Eine kritische Auseinandersetzung mit der Europäischen Union ohne die Diagnose eines Demokratiedefizits kann nur noch selten gefunden werden. Eine Liste der Symptome wird fein säuberlich geführt und gelegentlich werden Behandlungsmethoden vorgeschlagen. Einer der Ansätze verweist zur Demokratisierung der Europäischen Union auf die Förderung einer europäischen Identität. Doch inwiefern kann diese tatsächlich dem Legitimationsdefizit entgegenwirken? Um in die Thematik einzusteigen, wird im Folgenden zunächst einmal kurz gezeigt, worauf sich die Kritik an der europäischen Demokratie bezieht.
Die Grundfrage in diesem Diskurs fragt zunächst nach den Eigenschaften, die eine repräsentative Demokratie legitimieren. Decker (2017) bezieht sich hier auf zwei Punkte, die erstmals von Robert A. Dahl hervorgebracht wurden. Demnach sollte ein demokratisches System einen politischen Wettbewerb ermöglichen. Parteien sollten auf der Basis unterscheidbarer politischer Ziele gegründet werden und an Wahlen teilnehmen. So wird sichergestellt, dass Bürger*innen politische Werte und Handlungen mit ihren Stimmen bewusst unterstützen oder ablehnen können.
Die zweite für Dahl legitimierende Eigenschaft einer Demokratie ist die gleiche Partizipation der Bürger*innen. Zunächst fußt diese auf ein allgemeines Wahlrecht. Gleichzeitig muss jedoch auch das Grundgefühl herrschen, dass eine Veränderung durch die Abgabe des Stimmzettels bewirkt werden kann. Beide Punkte können als miteinander verbunden angesehen werden. Es wird davon ausgegangen, dass ein stärkerer politischer Wettbewerb zu einer höheren formalen Partizipation in Wahlen führt. (vgl. Decker 2017, 167)
Werden diese Überlegungen von Dahl nun auf das europäische System übertragen, ergeben sich einige Defizite der europäischen Demokratie. Zunächst wird nach Decker der politische Wettbewerb durch die polity der Europäischen Union eingeschränkt. Grund dafür sei die ständige Suche nach einem Konsens unter den Beteiligten, bevor eine Entscheidung getroffen wird. Beispiele hierfür können in den hohen Zustimmungshürden im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren und vor allem in einstimmigen Entscheidungen des Europäischen Rates hinsichtlich der Außen- und Sicherheitspolitik gefunden werden.
Des Weiteren beschränkten die Konfliktstrukturen innerhalb der europäischen Politik den politischen Wettbewerb. So werden die Konfliktlinien nicht zwischen politischen Lagern, sondern vielmehr zwischen pro- und anti-europäischen Kräften gefunden. Diese Eigenschaft führe dazu, dass große pro-europäische Parteifraktionen nicht mehr voneinander unterschieden werden können und es den Bürger*innen schwerer fällt, die Position der Parteien zu erkennen. Als Folge werden Europawahlen als weniger attraktiv angesehen und die Wahlbeteiligung bleibt gering.
Die zweite, von Dahl genannte Eigenschaft, die gleiche Partizipation der Bürger*innen, sieht Decker durch die geringe Wahlbeteiligung verstellt. Des Weiteren kann der Anspruch u.a. aufgrund der ungleichen Wahlbeteiligung in den unterschiedlichen Ländern nicht erfüllt werden. Kritisiert wird hier, dass die Sitzverteilung unabhängig von der Wahlbeteiligung eines Landes bestimmt wird. (vgl. Decker 2017, 164-167)
Decker zeigt hier nur einen Teil der in der Literatur beschriebenen Eigenschaften der Europäischen Union auf, die zu einem Legitimationsdefizit führen. Bliebe man bei dieser Sicht auf das Demokratiedefizit, so könnte eine europäische Identität nur einen kleinen Teil zur Legitimation beitragen. Eine Veränderung des Institutionengefüges wäre hier von sehr viel größerer Bedeutung. Es stellt sich aber darüber hinaus die Frage, ob die Europäische Union überhaupt demokratiefähig ist, denn die Demokratie fuße auf einem kollektiven Subjekt, das aus Individuen mit einer verbindenden kollektiven Identität besteht. (vgl. Grande 1996, 347)
Im Zusammenhang mit der Legitimation durch Identitätsbildung wird in der Europaforschung oftmals auf die „Gettysburg Address“ von Abraham Lincoln verwiesen. Lincoln definiert die Demokratie als „government of, by and for the people“. (vgl. Wiesner 2020, 47) Durch diese Aufteilung wird unter anderem eine input- und eine output-orientierte Version der Legitimation verfolgt. Diese existieren nebeneinander mit eigenen Logiken und verstärken sich gegenseitig.
Folgt man zunächst der Input-Dimension “government of the people“, zeigt diese die Voraussetzung eines politischen Gemeinwesens, das „Staatsvolk“ oder auch „Demos“. Dies zeichnet sich letztlich durch eine gemeinsame Identität aus. Eine solche kollektive Identität bildet die Grundlage und Existenzsicherung des politischen Gemeinwesens. Hier kann vor allem auf nationalstaatliche Demokratien verwiesen werden. (vgl. Scharpf 1997, 4)
Die Bürger*innen gestalten das demokratische Leben als Souverän, Wahlvolk und durch politische Aktivitäten. Darunter kann die Teilnahme an Debatten oder Protesten oder die Gründung von zivilgesellschaftlichen Organisationen fallen. Die Legitimation einer politischen Gemeinschaft erfolgt demnach, wenn diese aus den Bürger*innen hervorgeht oder zumindest von diesen unterstützt wird. (vgl. Schidberg 2008, 64f.)
