Donnerstag, 10. Juni 2021

EU-Kommission und Technokratie

In diesem Beitrag stellt Anna-Maria Hänßler folgenden Aufsatz vor:

Metz, Julia (2013): Die Expertengruppen der EU-Kommission und das Paradigma der Brüsseler Technokratie; in: Zeitschrift für Politikberatung (ZPB) / Policy Advice and Political Consulting 6, 1/2013, S. 15-23, online unter: http://www.jstor.org/stable/24235132.

Julia Metz thematisiert in ihrem Aufsatz die Kritik an einer technokratisch regierten EU. Dabei untersucht sie, welchen technokratischen Einfluss Expertengruppen auf das politische Vorgehen der EU-Kommission ausüben (Metz 2013, S. 16).

Gerade während der Eurokrise wurde Kritik an der elitären und intransparenten Politik der EU laut und bezog sich auf den Zwiespalt zwischen Technokratie und Demokratie (vgl. Metz 2013, S. 15, S. 22). Die Technokratie als Regierungsform basiert auf Expertenwissen, welches die Basis der Macht bildet. Im Gegensatz hierzu wird die Demokratie auf bürgerliche Partizipation aufgebaut. Demokratietheoretisch sind Expertengruppen, welche nicht vom Volk gewählt wurden, aber Einfluss auf die Politik ausüben, demnach sehr fragwürdig (vgl. Metz 2013, S. 15).

Aufgrund dessen, dass Entscheidungen auf supranationaler Ebene strukturell nicht ausreichend über bürgerliche Partizipation legitimiert sind, erwirbt die EU Legitimation hinsichtlich ihrer Entscheidungen über den Erfolg („Output-Legitimität“). Stoßen diese Entscheidungen allerdings auf Widerstand, wie während der Eurokrise, so zeigt sich ein Legitimitätsproblem (vgl. Metz 2013, S. 15).

Im Wesentlichen muss sich die EU-Kommission dieser Kritik stellen, da sie nicht im Besitz eines demokratischen Mandats ist. Sie „wird daher oft als Sinnbild einer technokratischen Institution gesehen“ (Metz 2013, S. 15). Diese Sachlage wird zunehmend durch das Hinzuziehen von externen Sachverständigen zur Problemlösung verstärkt und fördert den „Technokratieüberschuss“ (Kaube, 2012: 857 in Metz 2013, S. 15f.) der EU.

In den 1950er-Jahren wurde die EU-Kommission als technokratische Institution gegründet, deren Sachverstand sie zum Vorantreiben der europäischen Integration legitimieren sollte. Trotzdem bedient sich die EU-Kommission externen Fachwissens, da sie nur über eine geringe Anzahl an internen Experten verfügt. Ihre tägliche Arbeit wird daher von beinahe 1000 Expertengruppen unterstützt, die sowohl beim Gesetzgebungsverfahren als auch bei der Ausarbeitung von Vorschlägen beratend tätig werden und deren Autorität allein durch ihr Wissen zustande kommt (vgl. Metz 2013, S. 16).

Expertengruppen können also als elitär-technokratische Institution tituliert werden, was aber der Autorin nach „nicht mit technokratischem Regieren gleichzusetzen ist“ (Metz 2013, S. 16). Das bedeutet, dass das Nutzen von Expertenwissen nicht unbedingt die Politikhandlungen determinieren und damit auf einen technokratischen Politikprozess hinweisen muss. Metz spricht hierbei von drei unterschiedlichen Nutzungsweisen von Expertenwissen durch die EU-Kommission (vgl. Metz 2013, S. 16).

Erstens die technokratische Nutzung, die sich allein daraus ergibt, dass „in der EU [...] nicht Geld sondern Expertise die zentrale Steuerungsressource“ (Metz 2013, S. 17) ist. Expertengruppen dienen der EU-Kommission dazu, der steigenden Nachfrage nach Informationen, die durch stärkere Interdependenzen hervorgerufen wird, gerecht zu werden. Auch aufgrund der Tatsache, dass die EU-Kommission das EU Recht nicht in den Mitgliedstaaten selbst umsetzen kann, ist sie auf Experten aus den Mitgliedstaaten angewiesen. Die technokratische Nutzung der Expertengruppen geschieht gemäß der sachorientierten Problemlösung (vgl. Metz 2013, S. 17).

