Sonntag, 20. Juni 2021

EU und Corona-Pandemie

In diesem Beitrag stellt Raphael Conrad folgenden Text vor:

Müller, Michael (2020): Die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie; in: Weidenfeld, Werner / Wessels, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch der Europäischen Integration 2020, Nomos Verlagsgesellschaft, S. 59-68, online unter: https://doi.org/10.5771/9783748908432-59.

In seinem Jahrbuch-Beitrag stellt Manuel Müller (Senior Researcher am Institut für Europäische Politik in Berlin) die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie innerhalb der EU bis zum Ende des Jahres 2020 dar. Beleuchtet werden sowohl die Arbeitsweise der EU-Institutionen unter pandemischen Bedingungen als auch Entscheidungen und deren Auswirkungen auf verschiedene Politikbereiche.

Das Auftreten erster Corona-Fälle innerhalb der EU Mitte Februar 2020 sowie die unterschiedliche Ausbreitung mündeten in einer stabilisierenden Phase im Mai 2020, bevor die Fallzahlen ab Mitte 2020 wieder anstiegen. Trotz einer hohen Erwartung der Bevölkerung an die Europäische Union sieht Müller deren Handlungsspielraum nur als begrenzt an, denn angesichts der „schwachen supranationalen Kompetenzen in den Bereichen Gesundheitspolitik und Katastrophenschutz lag die Verantwortung [...] vor allem bei den Mitgliedsstaaten.“ (S. 59). Zu Beginn der Pandemie zeigte sich dies vor allem in der Abkapselung der einzelnen Staaten.

Die Covid-19-Pandemie hatte jedoch auch Auswirkungen auf die Arbeitsweise der EU-Institutionen selbst. Neben der Aktivierung des teilweisen (28.01.2020) bzw. vollständigen (02.03.2020) ‚EU-Krisenreaktionsmechanismus‘ (Integrated Political Crisis Responce, IPCR), der die Intensivierung des Informationsaustauschs und der Koordination der Mitgliedstaaten und der EU-Institutionen zur Folge hatte, verlagerte sich die Tätigkeit der Abgeordneten und der Mitarbeiter*innen vorübergehend nach Hause. Dies galt zum Teil auch für Abstimmungen. Aufgrund der Inpraktikabilität dieser Arbeitsweise wurde jedoch nach Möglichkeit versucht, wieder in Präsenz zu arbeiten.

In Bezug auf die Versorgung mit medizinischem Material zeigt Müller die gelingende Zusammenarbeit der EU anhand von Programmen zur Erforschung des Corona-Virus und einer Covid-19-Impfstoffe-Strategie der EU-Kommission, welche eine Vereinfachung des Zulassungsverfahrens sowie Abnahmegarantien für Impfstoffhersteller beinhaltete.

„Als weitaus weniger effizient erwiesen sich hingegen die Versuche der EU, die Krisenreaktion der Mitgliedstaaten zu koordinieren und insbesondere die Versorgung besonders betroffener Mitgliedstaaten mit medizinischem Material sicherzustellen.“ (S. 60f).

Auf die Infektionskontrolle und die Binnengrenzenschließungen ab März 2020, welche von den EU-Mitgliedsstaaten eigenständig und in unterschiedlichem Ausmaß durchgeführt wurden, reagierte die Europäische Kommission verspätet, indem sie Leitlinien veröffentlichte. Dies führte zwar dazu, dass der Warenverkehr aufrechterhalten werden konnte, eine einheitliche Strategie zur Grenzkontrolle gab es jedoch nicht. Müller hebt jedoch positiv hervor, dass im Juni 2020 auf Veranlassung von EU-Parlament und EU-Kommission die Kontrollen an den EU-Binnengrenzen weitestgehend aufgehoben wurden.

Große Auswirkungen hat die Covid-19-Pandemie in Müllers Augen auch auf die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Europäischen Union. In allen Mitgliedsstaaten kam es im Rahmen der Pandemie-Bekämpfung zu Einschränkungen von Grundrechten. Insgesamt, aber besonders mit Blick auf Polen und Ungarn stellte sich daher die Frage, „wie weit solche Ausnahmebestimmungen gehen konnten, ohne die gemeinsamen europäischen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien zu unterlaufen.“ (S. 62).

Während in Polen trotz Ausgangssperren Wahlen stattfinden sollten – die dann allerdings verschoben wurden – stattete sich die ungarische Regierung mit umfassenden Gesetzgebungsvollmachten aus. Eine gemeinsame Reaktion der EU-Institutionen blieb aus, das Europäische Parlament übte jedoch scharfe Kritik an beiden Ländern. Müller resümiert, dass die Maßnahmen den Regierungen in Ungarn und Polen zu mehr Kompetenzen verholfen haben.