Die zweite Dimension „government by the people“ definiert politische Entscheidungen als legitim, wenn und weil diese die Zustimmung des Demos haben. Konkreter bedeutet dies in repräsentativen Demokratien das Recht zu haben, wählen zu können und gewählt zu werden. Hier steht vor allem die Beziehungen zwischen Bürger*innen und Regierten im Mittelpunkt, genauer die Repräsentation der Regierten und die Verantwortung gegenüber diesen.
Die Frage darüber hinaus ist, wie Herrschaft institutionalisiert wird. (vgl. Wiesner 2020, 74) Scharpf (1997) führt diesen Gedanken weiter aus und stellt dabei unter anderem fest, dass sobald es keine einstimmige, sondern eine Mehrheitsentscheidung gibt, die Zustimmung derer, die anderer Meinung sind, nicht berücksichtigt werde. So könne diese Art der Legitimation bei Mehrheitsentscheidungen nur als legitimierend wirken, wenn von einem gleichen Interesse der Staatsbürger*innen ausgegangen wird. Dies wiederum setzt eine kollektive Identität der Willensträger und Handlungseinheiten der Politik voraus.
Da nur in seltenen Ausnahmefällen alle der gleichen Meinung sind, braucht es eine solidarische Gemeinschaft, damit die Opfer einer Mehrheitsentscheidung getragen werden wollen. Politik kann diesen legitimierenden Glauben an Gemeinsamkeiten zwar beeinflussen, hervorgebracht wird er jedoch vor allem durch die Wirkung der Politik im Bewusstsein der Bürger*innen.
Werden politische Mehrheitsentscheidungen auf Ebenen getroffen, auf denen dieser Gemeinsamkeitsglauben herrscht, so kann dieser als Legitimation ausreichen. In Bezug auf die Europäische Union kommentiert Scharpf jedoch, dass eine solche Legitimation in diesem Kontext nicht herangezogen werden könne. Es fehle an einer solidarischen Identität der Europäer, an Kommunikation und vermittelnden Strukturen, die den Willen der Bürger*innen widerspiegeln. (vgl. Scharpf 1997, 4ff)
Die Dimension der Input-Legitimation wird ergänzt durch die Output-Dimension „government for the people“. Hier steht der Output des Systems im Mittelpunkt, also wie effizient die Entscheidungsverfahren sind und in welchem Maße sie zu einer erhöhten Glaubwürdigkeit führen. Das Kriterium der Legitimation wird in der Effizienz gemeinsamer Problemlösungen und der Implementierung gemeinsamer Interessen der Mitglieder des Gemeinwesens gesehen. (vgl. Schildberg 2017, 62f)
Scharpf geht hier zunächst von egoistisch-rational orientieren Bürger*innen aus, deren gemeinsames Interesse die Produktion von Kollektivgütern und Lösungen ist, bei denen niemand schlechter als zuvor dastehen würde. Umverteilungen würden in diesem Denkmuster nur durch das Gerechtigkeitskriterium des Äquivalententauschs legitimierbar sein. Lösungen, die sich Kriterien der Bedürftigkeit oder der Gerechtigkeit bedienen, würden die Anforderungen egoistisch-rational orientierter Bürger*innen nicht erfüllen.
Sollen diese Lösungen jedoch angestrebt werden, so argumentiert Scharpf, brauche es auch aus der output-Perspektive eine solidarische Gemeinschaft. Umso stärker die Bereitschaft zur solidarischen Umverteilung eingefordert wird, desto nötiger sei eine starke Bindung zwischen den Mitgliedern des Gemeinwesens. Weiterführend bedeutet dies, dass politische Einheiten mit einer schwachen kollektiven Identität wie die Europäische Union nur über begrenzte Legitimation verfügen. (vgl. Scharpf 1997, 6f.)
Definiert man Demokratie und ihre Legitimation anhand der „Gettysburg Address“, würde der Förderung einer europäischen Identität eine weitaus größere Rolle zukommen. Denn jede der drei Dimensionen beruht auf einem Demos. Die weiterführenden Überlegungen von Scharpf zeigen zudem, dass eine repräsentativ-demokratische Polity von einem Demos gestützt werden müsse. Denn dieser trägt zur Legitimation der Handlungen bei. Was sich bis hierher zeigt, ist, dass das Potential einer europäischen Identität zunächst einmal davon anhängig ist, wo genau das Demokratiedefizit verortet wird. Außerdem kann festgehalten werden, dass eine (belastbare) europäische Identität fehle.
Der Gebrauch des theoretischen Konstrukts der Identität wird in der Literatur oftmals als verallgemeinernd und undifferenziert beschrieben. Dabei wird deutlich, dass keine eindeutige Definition des Begriffes angeführt werden kann. Abhängig von dem jeweiligen Kontext und fachlichen Hintergrund kann diese unterschiedliche Merkmale beinhalten.
Erikson (1968) sieht als Basis der Identität das Selbstempfinden einer Person, welches abhängig von der umgebenden Gesellschaft und Kultur ist. Innerhalb der Gesellschaft wird eine Person durch soziale Rollen und Erfahrungen geformt und wird mit der Aufgabe konfrontiert, die Rolle zu finden, die sie annehmen möchte. Dies geschieht in Abhängigkeit zu den Rollen, die die Gesellschaft zu bieten hat und die sie der Person erlaubt anzunehmen.
