In diesem Beitrag stellt Max Sperlich folgenden Aufsatz vor:
Kaelble, Hartmut (2013): Spirale nach unten oder produktive Krisen? Zur Geschichte politischer Entscheidungskrisen der europäischen Integration; in integration, Jahrgang 36, Heft 3, S. 169-182, online unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0720-5120-2013-3-169.pdf?download_full_pdf=1.
Anlässlich der seit 2007 andauernden Eurokrise schrieb Hartmut Kaelble 2013 einen Artikel zu den unterschiedlichen Krisen in der bisherigen Geschichte der Europäischen Union. Darin macht er Vorschläge zur Typisierung dieser Krisen, um sie einordnen und strukturieren zu können. Auf die Krisen gibt es unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten:
- Einige Beobachter sehen die Krisen der europäischen Integration als eine Abwärtsspirale, die sich immer weiter verstärkt, bis es zu einem Zusammenbruch der Währung oder sogar der Europäischen Union kommt.
- Andere glauben, dass schwere Krise die europäische Integration vorantreiben. Und „aus den bisherigen Krisen der europäischen Integration regelmäßig Integrationsfortschritte“ (S. 169) entstanden.
- Nach der zyklischen Vorstellung treten schwere Krisen alle 30 bis 40 Jahre auf. So muss jede Generation eine Krise überwinden und in eine neue Epoche eintreten (vgl. S. 169f).
Obwohl zahlreiche Krisen, vor allem der 1950er und 1960er Jahre, von Historikern und Politikwissenschaftlern untersucht wurden, gibt es bisher keine Untersuchungen, ob Krisen sich auf die europäische Integration positiv oder negativ auswirken. Ob sie zyklisch waren, ist ebenso unbekannt (vgl. S. 170f). Seit dem Zweiten Weltkrieg hat Europa viele Krisen durchlebt, zum Beispiel:
- die Krise Europas nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1951;
- die Krise nach der Ablehnung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft in der französischen Assemblée Nationale 1954;
- die Krise des leeren Stuhls 1965/66;
- das Scheitern der Pläne zu einer Wirtschafts- und Währungsunion und der politischen Union in den frühen 1970er Jahren und die darauffolgenden ‚bleiernen Jahre‘, eine Krise, die sich bis zur Eurosklerose der frühen 1980er Jahre hinschleppte;
- die durch die deutsche Einheit 1990 ausgelöste Krise und danach die Ratifizierungskrise des Vertrags von Maastricht 1992;
- die zeitlich parallele europäische Krise durch den jugoslawischen Bürgerkrieg 1991 bis 1995;
- die Krise des französischen und niederländischen ‚Neins‘ zum Verfassungsvertrag 2005;
- schließlich die Finanz- und Schuldenkrise seit 2007 (vgl. S. 170).
Jede Krise hat ihren eigenen Kontext und wird von den Beteiligten auf jeweils eigene Art interpretiert. Es lassen sich sechs Typen unterscheiden (vgl. S. 171f).
Krisenmanagement: Lokale Krisen können sowohl innerhalb als auch außerhalb der EU entstehen. Von der EU verlangt sie ein Krisenmanagement. Für die europäische Integration entsteht im Normalfall keine Krise. Bsp.: militärischer Konflikt zwischen Georgien und Russland 2008 (vgl. S. 172f).
Diplomatische Entscheidungsblockade: Grundsätzlicher Konflikt über die europäische Integration, beschränkt sich allerdings auf die Regierungen der Mitgliedsstaaten, deshalb ist es eine rein diplomatische Angelegenheit. Obwohl sie von der Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft nicht wahrgenommen wird, ist sie für die beteiligten Regierungen eine schwerwiegende Krise. Bsp.: Krise des leeren Stuhls 1965/66 (vgl. S. 173).
Konflikte zwischen Regierungen und mobilisierter Öffentlichkeit: Konflikt um grundlegende europäische Entscheidungen zwischen Regierungen und der mobilisierten Öffentlichkeit. Involviert sind die europäischen Regierungen, aber auch die Öffentlichkeit, die Medien, Experten und die Zivilgesellschaft. Der Krisentyp ist rein politisch und meistens nur auf Europa beschränkt. Bsp.: Dissens über die deutsche Einheit und über die europäische Einbindung des vereinten Deutschlands (vgl. S. 173f).