Die strategische Nutzung von Expertenwissen durch die EU-Kommission erfolgt vor allem im Gemenge von Akteuren während des Gesetzgebungsverfahrens. Gesetzesvorschläge werden nicht nur auf sachlicher Ebene, sondern vor allem auch politisch debattiert, was eine Rechtfertigung des Standpunktes der Kommission erfordert. Denn die EU-Kommission verfolgt eigene politische Standpunkte und Interessen, die von Experten sachlich untermauert werden müssen. Gerade wenn Entscheidungen sachorientiert dargestellt werden, handelt es sich um eine Taktik im Politikprozess, die sich unter „dem Deckmantel der Technokratie“ versteckt (Metz 2013, S. 17).

Drittens gibt es aber auch eine konsensorientierte Nutzung von Expertenwissen. Da hinter politischen Akteuren auf EU-Ebene keine garantierte Mehrheit verortet ist, funktioniert der Politikprozess nur über eine Konsensorientierung, in welcher die EU-Kommission als schlichtender Vermittler auftritt. Als supranationale Institution obliegt der EU-Kommission das Ausbalancieren verschiedener Standpunkte zwischen den Mitgliedstaaten, aber auch zwischen den gesetzgebenden Organen EU-Parlament und EU-Rat (vgl. Metz 2013, S. 17). In diesem Zusammenhang dienen Expertengruppen der vorgezogenen Konsensfindung für eine Gesetzesvorlage sowie dazu, Veto-Spieler zum Einlenken zu bewegen. Da Verwaltungsangestellte nationaler Ministerien heute teilweise den Expertengruppen angehören, später dann aber vielleicht dem Ministerrat, dienen diese Gruppen dazu, politische Standpunkte vor dem eigentlichen Gesetzgebungsverfahren abzusprechen (vgl. Metz 2013, S. 18).

In einer quantitativen Analyse untersucht Julia Metz, inwieweit sich Expertengruppen tatsächlich technokratischer Vorgehensweisen bedienen, indem sie einerseits die Anzahl bestehender Expertengruppen im Laufe der Zeit und damit in zunehmender Regulierungsdichte untersucht. Andererseits untersucht sie die Politikbereiche, in welchen die Experten verortet sind. Technokratisches Regieren müsste sich in einer höheren Anzahl an Expertengruppen mit zunehmender Regulierungsdichte sowie vermehrter Expertengruppenzahl in regulativen Politikfeldern niederschlagen (vgl. Metz 2013, S. 18).

Seit dem Jahr 2005 weist die EU-Kommission Informationen zu ihren Expertengruppen in einem Register aus. Aufgrund dieser Reform wurde die Definition von Expertengruppen im Jahr 2005 neu ausgearbeitet, ebenso wie im Jahr 2011. Alle Daten aus den Jahren zuvor wurden aus separaten Quellen bezogen (vgl. Metz 2013, S. 18).

Ungeachtet eines Ausreißers kann bis 2006 eine konstant ansteigende Nutzung von Expertengruppen nachgewiesen werden. Zwischen den Jahren 2007 und 2010 nimmt die Zahl der Expertengruppen wieder ab. Die Expertengruppenanzahl bis 2006 müsste demnach auf technokratisches Regieren hinweisen. Diese Annahme wird allerdings weiterführend nicht bestätigt, analysiert man die Verortung der Expertengruppen nach Politikbereichen heute. Nicht etwa in supranationalen Politikbereichen ist die Expertengruppen-Nutzung am höchsten, sondern in intergouvernementalen, koordinationsbedürftigen Politikbereichen (vgl. Metz 2013, S. 18f.).