Doch es gibt zwei Seiten der ‚Identitätsmedaille‘. Hier wird deutlich, dass das Konzept der Identität aus zwei Ebenen besteht. Zum einen die Ebene des schon beschriebenen Selbstempfindens und zum anderen die Gruppenebene, die auf die Dynamik einer Gruppe verweist. Beide Ebenen sind gleichermaßen wichtig und beeinflussen sich gegenseitig. (vgl. Prutsch 2017, 10)
In unserem Kontext ist jedoch die individuelle Identität deutlich abzugrenzen von der europäischen Identität und somit von einer kollektiven Identität. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Identifikation der Individuen mit einem Kollektiv ein wichtiger Bestandteil einer kollektiven Identität darstellt. Diese Begriffsbestimmung würde jedoch zu kurz greifen. Vielmehr geht es hier um die Inhalte dieser Identifikation, also die Bedeutungsgehalte und Zuschreibungen, die mit dem Kollektiv verbunden werden.
Dieser Bedeutungsgehalt ist ausschlaggebend, damit sich eine Person mit einer politischen oder administrativen Einheit identifiziert. (vgl. Wiesner 2020, 79) Dabei stehen vor allem die Gemeinsamkeiten der Mitglieder im Mittelpunkt, durch die sie sich gegenüber anderen Gruppen abgrenzen. Bezüglich ihrer persönlichen Interessen oder ihres sozio-ökonomischen Status können sich die Gruppenmitglieder stark voneinander unterscheiden. Dies wird eben durch ein Gefühl der Gleichheit kompensiert, sodass sich die Mitglieder untereinander solidarisch verbunden fühlen. Diese Gemeinsamkeiten werden größtenteils gedanklich konstruiert, werden demnach von dem Kollektiv selbst hervorgebracht. Die kollektive Identität ist also mehr etwas Konstruiertes, Dynamisches und Erlerntes als etwas Natürliches oder Feststehendes. (vgl. Prutsch 2017, 10)
Nationale und supranationale Identitäten sind somit kollektive Identitäten, die zur Legitimation von politischen Handlungen konstruiert werden. Wodak und Riekmann (2003) zeigen in ihrem Aufsatz, dass beide Identitätskonstruktionen in vielen Teilen auf gleichen Konzepten basieren. Beispielsweise beruhen nationale Identitäten auf der Betonung der nationalen Einzigartigkeit und der Beschreibung von zwischennationalen Differenzen. Innernationale Differenzen werden hierbei, wenn möglich, nicht weiter berücksichtigt.
Ähnliche Prozesse lassen sich auch bei der diskursiven Konstruktion von supranationalen Identitäten wie der europäischen Identität beobachten. Hier geschieht die Abgrenzung beispielsweise zur USA oder zu China. Ohne das Aufzeigen von Differenzen könnte das Konstrukt der Identität, unabhängig auf welcher Ebene, nicht standhalten. Damit dies verstärkt wird, ist es umso wichtiger, dass die innereuropäischen Unterschiede heruntergespielt werden. Trotz dieses Versuches werden die politischen und ökonomischen Unterschiede jedoch immer sichtbarer. Dies zeigt, dass die Strategie der Abgrenzung zwar funktional ist, jedoch Probleme verschleiert und spätestens bei Entscheidungsprozessen zum Problem werden können. (vgl. Wodak/Riekmann 2003, 284)
Ein weiterer wichtiger Punkt einer nationalen Identität ist die Konstruktion von gemeinsamer Geschichte, Gegenwart und Zukunft, eine gemeinsame Kultur und (gesetzliche) Rechte und Pflichten. Mit einigen Differenzierungen lassen sich diese Punkte auch auf die europäische Identität übertragen. Beispielsweise bilden die Erlebnisse des Zweiten Weltkrieges eine gemeinsame Vergangenheit. Außerdem werden gemeinsame gesetzliche Rechte und Pflichten durch die europäischen Verträge gesichert.
Hinsichtlich der Zukunft der Europäischen Union wird oftmals bemängelt, dass der Wunsch nach einer Gemeinschaft zwar bestehe, zu dem Ziel des Projektes jedoch keine eindeutige Antwort zu finden sei. (vgl. Wodak/Riekamm 2003, 285) Durch diese Beispiele kann erkannt werden, dass die Konstruktion einer nationalen sowie einer europäischen Identität auf ähnlichen Konzepten ruht. Unterscheiden kann man diese beiden politischen Identitäten jedoch in ihren Quellen. Nationale Identitäten bilden sich anhand eines historischen Gebiets oder einem Heimatland, einem gemeinsamen Geschichtsbewusstsein, sowie einer gemeinsamen Massenkultur, Rechten und einer Wirtschaft. (vgl. Prutsch 2017, 13)
Auf die Frage, was den inhaltlichen Kern der europäischen Identität bildet, können zwei Deutungsstränge herangezogen werden: Europa als „Werte- und Kulturgemeinschaft“ oder als „post-nationale Demokratie“, beide Ansichten können der Top-Down-Perspektive zugeordnet werden. Aus dieser Perspektive geht es um eine Bestimmung dessen, was als das Gemeinsame der politischen Gemeinschaft angesehen werden kann. Es wird eine Definition vorgenommen, die unabhängig von dem Realzustand ist. Dem gegenüber steht die Bottom-Up-Perspektive. Diese Sichtweise untersucht die europäische Identität auf der individuellen Ebene der Mitglieder der politischen Gemeinschaft. Es wird gefragt, wer, wie viel und womit sich der Einzelne identifiziert. Auf diese Art und Weise wird versucht, inhaltliche Aussagen zu bestimmen, die von vielen geteilt werden. (vgl. Schildberg 2008, 66f,)
Zum einen wird als inhaltlicher Kern einer europäischen Identität Europa als kulturelle Gemeinschaft gesehen. Auf Basis der damit verbundenen gemeinsamen Werten wird eine kulturelle Identität konstruiert. Diese Werte stammen aus einem vorpolitisch kulturellen Raum, der aus einem gemeinsamen (kulturellen) Erbe und gemeinsamen (historischen) Erfahrungen besteht. So ist die grundlegende Überlegung, dass die politische Gemeinschaft aus einem kulturellen Nährboden entsteht und die kollektive Identität aus einer gemeinsamen Sprache, Geschichte und/oder Kultur wächst.
