Sonntag, 19. Juli 2020

Demokratiedefizit der EU - Versuch einer Bilanz

Vielen Wissenschaftler*innen zufolge hat die EU ein Demokratiedefizit. Doch wie entstand dieses und wie könnte es sich gegebenenfalls beheben lassen?

Als Bilanz zu unseren vier Sitzungen zu dieser Thematik möchte ich zunächst das grundlegende Problem erläutern. Dieter Grimm beispielsweise stellt fest, dass die EU über eine Wirtschaftsgemeinschaft hinausgewachsen ist, ohne konkrete Ziele zu definieren. Die Politik diskutiert seiner Meinung nach nicht genauer über diese Ziele, so dass die Bürger*innen der Gemeinschaft sich nicht im Klaren darüber sein können, was die EU eigentlich politisch anstrebt. Denn je nach Ziel unterscheiden sich natürlich auch die Lösungsansätze.

Anstatt über die Ziele zu diskutieren, werden nach Grimm eher Entscheidungen getroffen, die Folgezwänge mit sich bringen. Dadurch können sich die Bürger*innen keine Meinung bilden und es lässt sich somit keine Legitimation aufbauen. In dem Podcast „Wie die EU demokratischer werden kann – Verfassungsrechtler Dieter Grimm“ von Deutschlandfunk Nova spricht Grimm davon, dass die EU ein Legitimationsdefizit hat. Dies sei schwer zu bestreiten.


Anfangs war die Zustimmung zur EU groß, doch nun hat sich alles geändert. Die anfängliche Euphorie kann nach Grimm unter anderem am Zweiten Weltkrieg liegen. Neue Kriege sind in Deutschland glücklicherweise außer Sicht. Frieden ist für uns heute eher eine Art Gegebenheit. Die Anfangsmotive der Friedensgemeinschaft EU haben sich also erschöpft und es blieb nur der gemeinsame Markt übrig.

Nach Grimm hat sich die EU aber auch durch Veränderungen entfremdet, die öffentlich lange nicht wahrgenommen und diskutiert wurden. Unter anderem der Vertrag von Maastricht, mit dem seiner Meinung nach die Akzeptanzschwäche der EU begann. An dieser Stelle nochmal ein kleiner Exkurs bezüglich Demokratie im Allgemeinen: Was macht eine repräsentative Demokratie überhaupt aus?

Aus Robert A. Dahls Sicht besteht eine Demokratie aus zwei Elementen. Das erste Element ist der politische Wettbewerb. Hierbei geht es darum, dass verschiedene Parteien klar unterscheidbare Ziele verfolgen, so dass sich die Bürger*innen für eine Partei entscheiden können, die ihre Meinung am ehesten widerspiegelt. Da die Meinungen weit auseinandergehen können, aber so gut es geht jede/r Bürger*in beachtet werden sollte, sollte auch das politische Angebot da sein. Zum anderen sollte nach Dahl eine gleiche Partizipation der Bürger*innen gewährleistet werden.

Überträgt man dieses Demokratiekonzept nun auf die EU stößt man auf einige Hindernisse und somit auf ein Demokratiedefizit der Gemeinschaft. Frank Decker sieht den politischen Wettbewerb durch Konflikte innerhalb der EU als eher beschränkt. Außerdem gibt es nach ihm auch keine gleiche Partizipation. Zudem sei sie durch ungleiche Wahlbeteiligung in den verschiedenen Ländern verzerrt. Decker führt einige Lösungsansätze an, die das Demokratiedefizit innerhalb der EU vermindern könnten.

Zum einen könnte das europäische Verhältniswahlrecht mit einheitlichen Wahllisten versehen werden und eine 3%-Sperrklausel eingeführt werden. Die Sitzverteilung könnte an die Wahlbeteiligung gekoppelt werden. Dadurch würde Druck aufgebaut werden, so dass eine höhere Wahlbeteiligung die Folge wäre. Das Problem hierbei sei aber nach Decker die ungleiche Wahlbeteiligung und die ungleiche Gewichtung der Wählerstimmen der verschiedenen Länder.

Eine zweite Möglichkeit wäre die Fortentwicklung der Demokratisierung in präsidentieller Form und somit die Wahl des Kommisionspräsidenten. Dieser würde der EU ein Gesicht geben und dem erhöhten Zusammengehörigkeitsproblem der EU entgegenwirken. Eine dritte Korrektur könnte nach Decker die Flexibilisierung der Länderparität oder die Einführung von Vizekommissionsposten sein. Diese könnten die Arbeitsfähigkeit der EU verbessern.

Die EU versucht, eher erfolgslos, eine gemeinsame Identität zu formen. Doch Grimm nimmt an, dass eher institutionelle Reformen das Europäische Parlament stärken kann. Dieses soll ins Zentrum der Union treten und somit das Legitimationsdefizit verringern. Außerdem betont Grimm, dass die Europawahl nicht europäisiert ist. Dies führt dazu, dass der Zusammenhang zwischen dem Wahlergebnis und der darauffolgenden Politik gering sei. Das Parlament umfasst derzeit über 180 Parteien.

Alexander Görlach erläutert in seinem Artikel „Europa braucht bessere Bürger“ aus der ZEIT, dass er eher die Wähler*innen als das Problem der EU sieht. Er ist der Meinung, dass es kein wirkliches Versagen Europas gibt. Europa erhält den Frieden, und das sei der EU hoch anzurechnen. Populisten wollen allerdings europäische Werte zerstören. Deshalb brauche Europa neue Eliten in der Politik, in der Wirtschaft, in Kultur und in den Medien.

Nach Vauchez sei die Europapolitik auf Expertentum ausgerichtet. Diese Experten werden von ihm als "Unabhängige" bezeichnet und bestehen v.a. aus EuGH, Kommission und EZB. Vauchez ist außerdem der Meinung, dass die EU derzeit in ihren Händen liegt. Er betont auch die Fehleinschätzung der EU, man könne das Demokratiedefizit durch Parlamentarisierung beheben. Dies sei aber auch Schuld der Mitgliedsstaaten, die immer mehr Kontrolle an die Unabhängigen abgeben. Reform- und Lösungsvorschläge wären zum einen, die EZB, EuGH und Kommission nicht mehr zu unabhängigen Institutionen zu machen. Zum anderen die europäischen Mandate politisch zu erweitern.

Alles in allem kann also gesagt werden, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der EU während der letzten Jahre gelitten hat. Dies liegt zum größten Teil an dem Demokratiedefizit der Gemeinschaft. Es liegt jetzt an der EU zu agieren, um den Bürger*innen mehr Mitspracherecht zu ermöglichen, so dass diese sich als Teil der Gemeinschaft fühlen.

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