In diesem Beitrag stellt Tanja Hofstätter folgenden Aufsatz vor:
Jürgen Gerhards / Michael Hoelscher (2003): Kulturelle Unterschiede zwischen Mitglieds- und Beitrittsländern der EU. Das Beispiel Familien- und Gleichberechtigungsvorstellungen; in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H.3, S. 206-225.
Seit jeher prägt der Beitritt neuer Staaten die Europäische Union, sie befindet sich in stetigem Wandel und sieht sich mit pluralen Interessen konfrontiert, bei denen es gilt, einen gemeinsamen Grundkonsens herauszufiltern.
Mittel- und Osteuropa sah sich in den Jahren 1989/90 mit politischen Umbrüchen konfrontiert, wodurch sich die Möglichkeit eröffnete, das gespaltene Europa zu vereinen. So nahm die Europäische Gemeinschaft Verhandlungen mit den Ländern Mittel- und Osteuropas auf und schloss sukzessive Handels- und Kooperationsabkommen ab. Im Jahr 2004 wurde dann die sog. „Osterweiterung“ vollzogen.
Zuvor einigte sich die EU in den 1993 beschlossenen "Kopenhagener Kriterien", dass künftige Beitrittsländer neben ökonomischen und politischen Kriterien auch die Ziele und Werte der Union teilen müssen (vgl. S. 206). Die Ausgestaltung des kulturellen Gemeinschaftslebens unterscheidet sich jedoch teilweise erheblich. So hat es sich der Artikel von Jürgen Gerhards und Martin Hoelscher zur Aufgabe gemacht, dieses kulturgesellschaftliche Leben näher zu untersuchen.
Im Mittelpunkt ihrer Analyse stehen dabei die jeweils länderspezifischen Vorstellungen von Familie und Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Die Untersuchung schließt folgende Länder mit ein:
- Mitgliedsländer der EU: Ostdeutschland, Westdeutschland, Schweden, Niederlande, Großbritannien, Italien, Irland, Spanien und Österreich;
- osteuropäische Länder, die im Zuge der Osterweiterung Teil der EU wurden: Slowenien, Tschechien, Polen und Ungarn.
Die EU gründete sich vor allem darauf, eine Wirtschaftsgemeinschaft zu errichten. So gilt generell, dass familiäre Angelegenheiten in der EU immer auch in einem wirtschaftlichen Kontext stehen. Mit ihren Regelungen wirkt die EU auf indirektem Weg auch auf die Familienpolitik ein und projiziert damit Ansichten eines für sie erstrebenswerten Familienbildes. Dieses untergliedert sich in drei Aspekte:
- Frauen und Männer besitzen beidseitig das Recht, gleichberechtigt berufstätig zu sein.
- Darüber hinaus sind beide Geschlechter gleichermaßen für den Haushalt verantwortlich.
- Um die Eigenständigkeit der Frau sicherstellen zu können, ist es außerdem notwendig, dass das gemeinsame Kind zumindest temporär in außerfamiliären Institutionen (z. B. einer Kindertagesstätte) versorgt wird (vgl. S. 211).
Es wird deutlich, dass die Familien- und Geschlechtervorstellungen der EU vor allem mit der geschlechtlichen Gleichstellung in der Erwerbstätigkeit zusammenhängen. So wurde bereits im Jahr 1957 in Artikel 119 im EWG-Vertrag festgelegt, dass Frauen und Männer für dieselbe Arbeit auch denselben Lohn bekommen sollen.
Damit wurde das Fundament für die Geschlechtergleichstellung gelegt, welche bis heute eine der Maximen der Europäischen Gemeinschaft darstellt. Durch entsprechende Regelungen und Gesetze, die für Frauen beispielsweise auf die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie abzielen, wurde dieser Grundsatz im Laufe der Zeit immer weiter spezifiziert. Entsprechende Leitlinien der EU sind von den Mitgliedsstaaten in den meisten Fällen im nationalen Recht verankert worden (vgl. S. 208-210).
Um nun aber die konkreten Familien- und Geschlechtervorstellungen der EU-Bürger herauszufinden, ist eine Befragung in den Beitritts- und Mitgliedsländern durchgeführt worden. Die anschließende vergleichende Betrachtung offenbart deutliche Unterschiede in Bezug auf die Auffassung zur Berufstätigkeit von Frauen. So wird in den Beitrittsländern weitestgehend an einem traditionellen Familienbild festgehalten und die Erwerbstätigkeit von Frauen nicht vollumfänglich befürwortet, während dies in den Mitgliedsländern mehrheitlich getan wird.
Auch in der Einstellung, wer daheim für die Hausarbeit verantwortlich ist, zeigen sich markante Unterschiede. So stimmen in den Mitgliedsländern durchschnittlich 28,5 % der Bevölkerung der Aussage zu: "Haushalt zu machen, ist die Aufgabe der Frau!", während in den Beitrittsländern Zustimmungswerte von 54,3 % erreicht werden.