Geteilte Werte garantieren den Zusammenhalt einer Gemeinschaft und bilden gleichzeitig die Basis für gemeinsames politisches Handeln. Die Stabilität und Umsetzung der Gemeinschaft ist somit abhängig von deren Eigenarten als eine kulturelle Gemeinschaft. So ist im Kontext der Europäischen Union eine historisch begründete, auf gemeinsamen Werten beruhende Identität ausschlaggebend für den Erfolg des europäischen Integrationsprojektes.
Diese Werte erfüllen eine doppelte Funktion, zum einen dienen sie als Ausgangspunkt für konkretes politisches Handeln, zum anderen als dessen Orientierungsrahmen. Das europäische kulturelle Erbe ist nicht nur Ausdruck einer kollektiven Identität, sondern dient auch als Quelle einer gemeinsamen Werteorientierung. (vgl. Prutsch 2017, 16) Folgt man dieser Ansicht, ist die europäische Identität eng an das Kulturkonzept gebunden und lässt sich nicht als eine Identität von oder für die Europäische Union identifizieren. Vielmehr soll gemeinsame Kultur und Geschichte ausreichen, um ein ausreichendes Maß an affektiver Bindung und Zusammenhalt der politischen Gemeinschaft sicherzustellen. In der Literatur wird diese Art der Identität oftmals auch als „dichte“ Identität bezeichnet, wohingegen die rational-universalistische als „dünne“ Identität beschrieben wird. (vgl. Schildberg 68, 2008)
Mit der Nennung dieser europäischen Werteidentität folgt sogleich die Kritik daran. Diese lässt sich vor allem in Anlehnung an nationale Identitätskonzepte finden, die die direkte Verbindung von Kultur, Herkunft und Politik betonen. Die Anwendung dieser Konzeption auf der europäischen Ebene müsse vor allem aufgrund ihrer national(istisch)en und partikularistischen Annahmen hinterfragt werden. Denn mit ebendiesen wurden Massengewalt, Völkermord und Ausgrenzung im 20. Jahrhundert auf europäischen Boden begründet, oder zumindest als wirkmächtiges Instrument der Legitimation verwendet.
Dieser Aspekt gilt als abschreckend genug, um ein ähnliches Modell für die Zukunft nicht anstreben zu wollen. Des Weiteren wird an dem Kern einer Wertegemeinschaft kritisiert, dass diese die Realität der Europäischen Union als eine transnationale und multikulturelle Gemeinschaft vernachlässige. Aufgrund dieser Kritikpunkte wurde ein alternatives Modell konzipiert, das die Vorstellung einer europäischen politischen Identität auf der Basis eines Verfassungspatriotismus vertritt. Dies ist jenes Konzept, das heute maßgeblich in den Debatten und der Politik dominiert. (vgl. Prutsch 2017, 17)
Das Konzept einer europäischen politischen Identität wurde maßgeblich zunächst von Jürgen Habermas vertreten und verbreitet. Der Verfassungspatriotismus beruht auf der Vorstellung, dass Menschen ein Gefühl der Verbundenheit mit liberalen demokratischen Institutionen entwickeln sollen, anstatt mit nationalen Kulturen. Der Begriff der Gruppenidentität wird somit neu ausgehandelt. Er zielt nicht mehr auf die kulturelle, ethnische Identifikation einer Person ab, sondern vielmehr auf die Bindekraft demokratischer Bürgerschaft.
Das Konzept gilt vor allem in modernen Staaten, die durch das Nebeneinander mehrerer sprachlicher und kultureller Gruppenidentitäten gekennzeichnet sind, als unverzichtbar. Dies gilt vor allem auch für die Europäische Union. (vgl. Prutsch 2017, 17) Habermas ist der Meinung, dass der Nationalismus als politisches Prinzip von künstlicher Natur sei und durch die Bewusstmachung dieser Gegebenheit die ethnisch-nationalen Wurzeln abgelöst und entpolitisiert werden könnten.
Demnach sind nach Habermas Kultur und Politik konzeptionell zu unterscheiden und unabhängig voneinander zu betrachten. Dabei sei das Politische dem Kulturellen überlegen. Überträgt man seine Sicht auf die europäische Identität, so bildet diese nicht die allgemeine (Mehrheits-)Kultur, sondern eine inklusive politische Kultur. Mit Hilfe dieser wird es den Mitgliedern aus kulturell unterschiedlichen Gesellschaften ermöglicht, eine gemeinsame kollektive Identität in einem neuen, post-nationalen Rahmen der Europäischen Union auszubilden. (Habermas 1998)
Es kann also gesagt werden, dass Habermas zwischen nationalen Kulturen und einer politischen Kultur unterscheidet. Die nationalen Kulturen stellen partikulare Bewusstseinsformationen und Werte dar, wohingegen die europäische politische Kultur auf der Basis von Bürgerrechten und politischer Partizipation konzipiert wird. Diese politische Identität stützt sich auf die liberal-demokratischen Werte und Prinzipien, die in der Verfassung festgehalten sind. Dabei stellen die politischen Institutionen und die Verfassung besondere Bezugspunkte für die Herausbildung von kollektiven Identitäten dar. Die Identifikation der Bürger*innen findet konkret im und durch den demokratischen Prozess statt. Interagieren Staatsbürger*innen im Rahmen einer politischen Öffentlichkeit, kann eine politische Gemeinschaft und eine Identität gebildet werden. (vgl. Schildberg 70, 2008)
Doch auch wenn dieses Konzept der Identitätsschaffung neutraler und umsetzbarer scheint, stößt es auch auf Kritik. Dabei berufen sich die Kritiker*innen auf das Argument, diese politische Identität, beruhend auf demokratische Institutionen und Verfahren, sei zu abstrakt und es würden keine emotionalen Elemente berücksichtigt werden. Hier wird vor allem auf eine fehlende Entwicklung der Verbundenheit unter den Mitgliedern der Gemeinschaft hingewiesen, die in der nationalen Identität und Identitätsbildung von Bedeutung sind.
