeprüft den „Unabhängigen“ überlassen werden, da dann die Gefahr besteht, dass diese eine zu große Macht gewinnen.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass alle Autoren der Meinung sind, dass die Europäische Union ein Demokratiedefizit hat. Wie bereits angeführt, sind verschiedene Faktoren ausschlaggebend für dieses Defizit. Lösungsansätze lassen sich einige finden, und in der Theorie erscheinen sie auch stimmig und sinnig. Doch in der Praxis muss sich zeigen, ob diese Theorien auch umsetzbar sind.

Neben der Kritik und Verbesserungsvorschlägen muss aber auch festgehalten werden, dass sich in der EU über die Jahre hinweg ein gemeinsames Handlungsmuster herausgebildet hat. Außerdem stellt Demokratie immer einen Prozess und keinen Zustand dar. Jüngere demokratische Staaten können von den „alten“ lernen. Genauso sollte die EU als ein einheitlicher „Staat“ fungieren und dementsprechend als demokratisches Beispiel vorangehen. Sie soll zeigen, wie ein demokratisches System auf mehreren Ebenen funktionieren kann. Wenn sich dort eine Einheit zeigt, die ein demokratisches Geflecht, Stabilität, Transparenz und Öffentlichkeit präsentiert, ist bereits viel gewonnen. Letztendlich ist „Jede demokratische Institution […] nur so stark, wie sie von ihren Bürgern gemacht wird“ (Dobbert 2019, ZEIT ONLINE).

Literatur
  • Decker, Frank (2017): Weniger Konsens, mehr Wettbewerb; Ansatzpunkte einer institutionellen Reform
  • Dobbert, Steffen (2019): https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-05/eu-wahl-europa-demokratie-chance-europawahl-europaeische-union
  • Grimm, Dieter (2017): Europa: Ja - aber welches?
  • Müller, Jan-Werner (2017): Europas anderes Demokratieproblem, oder: Ist Brüssel Hüter der Demokratie in den Mitgliedsstaaten?
  • Vauchez, Antonine (2017): Die Regierung der „Unabhängigen“: Überlegungen zur Demokratie der EU. Europas Ende, Europas Anfang. Neue Perspektiven für die europäische Union

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