Der Anstieg bis 2006 lässt sich nach Metz auf die ansteigende Politisierung der EU zurückführen (vgl. Metz 2013, S. 18). Aufgrund tiefer werdender Integration, die insbesondere durch den Vertrag von Maastricht befördert wurde, konnte sich die EU-Kommission längst nicht mehr auf die stille Zustimmung der EU-Bürger verlassen, was eine zunehmende strategische und konsensorientierte Nutzung von Experten nach sich zog (vgl. Metz 2013, S. 19).

Die nach 2006 sinkende Anzahl von Expertengruppen führt Metz auf eine interne Evaluation der EU-Kommission mit dem Ziel höherer Reliabilität, weniger Bürokratie und höherer Transparenz zurück. Dabei wurden nicht mehr genutzte Expertengruppen aus den Registern entfernt, was das Absinken der Zahl bis 2010 verursachte (vgl. Metz 2013, S. 19).

Weiter betrachtet Metz die Anzahl von Expertengruppen nach Politikfeldern. Um auf eine technokratische Nutzung hinzuweisen, müssten regulative Politikbereiche zahlenmäßig mehr Expertengruppen nutzen als distributive. Dies konnte aber nicht bestätigt werden. So finden sich Politikfelder mit sehr hohem distributivem Aufwand wie beispielsweise Landwirtschaft und Forschung zahlenmäßig in der Mitte anstatt am unteren Rand. Auch statistisch kann nur ein minimaler Zusammenhang zwischen den distributiven Politikfeldern und der Anzahl an Expertengruppen mit einem Korrelationskoeffizient von -0,0624 darauf hinweisen, dass distributive Politikfelder weniger auf Expertenwissen zurückgreifen (vgl. Metz 2013, S. 19). Nach dieser Analyse ergibt sich demnach nicht das Bild technokratischer Nutzung von Expertengruppen durch die EU-Kommission.

Weiter untersucht Metz qualitativ die Nutzung von Expertengruppen, indem 48 Gesetzesformulierungsprozesse auf der Basis empirischer Daten des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) analysiert werden (vgl. Metz 2013, S. 19). In 35 von 48 Fällen wurden externe Experten konsultiert (vgl. Metz 2013, S. 20). 66 Prozent dieser Konsultierungen war technokratischer Art, 51 Prozent strategischer Art und 26 Prozent wurden zur Konsensbildung genutzt.

Geschlussfolgert kann demnach werden, dass die EU-Kommission Experten zumeist technokratisch zur Informationsgenerierung nutzte, in fast allen dieser Gesetzesformulierungsprozesse aber gleichzeitig auch strategisch gebrauchte. Demnach fand vorwiegend sowohl eine technokratische als auch eine politische Verwendung von Expertenwissen statt (vgl. Metz 2013, S. 20).

Zu welcher Art von Nutzung die EU-Kommission Expertengruppen konsultiert, hängt von der Komplexität der Lage ab (vgl. Metz 2013, S. 21). Die politische Nutzung darf aber nicht mit einer demokratischen oder partizipatorischen Nutzung gleichgesetzt werden. Denn die Legitimationsbasis der Expertengruppen, auch wenn diese strategischen Nutzen bringen, bleibt ihre Expertise (vgl. Metz 2013, S. 22). Gerade diese Intransparenz wird im Hinblick auf die EU-Kommission kritisiert.

Dieses Urteil verschärft sich angesichts dessen, dass die EU-Kommission kein demokratisches Mandat erhält, ganz im Gegensatz zu nationalen Regierungen, welche ebenfalls die Beratung von externen Experten nutzen. Der technokratische Rahmen sollte trotz alledem nicht darüber hinwegtäuschen, dass die EU-Kommission nicht nur sachorientiert handelt, sondern ihre Handlungen stets an den jeweiligen Kontext angepasst sind (vgl. Metz 2013, S. 22).

Literatur

Kaube, Jürgen (2012): Technokratie und Managerherrschaft. Zur Theoriegeschichte eines schlimmen Verdachts, Merkur 66, Heft 760/61, S. 857-865.

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