In diesem Beitrag stellt Hannah Kraus folgenden Aufsatz vor:
Meyer, Dirk (2015): Flüchtlingskrise versus Eurokrise – ein Vergleich der politischen Handhabung; Ifo Schnelldienst, ifo Institut – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München, 68. Jahrgang, Ausgabe 21. S. 18-26, online unter: https://www.econstor.eu/bitstream/10419/165664/1/ifosd-v68-2015-i21-p18-26.pdf.
Zu Beginn führt Meyer in seinem Artikel ein Zitat einer Rede Jean-Claude Junckers im EU-Parlament zur Flüchtlingssituation von 2015 an: ‚Die Europäische Union ist in keinem guten Zustand.‘ Nach Juncker fehle es an Europa und an Union. Als zentrale Motive für diese Rede Junckers nennt Meyer die Stichworte mangelnde Solidarität und mangelnde Rechtstaatlichkeit. Diese Wertedefizite könne man ebenfalls auf die Euro-Rettungspolitik beziehen (S. 18). In seinem Artikel untersucht er die Unterschiede und Gemeinsamkeiten der politischen Handhabung in Bezug auf die Flüchtlings- und die Eurokrise.
Als Gemeinsamkeit der beiden Krisen nennt Meyer, dass beide Krisenauslöser außerhalb der Europäischen Union liegen. Die Euro-Staatsschuldenkrise nahm laut Meyer von der US-Hypothekenkrise ihren Ausgang und die Flüchtlingskrise sei u.a. durch Verfolgung und Krieg in anderen Staaten der Welt ausgelöst worden.
Als weitere Gemeinsamkeit nennt er, dass sich in beiden Krisen die institutionellen Gegebenheiten einer Bereichsintegration (in Gestalt der Währungsunion und in Gestalt eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems) als ungeeignet dafür herausstellten, den Belastungsanforderungen einer Krisensituation gerecht werden zu können (S. 18). Bezüglich beider Bereiche haben die Mitgliedstaaten nationale Kompetenzen abgegeben, „ohne dass die geschaffenen Integrationsinstrumente sie vor etwaigen zukünftigen Gefahren schützen konnten“ (S. 18).
Nationale Notwehrmaßnahmen als Reaktion der Mitgliedstaaten auf die Krisen bezeichnet Meyer daher als systemlogische, „aber einer Integration zuwiderlaufende, unrechtmäßige Reaktionen der betroffenen Mitgliedstaaten“ (S. 18). Bei beiden Krisen sieht Meyer Schwierigkeiten u.a. in den teilweise ungenauen „Spielräume eröffnenden Formulierungen“ (S. 19) von Verordnungen, Vereinbarungen und Verträgen, welche von den Mitgliedstaaten in nationalem Sinne interpretiert und angewendet werden sowie bezüglich dem Einstimmigkeitserfordernis und dem Willen der Mitgliedstaaten (S. 19).
Bei beiden Krisen wurden unterschiedliche Problemlösungsstrategien angewendet, bei denen sich eine eher differente Handhabung der beiden Krisen zeigt. Ein Gesichtspunkt ist dabei die Beratungsintensität. Meyer führt an, dass sich die EU-Gremien mit der Thematik Griechenland (10. Mai – 15. August 2015) in unterschiedlicher Zusammensetzung auf 17 Sitzungen befassten, während es bei der „Flüchtlingskrise“ (1. August – 30. Oktober 2015) nur insgesamt sieben Zusammenkünfte waren (S. 19).
Im Umgang mit der „Flüchtlingskrise“ erläutert er außerdem eine ungleiche Verteilung der Geflüchteten und führt weiter aus: „Die unterschiedliche Solidarität der Staaten mit den Flüchtlingen spiegelt sich in der (mangelnden) Solidarität der Staaten in der Lastenverteilung untereinander wider. Ihr Handeln ist Ausdruck einer Konfliktstrategie“ (S. 19). Einigen konnte man sich dahingehend zunächst lediglich auf einen Notfallplan (S. 20).
Meyer führt anschließend einige Erklärungsansätze für die unterschiedliche Handhabung der beiden Krisen an. Eine zentrale Rolle spielt für ihn dabei die Art des Gegenstandes, die Möglichkeit einer Kostenverschiebung sowie die Kostenverteilung. Er erklärt, dass die Art des Krisengegenstandes völlig unterschiedlich sei: „Während die Hilfen zur griechischen Staatsschuldenkrise weitgehend geldlich-abstrakt bleiben, sind die Lasten der Migranten für die Aufnahmeländer deren Bevölkerung real-konkret“ (S. 19-20). Die (finanziellen) Auswirkungen der „Flüchtlingskrise“ seien für die Bürger:innen spürbar, so z.B. in Veränderungen des Stadtbildes aufgrund des Baus von Turnhallen für die Notunterbringung von Geflüchteten (S. 21).
Der Unterschied in der Akzeptanz einer kostenträchtigen Krisenlösung resultiert für Meyer aus dem Aspekt der zeitlichen Kostenverlagerung (S. 21). Während Griechenland die erste Rate der Kredite für das erste Hilfspaket erst 2020 leisten musste, die Tilgung erst 2023 beginnt und 2041 bzw. 2057 endet und das Problem laut Meyer dabei „unmerklich sozialisiert“ wird, ließe die Thematik der Geflüchteten keine zeitliche Kostenverschiebung zu: „Die Ausgaben […] finden heute statt“ (S. 21).