Darüber hinaus wird die Darstellung des Verfassungspatriotismus als offenes und integrierendes Konzept in Frage gestellt. Bürger*innen, die diesen Rahmen ablehnen und sich nicht am demokratischen Prozess beteiligen, werden an die Ränder der politischen Gemeinschaft gedrängt. Außerdem fehle der Europäischen Union der Grundstein des Verfassungspatriotismus – der europäische öffentliche Raum. Zum einen fehlten europäische Medienkanäle, zum anderen bliebe die Politik der Europäischen Union und politische Aktivitäten oftmals bestimmt durch nationale Kontexte. Untermauert werde dies noch durch das Fehlen echter transeuropäischer Parteien, die sich in der Europawahl messen können. (vgl. Prutsch 2017, 18)
Gezeigt wurde somit, dass sowohl das kulturelle wie auch das politische Konzept der europäischen Identität an seine Grenzen stößt. Franzius und Preuß (2012) stellen in ihrem Aufsatz unter anderem in Frage, ob eine solche europäische Identität überhaupt ausgebildet werden muss, damit die Europäische Union legitimiert werden kann. Auch wenn sie für diese These keine generelle Zustimmung erwarten, sind sie jedoch deutlich darüber, dass ihnen die oben genannte Zweiteilung des Kerns einer europäischen Identität als fraglich erscheint.
Ihrer Meinung nach sucht die Union eine partikulare Identität im Rahmen universeller Prinzipien. Wird die europäische Identität als kulturell dichte, auf einer partikularen Vorstellung des guten Lebens beruhende Gemeinschaft verstanden, wäre die Schaffung einer gesellschaftlichen Einheit das Ziel. Jedes andere Streben könnte nach Franzius und Preuß keine Demokratie zulassen. So wäre die Europäische Union erst legitimiert, wenn die Bürger*innen ihr Handeln als „Ausdruck ihrer selbst“ (Franzius/Preuß 2012, 60) wahrnehmen würden.
Basiert die Konstruktion der europäischen Gemeinschaft auf einen Universalismus wie der Freiheit, Gleichheit, Neutralität, so dürften kulturelle Fragen in Politik und Recht der Europäischen Union nicht berücksichtigt werden. Die politische Identität basiere in diesem Fall auf gegenseitige Anerkennung der Bürger*innen als Mitbürger*innen. Diesen gegenüber wären die eigenen Interessen zu rechtfertigen und die anderen anzuhören. Die Grundlage dieser offenen Gemeinschaft wäre somit die Verpflichtung zu universalistischen Prinzipien.
Hinterfragt wird an dieser Stelle, ob eine solche Gemeinschaft schon als politische Gemeinschaft eingestuft werden kann. Vor allem da hier die Bereitschaft, den anderen nicht nur zu akzeptieren, sondern für sie auch Opfer zu bringen, wahrscheinlich eingeschränkt bleiben würde. So schlagen sie vor, auf dem Sonderweg zu bleiben, der von konstitutioneller Toleranz geleitet wird. Die Differenz der Anderen soll anerkannt werden und gleichzeitig soll die Differenz bewahrt bleiben, ohne danach zu streben die anderen zu seinem Eigenbild zu gestalten.
Trotzdem bleibt die Frage, ob dann eine kollektive Identität als Bedingung der Demokratisierung der Europäischen Union gesehen werden muss. Denn wie oben geschrieben, erkennen auch Franzius und Preuß an, dass Identitäten soziale Konstrukte sind und damit das Ergebnis eines politischen Diskurses. So kommen sie zu dem Schluss, dass weder eine europäische Identität allein von Werten geleitetet anzustreben ist, noch eine, die formal allein auf gemeinsame Rechte gestützt ist. Vielmehr muss es auf Grundlagen beruhen, die weniger sind als ein zivilisatorisches Projekt, aber mehr, als bloß den eigenen Vorteilen hinterher zu eifern. (vgl. Franzius/Preuß 2012, 57ff)
Weiterführend tragen Franzius und Preuß eine andere mögliche Quelle der Legitimation und des Wir-Bewusstseins vor: das Vertrauen untereinander. Dieses „Wir“ basiert nicht auf Homogenität oder kultureller Nähe, sondern weil mehr auf intensiven Austausch von Gütern, Dienstleitungen, Ideen und vielleicht sogar Empfindungen. So entsteht eine Transaktionsgemeinschaft und ein Transaktions-Wir. Auch dieses „Wir“ erzeugt Solidaritätspflichten, das auf die Anerkennung des Fremden fußt, diesen als respektierten Anderen anzusehen. Deshalb wird hier von einer „genuin zivilen Solidarität“ (Franzius/Preuß 2012, 64) gesprochen.
Dieser wechselseitige Respekt mündet in Vertrauen darauf, dass das eingeforderte Folgen von Beschlüssen der Europäischen Union, nicht dazu dient, eine politische Einheit herzustellen. Anstelle dessen steht allein ein möglichst schonender Ausgleich der Interessen im Fokus. Die Bereitschaft aufgrund anderer Mitgliedsstaaten zu verzichten, basiert so nicht auf einem Gefühl der Gemeinschaftlichkeit, sondern auf dem Verständnis, dass der Andere, so wie man selbst, ein gleichberechtigter Teil des europäischen Projektes ist.
