Dienstag, 29. Juni 2021

Demokratiedefizit und das Europäische Parlament

In diesem Beitrag stellt Dennis Schlesinger folgenden Text vor:

Ondarza, N. v., & Schenuit, F. (2018): Die Reform des Europäischen Parlaments: nach dem Brexit werden die Sitze neu verteilt - doch es bleibt (vorerst) bei einer kleinen Lösung; SWP-Aktuell, 11/2018, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik -SWP- Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, online unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-56693-4.

Das Europäische Parlament (EP) spielt in Bezug auf die nicht enden wollende Debatte über das Demokratiedefizit der EU eine paradoxe Rolle. Die Autoren des vorliegenden Aufsatzes haben sich zum Zeitpunkt des bevorstehenden Brexits mit möglichen Reformansätzen für die Zusammensetzung und Wahl des EP auseinandergesetzt. Sie thematisieren dabei vor allem den Umgang mit den 73 freiwerdenden britischen Parlamentsplätzen sowie mögliche Anpassungen der Wahlmodalitäten, um die Legitimation europäischer Politik zu erhöhen.

Obwohl es das einzige Organ der EU ist, das direkt durch Wähler*innen legitimiert wird, stellt das EP zugleich selbst einen Kernbereich des Demokratiedefizits der EU dar. Auch die Kompetenzerweiterungen für das EP im Laufe der Jahre konnten dieses Paradoxon nicht überwinden. Die Begründung von Ondarza und Schenuit (2018, S. 1) hierfür lautet wie folgt:

„[.] Noch immer ist die Europawahl eine Aneinanderreihung von nationalen Voten, deren europäische Legitimationskraft begrenzt bleibt. Gewählt werden von den Bürgern [*innen] nur nationale Parteien.“

Auch das 2014 eingeführte Spitzenkandidat*innenprinzip konnte die negative Entwicklung der Wahlbeteiligung nicht aufhalten. Zudem wurde dieses, wenn auch unter Staats- und Regierungschefs umstrittene, Prinzip bei den letzten Europawahlen durch die Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin ad absurdum geführt. Die Zeit berichtete 2019 gar von einer Täuschung der EU-Bürger*innen (Link zum Artikel).

Für die freiwerdenden Sitze durch den Austritt Großbritanniens beschreiben die Autoren drei mögliche Varianten. Aus ökonomischer Sicht bestünde demnach die Option, die Sitze einfach entfallen und damit die Anzahl der Mitglieder des EP (MdEP) schrumpfen zu lassen. Des Weiteren könnten die Sitze so zwischen den restlichen 27 Mitgliedstaaten verteilt werden, dass Ungleichheiten der Repräsentation, die durch das Prinzip der degressiven Proportion entstanden, reduziert werden. Die dritte Möglichkeit, einen zusätzlichen europäischen Wahlkreis über die Sitzverteilung nach Mitgliedstaaten hinaus zu schaffen, stellt zugleich einen zentralen Reformvorschlag dar (vgl. ebd., S. 2 f.).

Seit das EP 2009 durch den Vertrag von Lissabon weiter gestärkt wurde, versuchen die MdEP, Wahlrechtsreformen anzustoßen und durch den Rat zu bringen. Bislang jedoch ohne nennenswerte Erfolge, da eine grundlegende Reform und dauerhafte Regelungen auf die anstehende Wahl 2024 verschoben wurden. Wichtige Forderungen lauten:

  • Nennung europäischer Parteien (Fraktionen) auf den Wahlzetteln.
  • Harmonisierung nationaler Wahlrechte.
  • Schaffung eines gemeinsamen EU-Wahlkreises, der durch Spitzenkandidat*innen angeführt werden soll. (vgl. ebd., S. 3)

Befürworter*innen eines EU-Wahlkreises argumentieren, dass durch diesen „der europäische Charakter von EP-Wahlen gestärkt wird“ (ebd., S. 4). Es geht ihnen dabei um eine erhöhte Sichtbarkeit des Europawahlkampfes als solchen und den dadurch entstehenden Druck auf europäische Parteien, sich zumindest auf grundlegende gemeinsame Positionen einigen zu müssen. Wenn es um die Ausgestaltung des Vorhabens geht, ist aktuell der französische Präsident Emanuel Macron eine*r der radikalsten Unterstützer*innen. Ginge es nach ihm, so würden zukünftig rund die Hälfte der Sitze des EP durch den EU-Wahlkreis vergeben werden (vgl. ebd., S. 5). Doch würde dadurch tatsächlich das attestierte Demokratiedefizit der EU abgeschwächt werden?

Kritiker*innen konstatieren, dass durch die Reform zwar eine echte europäische Parteienkonkurrenz entstehen, das Problem der ungleichen Repräsentation jedoch nicht gelöst werden könnte (vgl. ebd., S. 5). Zudem besteht die Befürchtung einer künftigen Zweiklassengesellschaft an MdEP zwischen eben jenen, die über transnationale Listen, und denen, die über die Sitzverteilung der Mitgliedstaaten in das EP einziehen. Auch die ohnehin schon geringe Bindung zwischen Abgeordneten und Wahlbevölkerung könne weiter sinken (vgl. ebd., S. 5).

Dem halten die Autoren des Aufsatzes entgegen, dass durch eine Wahlrechtsreform transnationale Listen genutzt werden könnten,

„[…] um entlang der europaweit abgegebenen Zweitstimmen Ausgleichsmandate festzulegen und damit die Verzerrung aufgrund der degressiven Proportionalität auszugleichen.“ (ebd., S. 6)

Die entscheidende Hürde für die Pläne rund um einen EU-Wahlkreis stellt die notwendige Harmonisierung des EU-Wahlrechts dar. Ondarza und Schenuit (vgl. S. 7) definieren drei Bereiche, in denen das Europawahlrecht zwingend harmonisiert werden müsste:

  • Europäische Parteien müssten stärker mit Europawahlen verknüpft werden als das bisher der Fall ist. Sollten transnationale Listen für Ausgleichsmandate genutzt werden, würde dies eine klare Zuordnung der Zweitstimme zu den europäischen Parteien implizieren.
  • Schaffung einer einheitlichen Frist für die Registrierung von Kandidierenden.
  • Entscheidung über eine europaweit verbindliche Sperrklausel im Zuge der Wahlen.

Im abschließenden Abschnitt des Aufsatzes halten die Autoren fest, dass ein europäischer Wahlkreis zwar zur Europäisierung der Europawahlen beitragen könnte, jedoch kein Allheilmittel wäre. Sie sehen die größte Herausforderung in der Kombination aus hoher rechtlicher Komplexität, politischen Konflikten und knapper Zeit. Das Mindestziel sollte darin bestehen, einen Spielraum bei der Verteilung der britischen Sitze zu bewahren, um die Idee eines gemeinsamen EU-Wahlkreises im Zuge kommender Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen wieder aufgreifen zu können (vgl. ebd., S. 8).

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