Wirtschaftliche und kulturelle Umbrüche: Krise zwischen den Regierungen der Mitgliedsstaaten und der tief gespaltenen Öffentlichkeit. Gleichzeitig wird der Konflikt durch wirtschaftliche und kulturelle Umbrüche beeinflusst. Regierungen und die Öffentlichkeit stehen vor einer neuen Situation und sind gezwungen, ihr Selbstverständnis und ihre politischen Konzepte grundlegend zu ändern. Bsp.: Krise nach der gescheiterten Norderweiterung und die Ölkrise 1973 (vgl. S. 174f).
Globale Entscheidungskrise: Europäische und außereuropäische Staaten und Öffentlichkeiten sind von dieser Krise betroffen und gespalten. Sie versuchen Einfluss auf die europäischen Entscheidungen und auf die europäische Öffentlichkeit zu nehmen. Bsp.: Finanz- und Schuldenkrise seit 2007 (vgl. S. 175).
Zivilisationskrise: Diese Krise ist die schwerste Variante für die europäische Integration. „Sie ist vielmehr eine fundamentale Krise des gesamten wirtschaftlichen und politischen Systems, ein tiefgehender, gesellschaftliche und kultureller Verfall mit der Gefahr der Auflösung der politischen und gesellschaftlichen Werte und überhaupt des Bestandes Europas.“ (S. 176) Die Krise wird von der Öffentlichkeit in ihrem ganzen Ausmaß wahrgenommen. Bsp.: Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (vgl. S. 176).
Im Artikel von Kaelble werden die Krisen als politische Entscheidungskrisen verstanden. „Wie groß die Reichweite einer Krise war und welchem Typ sie damit angehörte, hing vor allem von drei Bedingungen ab […].“ (S. 172):
- Ob sich die Entscheidungsblockade auf die Regierungsebene der Mitgliedstaaten beschränkt, oder ob auch die nationalen und europäischen Öffentlichkeiten beteiligt sind.
- Ob es sich um eine rein politische Krise handelt oder ob die Krise mit wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Umbrüchen einhergeht.
- Ob sich die Krise auf Europa beschränkt oder ob auch außereuropäische Mächte und Öffentlichkeiten beteiligt sind (vgl. S. 172).
Es gibt fünf Faktoten, die bei allen europäischen Krisen der vergangenen 60 Jahre beobachtet werden konnten (vgl. S. 179).
- Von der Mehrheit der europäischen Bürger wird die europäische Integration als positiv gesehen. Die Unterstützung hängt zwar stark von den jeweiligen Mitgliedstaaten ab und verändert sich im Laufe der Zeit. „Aber auch in Krisenzeiten blieben die Unterstützer der Europäischen Union als Ganzes immer zahlreicher als die Gegner […].“ (S. 180).
- Die europäische Integration wird von der großen Mehrheit der politischen Elite, den Intellektuellen, Interessenverbänden, Zivilgesellschaften, … unterstützt. Der Kreis derer, die an europäischen Entscheidungen und Kompromissen beteiligt sind, wächst stetig.
- Die lang eingespielte deutsch-französische Zusammenarbeit ist zwar von Höhen und Tiefen geprägt, aber war bei Krisen in der europäischen Integration von großem Vorteil. Bei schwierigen Kompromissen konnten sich andere Mitgliedsländer oft an diesen beiden Ländern orientieren.
- Die EU bietet die Chance, Probleme anzugehen, die auf nationaler Ebene kaum lösbar wären. Zum Beispiel, Umwelt, Kriminalität, Sicherheit, …
- Trotz aller Mängel und Fehlentscheidungen kann die Europäische Union auf eine Reihe von positiven Errungenschaften verweisen. „Sie trieb nicht nur die wirtschaftliche Verflechtung zwischen den Mitgliedsstaaten voran […]. Sie konnte auch in […] internationalen Themenfeldern mehr erreichen als ein mittelgroßer oder kleiner europäischer Staat“ (S. 181). allein. So sichert sie Europa einen globalen Einfluss (vgl. S. 180f).
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