An die Stelle von statischen Selbstzuschreibungen sollen Interaktionsprozesse treten, die eine Einbeziehung der Anderen erreicht. So kann das Vertrauen untereinander gestärkt werden. Um ein demokratisches Gebilde der Europäischen Union zu erreichen, ohne dass demokratische Staaten an demokratischer Substanz verlieren, muss dieser Argumentation zufolge ein neuer Aspekt als notwendige Bedingung demokratischer Legitimation angesehen werden: ein bündisches Wir. In diesem wird der Wir-Sie-Gegensatz und der Widerspruch von Selbst- und Fremdbestimmung überwunden.
Die demokratische Idee kann nicht alleine auf menschenrechtliches Verständnis reduziert werden, es erfordert mehr als bloße Garantie individueller Rechte, aber weniger als eine übergreifende kollektive Identität, das an Stelle der Mitgliedsstaaten tritt. Dem folgt eine paradoxe Situation: „Demokratische Legitimation wird durch die föderale Struktur verunklart und schwierig, gleichzeitig aber eben auch gesichert und ermöglicht.“ (Franzius/Preuß 2012, 67) Somit muss diese Konstruktion offengehalten werden, damit sich demokratische Strukturen herausbilden und festigen können. (Franzius/Preuß 2012, 60-67)
Es zeigt sich so, dass verschiedene Quellen der Identitätsschöpfung und damit einhergehend unterschiedliche Formen der Identitätsförderung von gemeinsamen Werten über eine gemeinsame Verfassung bis hin zu gegenseitiger Anerkennung und Vertrauen zur Debatte stehen. Eines haben die Ansätze jedoch gemeinsam, die Schaffung einer Identität soll auch die Schaffung des am Anfang als notwendig identifizierten Demos fördern. In der Literatur wird dieser als Grundbaustein zur Legitimierung und Demokratisierung der Europäischen Union angesehen.
Bevor im Weiteren dem theoretischem Teil der Rücken zugekehrt wird und gezeigt werden soll, wie die Entwicklung der europäischen Identität in der Gesellschaft zu verzeichnen ist und durch Politik gefördert wird, soll erst einmal die Frage beantwortet werden, ob eine solche Identität - und damit einhergehend, ein solcher Demos - tatsächlich entwickelt werden kann.
In der Debatte um die Entwicklung einer gemeinsamen Identität und eines Demos haben sich in der deutschen Literatur zwei Grundpositionen gebildet. Wie oben erwähnt, ist Scharpf (1997) einer der Vertreter der These, ein Demos könne nicht entstehen. Hierzu fehle die nötige europäische Öffentlichkeit sowie eine Zivilgesellschaft und eben eine europäische Identität.
Dass diese Elemente in Zukunft entstehen könnten, wird aus dieser Position heraus als fragwürdig eingestuft. Dieses Argument stützt sich auf die Annahme, dass ein europäisches Volk mit gemeinsamer Sprache, Tradition und Geschichte hierzu benötigt würde. Somit fehle der EU die Grundlage einer Input-Legitimation und dürfe aufgrund dessen nicht weiter demokratisiert werden. (vgl. Scharpf 1997, S.11ff)
Wiesner (2020) kritisiert die zeitliche Abfolge, dass die Bildung einer vorpolitischen europäischen Identität vor der Demokratisierung der Europäischen Union stattfinden müsse. Dies führt zum einen zu einem zirkularen Zusammenhang, der immerzu gegen eine weitere Demokratisierung spricht. Die fehlende Ausbildung eines Demos hätte eine ausbleibende Demokratisierung zur Folge. So gäbe es wiederrum keine demokratischen Aktivitäten und so auch keinen Demos - der Kreislauf würde wieder von vorne anfangen.
Diese von Scharpf angedeutete zeitliche Ordnung wird auch aus demokratietheoretischer Perspektive nicht für erforderlich gehalten. Hier wird allein betont, dass eine Demokratie einen Demos bräuchte. (vgl. Wiesner 2020, S.77) Die Position, dass ein Demos entstehen könnte, wird von Habermas vertreten. Dieser ist der Ansicht, dass eben durch Demokratisierung und daraus resultierenden demokratischen Praxis eine europäische Identität, Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft entstehen können und werden. (vgl. Habermas 1999, S.188-191)
Damit kommen wir zu empirischen Forschungsergebnissen. Diese können reale Anhaltspunkte geben, wie der Prozess aussehen kann. Dazu wurden verschiedene Untersuchungen zusammengetragen. Daten des Eurobarometers zeigten 2017, dass insgesamt die Zahl der Bürger*innen, die sich als Bürger*innen ihres Nationalstaates, aber auch als Europäer*innnen sehen, mit den Jahren stetig zunimmt.
Hinter dieser Entwicklung verbergen sich jedoch sehr unterschiedliche Trends innerhalb der Mitgliedsländer. (vgl. Ciaglia/Fuest/Heinemann 2018, 871) Dies könnte möglicherweise damit zusammenhängen, dass es unterschiedliche nationale Wahrnehmungen der Europäischen Union gibt. So wurde gezeigt, dass verschiedene Mitgliedsstaaten der Union stark voneinander abweichende Eigenschaften und Politikinhalte zuschreiben. (vgl. Wiesner 2020, 83)
Was deutlich wird, ist, dass die Identifikation mit der Union nicht gleichbedeutend mit der Unterstützung ist. So hat in Ländern mit EU-kritischen Regierungen und öffentlichen Debatten, wie in Polen und Ungarn, die Identifikation zugenommen. (vgl. Ciaglia/Fuest/Heinemann 2018, 3) Darüber hinaus sind individuelle Gegebenheiten nachweislich ausschlaggebend dafür, inwiefern Bürger*innen sich mit der Europäischen Union identifizieren und den politischen Handlungen zustimmen.