Die oben beschriebene territoriale Abschottung fand jedoch nicht nur an den EU-Binnengrenzen, sondern verstärkt an den EU-Außengrenzen statt. „Im März 2020 vereinbarte der Europäische Rat auf Empfehlung der Europäischen Kommission eine weitgehende Schließung der EU-Außengrenzen für nicht in der EU wohnhafte Drittstaatsangehörige“ (S. 63), die im Juli 2020 schrittweise revidiert wurde. Gleichzeitig koordinierte die EU zu Beginn der Krise die Mitgliedsstaaten bei der Repatriierung ihrer Bürger*innen sowie in der EU wohnhaften Drittstaatenangehörigen.

Als herausfordernd beschreibt Müller die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die europäische Asylpolitik. Trotz der prekären Lage in den vollen Aufnahmelagern in Griechenland herrschte bei den Mitgliedsstaaten nur eine geringe Aufnahmebereitschaft zur Übernahme von (unbegleiteten, minderjährigen) Asylbewerber*innen.

Konjunkturpolitische Maßnahmen und der wirtschaftliche Wiederaufbau sind in Müllers Aufsatz zentral. Die Pandemie ließ eine massive wirtschaftliche Rezession in der EU erwarten, die in der Sommerprognose im Juli 2020 von der Europäischen Kommission mit 8,3 Prozent angegeben wurde (vgl. S. 64). Gegenmaßnahmen wurden bereits im März 2020 ergriffen, indem die EU eine Investitionsinitiative beschloss (37 Mrd. Euro), welche die Europäische Investitionsbank (EIB) um 40 Mrd. Euro erweiterte. Auch die Europäische Zentralbank (EZB) half Mitgliedstaaten und Unternehmen mit insgesamt 1,35 Bio. Euro.

Als Schwierigkeit beschreibt Müller jedoch die „asymmetrische Betroffenheit der Mitgliedstaaten.“ (S. 64), was sich sowohl auf die akute Situation als auch auf die ökonomischen Voraussetzungen vor der Krise bezieht und mit Blick auf die europäische Solidarität und die Stabilität des europäischen Binnenmarkts mit Sorge betrachtet wurde. Diese Ungleichheit führte zur Diskussion der finanziellen Lastenteilung, was innerhalb der EU zu Spannungen führte. Eine frühe Einigung wurde hingegen in den Bereichen der gesundheitspolitischen Maßnahmen, der Unternehmenshilfe und der Finanzierung der Kurzarbeit innerhalb der Mitgliedstaaten erreicht.

Grundsätzliche Einigkeit bestand zudem über die Einrichtung eines Wiederaufbaufonds, der in den mehrjährigen Finanzrahmen 2021-27 integriert werden sollte. Der mit ‚Next Generation EU‘ betitelte Fond umfasst 750 Mrd. Euro und setzt sich aus 390 Mrd. Euro Zuschüssen und 310 Mrd. Euro Kreditvolumen für die Mitgliedsstaaten zusammen.

„Um eine Einigung zu ermöglichen, verständigten sich die Regierungen zudem auf Kürzungen des mehrjährigen Finanzrahmens in anderen Politikbereichen und ließen auch die Frage einer Bindung von EU-Mitteln an die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitskriterien zunächst ungeklärt.“ (S. 66).

Die Krise wirkt sich auch auf die EU-Außenpolitik aus. Während die geringe Solidarität innerhalb der EU zu Beginn zu Hilfeleistungen aus Drittstaaten führte (z.B. Maskenlieferungen von China an Italien) und für Spannungen sorgten, verbesserte sich diese Situation nach Müllers Einschätzung stetig. Müller führt ebenfalls an, dass die Hilfen der EU an Nachbarstaaten höher waren, als die aus Russland oder China. In seiner Bilanz hält Müller überblicksartig fest:

„Soweit die EU-Institutionen eigene Kompetenzen besaßen, handelten sie meist schnell und zielführend. Allerdings war dies in den einschlägigen Politikbereichen in der Regel nicht der Fall.“ (S. 67).

Auf die Wahrnehmung der EU-Bürger*innen eingehend, zeigte sich in Studien, dass die EU einerseits als unbedeutend wahrgenommen wurde, auf der anderen Seite jedoch die „Notwendigkeit einer europäischen Integration“ (S. 67) für die Bürger*innen sichtbar wurde. Von Seiten der Institutionen wurde eine vertiefte Zusammenarbeit in der Gesundheitspolitik angestrebt, deren Umfang jedoch nach wie vor offen ist.

Besonders hebt Müller jedoch die ökonomische Zusammenarbeit hervor. So stellt ‚Next Generation EU‘, das oben beschriebene Aufbauelement, „sowohl in Hinsicht auf sein Volumen als auch auf das Instrument europäischer Schuldtitel [...] einen qualitativen Sprung der fiskalpolitischen Integration dar“ (S. 67), welcher in Müllers Augen auch als bedeutsames Zeichen der Solidarität gesehen werden kann.

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