Einen weiteren Unterschied in den beiden Krisen markiert für Meyer die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten. Während der Verteilungsschlüssel zur Griechenlandhilfe u.a. durch den ESM-Vertrag fest vorgegeben ist, sei die EU-weite Kostenverteilung bezüglich der Hilfe für Geflüchtete „völlig offen und zudem national beeinflussbar“ (S. 21).
Als einen weiteren Einflussfaktor sieht Meyer die Kompetenz der Bevölkerung hinsichtlich der zwei unterschiedliche Krisen bzw. Problematiken. Die Folgen der Eurokrise seien für den Großteil der Bürger:innen nicht wirklich greifbar, die Mechanismen der Krisenverursachung sowie mögliche Handlungsalternativen eher intransparent. Demgegenüber sei aber die „Flüchtlingskrise“ deutlich enger an ein durchaus manipulierbares Votum der Bürger:innen gebunden, „da das Krisenphänomen gut vermittelbar ist und mit den alternativen Lösungen der Politik vielfach eine kommunale, persönliche Betroffenheit verbunden ist“ (S. 21). Darüber hinaus machen die angefallenen Kosten und Nutzen die beiden Krisen unterschiedlich. Die Eurokrise stelle laut Meyer tendenziell eine Win-Win-Situation dar, während die „Flüchtlingskrise“ eher einer Win-lose-Situation gleichkäme (S. 21-22).
Was beide Krisen teilen, ist der Bruch des EU-Rechts. Nach Meyer fanden die ersten Euro-Rettungshilfen im rechtsfreien Raum statt und verstießen gegen den Geist des Lissabonner Vertrags, nämlich gegen das finanzielle Beistandsverbot. Dies wurde laut Meyer erst nachträglich durch die Einrichtung eines Notfall-Stabilitätsmechanismus legalisiert. In der „Flüchtlingskrise“ wurde, Meyer folgend, auf ähnliche Weise mehrfach gegen geltendes Verfassungsrecht (Schengener Abkommen) verstoßen (S. 22).
Insbesondere im Hinblick auf die „Flüchtlingskrise“ bezeichnet es Meyer als deutlich, dass die einzelnen Mitgliedstaaten ihre Selbstbindung an geltendes EU-Recht missachteten (S. 23). Für Meyer bedarf „eine Abkehr von einem regelgebundenen Handeln auf rechtstaatlicher Grundlage […] der besonderen Rechtfertigung einer nicht abwendbaren Notlage, die mit den bestehenden Regeln nicht beherrschbar bzw. lösbar ist“ (S. 23). Dies müsse jedoch die Ausnahme darstellen. Während man in der Euro-Rettungspolitik diese Ausnahme durch die Einführung des Stabilitätsmechanismus in den Vertrag von Lissabon rechtlich abgesichert hat, sah dies laut Meyer in der Handhabung der „Flüchtlingskrise“ durch die EU zumindest zunächst ganz anders aus (S. 23).
Schließlich haben die seitens der EU und der Mitgliedstaaten ergriffenen Maßnahmen zur Gefahrenabwehr laut Meyer drei wesentliche Folgen für die Grundsätze der politischen Verfassung. Im Bereich der Rechtstaatlichkeit führt Meyer an, dass dadurch, dass eine Krisenreaktion im Rahmen der bestehenden rechtlich-institutionellen Vorgaben nicht möglich war, rechtlich irreguläre Maßnahmen ergriffen wurden und dabei rechtswidrig gehandelt wurde, wenn ein Notfallmechanismus nicht zeitnah neu in das bestehende Rechtssystem eingeführt wird (S. 24).
Beim Grundsatz Demokratie nennt Meyer die Rolle des Parlaments, das hinsichtlich möglicher Folgen unter einen Zugzwang für Ausgabebewilligungen gerate, was die Regierung zuvor ohne rechtliche Grundlage „verursachen“ würde (S. 24-25). Desweiteren nennt Meyer eine Verschiebung in der Gewaltenteilung: „Die irregulären Notfallmaßnahmen werden von der Exekutive einzelner Mitgliedstaaten, der Kommission und des EU-Rates unter Zeitdruck beschlossen und ausgeführt“ (S. 25). Das hat laut Meyer zur Folge, dass die Parlamente häufig nur noch nachträglich das bereits vollzogene Handeln rechtlich einhegen und finanziell alimentieren können. Dies impliziere eine faktische Entmachtung der Legislative (S. 25).
Schließlich kommt Meyer zu dem Schluss, dass beide Krisen - die Euro- und die „Flüchtlingskrise“ - die Europäische Union vor eine Ausnahme- bzw. Notsituation stellen. Das EU-Recht sehe für solche Fälle keine oder nur ungenügende Regelungen vor, sodass die Europäische Kommission sowie die Mitgliedstaaten nur reaktiv und unter Zeitdruck handeln können. Die teils unterschiedlichen Handhabungen der beiden Krisen lassen sich zusammenfassend durch Meyer hinsichtlich der Merklichkeit der Kosten, einer zeitlichen Kostenverlagerung, des Kostenverteilungsschlüssels, der Problemkompetenz der Bürger:innen und hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Verteilung der beteiligten Akteure erklären. Beide Krisen würden jedoch rechtsstaatliche Gratwanderungen bis hin zu einem Bruch des EU-Rechts verbinden, was laut Meyer kein Ausdruck einer handlungsgestaltenden europäischen Werte- und Rechtsgemeinschaft darstelle (S. 25).
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