Ausschlaggebend ist hier unter anderem das Bildungsniveau der Person sowie das Wohlstandsniveau. Je höher beides ist, desto wahrscheinlich auch die Unterstützung der Union durch diese Person. (vgl. Wiesner 2020, 83) Ciaglia, Fuest und Heinemann (2018) haben weitere Faktoren erforscht, die ausschlaggebend sind, damit die Bürger*innen sich als Europäer*innen fühlen.
Auf der individuellen Ebene spielt die kognitive Mobilisierung eine große Rolle. Dazu gehören Bildung, vorhandenes EU-Wissen, ein Interesse und die Beteiligung an politischen Diskussionen. Transnationale Kontakte haben ebenfalls einen positiven Einfluss. Eine liberale und kosmopolitische Einstellung lässt sich mit einer stärkeren europäischen Identität verbinden. Dagegen fühlen sich pessimistische und ältere Menschen eher seltener als Europäer*innen.
Wird auf regionale und nationale Besonderheiten eingegangen, kann gezeigt werden, dass Menschen mit der Überzeugung, ihr Land profitiere von der europäischen Integration, eine stärkere europäische Identität aufzeigen. Werden die positiven Entwicklungen einer Wirtschaft unabhängig von der Union gesehen, können Sorgen aufkommen, da man diese mit den anderen Mitgliedsstaaten zu teilen hat.
Haben Menschen kein oder wenig Vertrauen in ihre nationale öffentliche Verwaltung, so identifizieren sie sich stärker mit der Europäischen Union. Dies ist mit der Hoffnung auf Änderung in dem Heimatland verbunden. Darüber hinaus sind auch das Vertrauen in die EU-Institutionen und die Meinung über Bürger*innen der Nachbarländer sowie das Gefühl von kultureller Nähe zu anderen Europäer*innen stark mit einer europäischen Identität verbunden. (vgl. Ciaglia/Fuest/Heinemann 2018, 872ff)
Diese und andere Ergebnisse zeigen, wo die Identitätspolitik ansetzen sollte, um eine legitimationsstiftende europäische Identität und somit einen Demos zu bilden. Dahingegen wird die Politik der Europäischen Union in der Literatur als eine beschriebene, die eher die Werte- und Symbolstrategie verfolgt.
1973 schon wurde das „Dokument über die Europäische Identität“ vorgelegt, das die Grundlage für mehr Gemeinschaftlichkeit bildete. Es wurde anerkannt, rechtliche, politische sowie geistige Werte zu sichern und die Vielfalt der Kulturen und erhalten. Außerdem wurde eine gemeinsame Gesellschaftsordnung vereinbart, die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gerechtigkeit und wirtschaftlichem Fortschritt basiert und die Menschenrechte achtet. All dies wurde als Fundament der europäischen Identität definiert.
Gemeinsamkeiten der Geschichte und Kultur werden in den Vordergrund gerückt. Ab 1983 sollte die europäische Identität noch einmal durch unterschiedliche Maßnahmen gestärkt werden. Eine engere Zusammenarbeit von Hochschulen, der Erfahrungsaustausch unter Jugendlichen und der Ausbau des Unterrichts in den Sprachen der Mitgliedsstaaten gehörten dazu. Ebenso wie die verbesserte Bildung von Kenntnissen über andere Mitgliedsstaaten und über die Geschichte und Kultur Europas. So sollte das europäische Bewusstsein gefördert werden. In diesem Schritt entstand beispielsweise das finanzstarke Förderprogramm Erasmus.
Bis heute hat sich das Ziel der Identitätspolitik nicht stark verändert und ist immer noch darauf fokussiert, vorhandene Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen und zu stärken. Durch die Reihe von europäischen Symbolen wurde diese Art der Bewusstmachung noch einmal verstärkt. Beispiele hierfür sind die Flagge, die Hymne, der Europatag und natürlich der Euro. (vgl. Leiße 2019, 8ff)
Die Unionsbürgerschaft, die mit dem Vertrag von Maastricht eingeführt wurde, ist ein weiteres Element des Prozesses der europäischen Identitätsbildung. Der Aufbau einer Öffentlichkeit und der einer gemeinsamen Zivilgesellschaft soll der Ausbildung eines Demos dienen. So wurde nicht nur eine symbolische Vernetzung der europäischen Gesellschaft geschaffen, sondern ihnen vor allem auch eine Funktionalität zugesprochen. Diese erlaubt unter anderem demokratisches Handeln, durch das aktive und passive Wahlrecht. (vgl. Schmale 2008, 174)
Unter anderem wurde außerdem eine Freiheit geschaffen, die es EU-Bürger*innen erlaubt, sich im gesamten Gebiet der Union frei zu bewegen und aufzuhalten. Dabei genießen sie die gleichen Rechte wie Staatsangehörige, zum Beispiel auf der Suche nach einer Wohnung. Dabei wird explizit betont, dass die Unionsbürgerschaft nicht die nationale Staatsbürgerschaft ersetzt, sondern viel mehr einen ergänzenden Charakter hat. Sie soll einerseits zwischen den Bürger*innen und andererseits zu der Europäischen Union ein enges Rechte- und Pflichtenverhältnis entstehen lassen. (vgl. Europäisches Parlament)
Kann eine solche Unionsbürgerschaft eine europäische Identität hervorbringen und der Union Legitimation stiften? Wie so oft lassen sich auch hier mehrere Argumentationsweisen finden. Die eine Sichtweise will den Status der Unionsbürgerschaft anreichern, da sie eben diese als Antwort auf die fehlende Legitimation sieht. Andere vergleichen den Status mit den starken nationalen Staatsangehörigkeiten, wohingegen die Unionsbürgerschaft wenig Bedeutung zugeschrieben wird.
