Mittwoch, 16. Juni 2021

Zukunftsdebatte in der EU

In diesem Beitrag stellt Tanja Achtelik folgenden Aufsatz vor:

Müller-Brandeck-Bocquet, Gisela (2019): Zukunftsdebatten in der EU. Großer Wurf oder kleinteilige Reformvorschläge?; in: APuZ 4-5/2019, S. 19-25, online unter: https://www.bpb.de/apuz/283971/zukunftsdebatten-in-der-eu?p=all.

Die Polykrise war ein Tiefpunkt der Europäischen Union und führte zu vielschichtigen Diskussionen über die Zukunft, vor allem sollten „neue Horizonte für das europäische Integrationsprojekt“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019) aufgezeigt werden. Der Aufstieg von EU-feindlichen Parteien, der Brexit und „breitgefächerte Angriffe auf die uns bekannte multilaterale Weltordnung“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019) zwangen die EU, ihren „Überlebenswillen“ zu entfalten und die Bürger*innen der EU von ihrer Unverzichtbarkeit zu überzeugen. In der Rede zur Lage der Union im Jahre 2016 sprach Kommissionspräsident Juncker von der Notwendigkeit einer langfristigen Vision in Bezug auf die europäische Zukunft.

„Die aktuellen Zukunftsdebatten in der EU weisen eine große intentionale Bandbreite auf, sie reichen von geradezu visionären Entwürfen bis hin zu kleinteiligen, aber notwendigen Reformvorschlägen, sie stehen sowohl für ambitionierte Aufbruchsszenarien als auch für pragmatische Weiterentwicklungen.“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019)

Am 1. März 2017 erschien kurz vor dem 60. Jahrestag der Römischen Verträge das "Weißbuch zur Zukunft Europas“, worin „fünf Szenarien für Europa im Jahr 2025“ vorgestellt wurden. Das Weißbuch möchte einen Prozess anstoßen, in dem nicht die Kommission ihre eigenen Präferenzen äußert, sondern „Europa selbst darüber entscheidet, welchen Weg es künftig einschlagen wird“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019).

Unklarheiten sind jedoch die Gleichstellung von „Europa“ und „EU“ „sowie die Prämisse, dass ‚die 27 Mitgliedstaaten gemeinsam als Union voranschreiten‘" (Müller-Brandeck-Bocquet 2019). Ein weiterer Punkt, welcher immer wieder kritisiert wird, sind Überschneidungen der Szenarien, welche nie klar voneinander abgrenzbar sein werden, da es gemeinsame Grundsätze und Ziele gibt, welche einzuhalten sind. Die „fünf Szenarien für Europa“ beinhalteten folgendes:

  • Szenario 1 "Weiter wie bisher": Es sollte an den Umsetzung der derzeitigen Reformagenda festgehalten werden. Kritik gab es für die Bezeichnung „wie bisher“, da die Reformagenda „ein ‘bloßes ‚Weiter so‘“ deutlich überschritt.
  • Szenario 2 „Schwerpunkt Binnenmarkt“: Dies “fällt hinter den Anspruch, Zukunft anleiten zu wollen, klar zurück und deckt den heutigen Integrationsstand der EU nicht ab.“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019)
  • Szenario 3 stellte ein Modell Europas mit verschiedenen Geschwindigkeiten vor – „wer mehr will, tut mehr“. Dazu könnten „Bereiche wie Verteidigung, innere Sicherheit, Steuern oder Soziales" gehören. Dieses Szenario greift das Modell der flexiblen Integration auf, welches in den zurückliegenden Jahren breit diskutiert wurde.
  • Szenario 4 "Weniger, aber effizienter", eine „klare Fokussierung des EU-Handelns“. Die Schwerpunkte sollten auf „Innovation, Handel, Sicherheit, Migration, Grenzmanagement und Verteidigung“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019) gelegt werden.
  • Szenario 5 war laut dem Weißbuch das „ehrgeizigste der fünf Szenarien; es deckt den ‘gemeinsamen Sprung nach vorne‘ ab“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019). Gefordert wurde „viel mehr gemeinsames Handeln“ was voraussetzt „dass die Mitgliedstaaten bereit sind, "in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen zu teilen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen."

Nach der Veröffentlichung begannen die Bürgerdialoge europaweit, welche auf verschiedene Weisen vollzogen wurden – von regionalen Debatten bis hin zu Facebook-Liveschaltungen. Zu zentralen Leitfragen des deutschen Bürgerdialogs gehörten: „Wie erleben Sie Europa in Ihrem Alltag? Welche Rolle spielt Europa für Deutschland insgesamt? Wie sollte Europa in Zukunft aussehen?“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019). Die Resultate der Bürgerdialoge waren unter anderem der Wunsch nach einem außenpolitisch starken, sicheren und schützenden Europa sowie dass „Binnenmarkt und Euro den Wohlstand erhalten sollen“. (Müller-Brandeck-Bocquet 2019)

Die Kritikpunkte der europäischen Bevölkerung wurden zusammengefasst und kamen unter anderen zu dem Ergebnis, dass „viele ‘das Fehlen einer klaren Vision und von Führungsstärke als Aspekte genannt [haben], die die Entwicklung in der EU bremsen". (Müller-Brandeck-Bocquet 2019)

Viele Zukunftsdebatten kommen jedoch nicht mehr vom Weißbuch, sondern sind inspiriert von Emmanuel Macron. Dieser hielt im Herbst 2017 eine Rede zur Vision einer "europäischen Souveränität". Er lieferte einen klaren Kurs mit konkreten Vorschlägen und bezieht in seine Vision die Herausforderungen der Polykrise mit ein.

„Diese europäische Souveränität möchte Macron auf sechs Pfeilern aufbauen: auf einer starken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, einer effektiven und zugleich humanen Migrationspolitik, einer auf Afrika fokussierten partnerschaftlichen Entwicklungspolitik, einer auf Nachhaltigkeit abzielenden Vorreiterrolle in der Umwelt und Klimapolitik, der aktiven Gestaltung der Digitalisierung sowie der Konsolidierung und Stärkung der Wirtschafts-, Industrie- und Währungsmacht der EU.“

Macron sprach sich „etwas verklausuliert für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten aus, dessen Fliehkräfte für die Einheit der EU er durch Solidarität und die Stärkung des kulturellen Zusammenhalts auffangen möchte.“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019)

Beim Gipfeltreffen im Sommer 2018 wurden Zukunftspläne auf „praktikable Einzelprojekte heruntergebrochen“ und an einem Konsens gearbeitet, um Wege zu finden, welche Fortschritte für die EU bringen könnten. Die Zukunftssicherung der EU sei „weiterhin eine schwierige, äußerst mühsame und kleinteilige Aufgabe, die vor allem Deutschland und Frankreich mehr Gemeinsamkeit abverlangt.“ (Müller-Brandeck-Bocquet 2019)

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