Um eine Berufstätigkeit und Autonomie für Frauen zu ermöglichen, ist es notwendig, dass sie von der Kinderbetreuung zeitweise entlastet werden, so die Vorstellung der EU. In der vergleichenden Betrachtung wird deutlich, dass auch diese Ansicht stärker von den Mitgliedsstaaten geteilt wird, als von den Beitrittsländern, jedoch kann dieser Aspekt nicht so trennscharf unterteilt werden, wie in den vorherigen Punkten. So lässt sich feststellen, dass beispielsweise neben Ungarn und Polen auch in Westdeutschland und Österreich eine mutterzentrierte Erziehung präferiert wird.
Generell hat die Befragung jedoch verdeutlicht, dass signifikante Unterschiede hinsichtlich der Familien- und Geschlechtervorstellungen vorzufinden sind. Bilanzierend schreiben die beiden Autoren:
„Die Bürger der Länder Ost- und Mitteleuropas favorisieren in stärkerem Maße Vorstellungen einer bürgerlichen Kleinfamilie mit einer Trennung der Sphären von Mann (Beruf) und Frau (Haushalt und Kinder), während die Bürger der Mitgliedsländer das von den Institutionen der EU favorisierte Leitbild einer Familie unterstützen." (S. 214)
Auf politischer Ebene kann sich dieser Sachverhalt als potenzieller Konfliktfaktor in der Familien- und Geschlechterpolitik herauskristallisieren (vgl. S. 210-214).
Die Ursachen für diese Mentalitätsunterschiede sind komplex, jedoch filtern die Autoren drei für sie entscheidende Faktoren heraus. Erstens halten sie fest, dass in jenen Bevölkerungen, in denen ein Mangel an ökonomischem Wohlstand vorzufinden ist, postmaterialistische Werte einen deutlich geringeren gesellschaftlichen Stellenwert besitzen. Postmaterialistische Ansichten beinhalten unter anderem Grundsätze wie individuelle Unabhängigkeit, Selbstverwirklichung und die Gleichstellung der Geschlechter. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass in ärmeren Länder tendenziell eher Familienvorstellungen vorzufinden sind, welche nicht mit denen der EU konform gehen.
Zweitens hängen kulturelle Tradierungen eines Landes eng mit dem darin vorherrschenden Familienbild zusammen. Dabei beeinflussen religiöse Gemeinschaften mit ihren eigenen Norm- und Wertorientierungen kulturelle Traditionen in fundamentalem Ausmaß. Die Mehrheit der Bevölkerung in den Beitrittsländern schließt sich der katholischen Kirche an, welche im Vergleich zum Protestantismus ein wesentlich traditionelleres Familienbild mit klassischer Rollenverteilung vertritt. Durch einen solchen Hintergrund haben es Gleichberechtigungsvorstellungen deutlich schwerer, sich gesamtgesellschaftlich zu etablieren.
Drittens stellen die Autoren dar, dass auch auf politischer Ebene in den Ländern verschiedene Familienbilder beworben werden und durch sozialpolitische Regelungen entsprechend unterstützt werden. Historisch betrachtet herrschte in vielen Beitrittsländern lange der Staatsozialismus, bei welchem häufig beide Elternteile gleichberechtigt erwerbstätig waren. Bis heute lässt sich in diesen Ländern die sozialistische Tendenz zum "Doppelverdienermodell" feststellen, welches schlussendlich jedoch oftmals in einer Doppelbelastung der Frau resultiert (vgl. S. 215-218).
Eine anschließend von Gerhards und Hoelscher durchgeführte empirische Überprüfung der Klassifikation der Länder durch eine Diskriminanzanalyse hat folgendes Ergebnis erbracht:
„Die Klassifikation nach EU-Ländern und Beitrittsländern ist also im Hinblick auf die Familien- und Geschlechtervorstellungen eine empirisch bestätigte Klassifikation. Die Beitrittsländer unterscheiden sich signifikant und deutlich von den Mitgliedsländern der EU." (S. 219)
Die Autoren machen dafür vor allem die kulturelle Prägung der Beitrittsländer durch den Katholizismus und den geringen ökonomischen Wohlstand verantwortlich, wodurch verdeutlicht wird, wie prägend diese beiden Elemente auf die allgemeine Familien- und Geschlechtervorstellungen wirken (Vgl. S. 218-221).
Abschließend kann festgehalten werden, dass durch den verhältnismäßig geringen Stellenwert, den die Familien- und Geschlechterpolitik innerhalb der EU besitzt, es anzunehmen ist, dass aus den diesbezüglich unterschiedlichen Wertvorstellungen kein weitreichender politischer Konflikt entstehen wird. Trotz alledem ist es langfristig gesehen wichtig, dass sich die EU-Staaten auf einen Grundkonsens der Werte berufen können, um politische Legitimation sicherzustellen und die Solidaritätsbereitschaft der EU-Bürger zu gewährleisten (vgl. S. 221).
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