Beide Aussagen können insofern miteinander verbunden werden, als sie sich an einem nationalstaatlichen Interpretationsschema festhalten, wenn sie über die europäische Identität sprechen. So blenden sie die föderale Dimension des Identitätsbegriffes in diesem Zusammenhang aus. Deutschland kann in diesem Zusammenhang als Beispiel angeführt werden. Hier war die Angehörigkeit zu einem Bundesland lange von hoher Bedeutung und so hatte sich eine gestufte Bürgerschaft gebildet. Es entstand ein Nebeneinander zweier politischer Ebenen, die miteinander verknüpft sind.
Denn verbinden sich Staaten, ohne dass sie aufgelöst werden, werden die Bürger*innen durch eine Bürgerschaft miteinander verbunden. So entsteht eine Dopplung von Angehörigkeit und Bürgerschaft. Obwohl die Europäische Union nicht als Staat zu bezeichnen ist, können Parallelen gezogen werden. Franzius und Preuß (2012) sehen hier den Grund für die schwache identitätspolitische Wirkung der Unionsbürgerschaft. Im Vordergrund steht der Schutz von individuellen Rechten, welcher die wechselseitige Anerkennung fördern und eine Legitimation durch Verbundenheit schaffen kann. Die Unionsbürgerschaft ist Ausdruck dieses Schutzes.
Dabei zeigt sich, dass die Sozialpolitik zum wesentlichen Teil in den Händen der Mitgliedsstaaten bleibt. Der staatliche Sozialverband wird geöffnet, indem Unionsbürger*innen in anderen Mitgliedstaaten wie Staatsangehörige angesehen werden. Die Unionsbürgerschaft bildet jedoch keinen neuen Solidarverband auf europäischer Ebene und hält so die vertikale Richtung einer Identitätsbildung zurück. Der vertikale Identitätsprozess beschreibt hier die Identifikation der Bürger*innen zur Systemebene und zur Regierung. Dem gegenüber steht der horizontale Identitätsprozess, in dem sich Bürger*innen gegenseitig als Mitglieder eines Demos ansehen.
Der letztere Prozess ist durch die Unionsbürgerschaft wie oben erläutert geschehen. Dieser führt jedoch nicht dazu, dass sich auf europäischer Ebene politisierte Identitäten bilden. Entstehen würden, so Franzius und Preuß, „Transaktionsgemeinschaften in besonderen gesellschaftlichen Feldern“ (Franzius/Preuß 2012, 71), zum Beispiel in Sportgemeinschaften. Diese sind in dem Sinne nicht spezifisch europäisch, haben jedoch Einfluss auf das Angehörigkeitsverhältnis in der EU, indem das gruppenbasierte transnationale Bewusstsein an Bedeutung gewinnt. Eine starke Solidargemeinschaft kann die Unionsbürgerschaft aber wohl kaum erschaffen. (vgl. Franzius/Preuß 2012, 69-72)
Kann also die Förderung einer europäischen Identität die „Heilung“ des Demokratiedefizits sein? Es wurde deutlich, dass dies zunächst davon abhängt, wo das Defizit gesehen wird. Dementsprechend kann eine kollektive Identität unterschiedliche Veränderungen mit sich bringen. Es zeigt sich jedoch, dass jede Art von Identitätsbildung einen positiven Einfluss auf den Demokratisierungsprozess hat.
Die Begriffsbestimmung der Identität und ihre Merkmale mit Bezug auf nationale Identitäten lässt jedoch erahnen, dass die Anfangsfrage durch die Komplexität des Themas nicht einfach bejaht oder verneint werden kann. Hier zeigt sich, dass das Konzept einer europäischen Identität aufgeladen ist mit Anforderungen an nationale Identitäten. Diese können jedoch schon aufgrund der unterschiedlichen Gegebenheiten nicht erfüllt werden.
Des Weiteren zeigen die unterschiedlichen Kerne einer europäischen Identität, auf welche Art der Identität der Fokus gelegt werden sollte. Ist der Kern der Identität ein nicht-politischer, würde auch eine europäische Identität nicht unmittelbar zu einer Demokratisierung führen. Denn hierzu benötigt es einen Demos. Dazu kommt die Frage, ob ein solcher Demos grundsätzlich gebildet werden könnte. Dieser Punkt zeigt, dass die Eingangsfrage möglicherweise einen Schritt zu weit geht. Die erste Frage wäre zunächst, ob eben eine europäische Identität, oder noch besser ein Demos herausgebildet werden kann.
Habermas und Scharpf haben hier ihre eigenen, entgegengesetzten Vorstellungen. Nimmt man die europäische Unionsbürgerschaft als Anhaltspunkt, kann festgehalten werden, dass aus der derzeitigen Identitätspolitik der Union eine europäische Identität oder ein Demos nur schwerlich entstehen können. Demgegenüber zeigen jedoch die vorgestellten Studienergebnisse, dass eine steigende Zahl der Bürger*innen der Mitgliedsstaaten sehr wohl eine Art der Identifikation mit der Europäischen Union vorweisen.
Die Geschichte zeigt, dass der Aufbau von Identitäten Zeit benötigt. Steht diese zur Verfügung, kann möglicherweise das Defizit mithilfe einer europäischen Identität geheilt werden. Trotzdem werden die bisherigen Handlungen der Identitätspolitik auch in Zukunft nicht ausreichen. Wird es hier keine Veränderungen geben, müssen andere Ansatzpunkte genutzt werden.
Literaturverzeichnis
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