Mittwoch, 30. Juni 2021

Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus

In diesem Beitrag stellt Helin Tufan folgenden Aufsatz vor:

Scharpf, Fritz W. (1992): Europäisches Demokratiedefizit und deutscher Föderalismus; in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 3(3), S. 293-306, online unter: https://pure.mpg.de/rest/items/item_3232354/component/file_3239627/content.

In seinem Artikel schreibt Fritz W. Scharpf bereits im Jahr 1992 über das europäische Demokratiedefizit und den damit zusammenhängenden deutschen Föderalismus. Dabei geht er zunächst auf das Grundgesetz und die europäische Integration ein, daraufhin auf das Demokratiedefizit und die Handlungsfähigkeit der Politik, auf die Mitwirkungsrechte der Länder und zuletzt auch auf die Frage einer Erosion oder Reform des deutschen Föderalismus.

Scharpf erklärt zu Beginn, dass im Zusammenhang mit der Ratifizierung des Maastrichter Vertrags die Vereinbarkeit weiterer Kompetenzübertragungen mit einer die Verfassungsprinzipien schützenden „Struktursicherungsklausel“ gefordert werden sollte (vgl. Scharpf 1992, S. 293). Adressaten einer solchen Klausel sollten nur die Träger deutscher Staatsgewalt sein, die entweder im Sinne einer Bemühenspflicht angehalten werden, denen im Sinne einer Unterlassungspflicht aufgegeben wird, künftige Kompetenzübertragungen und Vertragsergänzungen zu verweigern oder die schließlich im Sinne einer Verhinderungspflicht die Ausübung europäischer Kompetenzen und die Anwendung europäischen Rechts auf deutschem Boden zu unterbinden hätten.

Laut Scharpf erscheint von diesen drei möglichen Zielsetzungen einer Struktursicherungsklausel nur die erste unproblematisch und fast selbstverständlich (vgl. Scharpf 1992, S. 293). Während sich bei den Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und des Grundrechtsschutzes keine Schwierigkeiten ergeben, liegt die Sache beim Sozialstaatsprinzip anders.

„Angesichts der extremen Heterogenität der sozialen Sicherungssysteme und der Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der extremen Unterschiede im Stand ihrer wirtschaftlichen Entwicklung wäre ein Sozialstaat nach deutschem Muster auf der europäischen Ebene auf lange Zeit hinaus völlig undenkbar“ (Scharpf 1992, S. 294).

Was man also bestenfalls durchsetzen könnte, sei die Respektierung der gegebenen Heterogenität subnationaler Institutionen in den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (vgl. Scharpf 1992, S. 295). Im weiteren Verlauf seines Artikels geht Scharpf auf das Kernproblem einer verfassungsrechtlichen Struktursicherung ein, das seiner Meinung nach beim Demokratieprinzip liegt.

„Die demokratische Legitimation erfordert mehr als die Anwendung parlamentarischer Mehrheitsregeln. Sie verlangt, dass es der jeweils unterlegenen Minderheit mit guten Gründen zugemutet werden kann, die Mehrheitsentscheidung ohne Widerstand als auch für sie gültig zu akzeptieren. Dass dies auch in etablierten Staaten keineswegs selbstverständlich ist, zeigen die akuten Verfassungskonflikte in verschiedenen Mitgliedsstaaten“ (Scharpf 1992, S. 296).

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes hatte es in der bisherigen Geschichte noch keine demokratische Legitimität oberhalb der Ebene des Nationalstaates gegeben. Das kann und sollte sich aber im Prozess der europäischen Einigung ändern. Denn zu dieser Zeit wäre unter den Umständen ein bloßes Mehrheitsvotum im Europäischen Parlament für die jeweils unterlegene Seite ohne Legitimationswirkung.

„Aber unmittelbarer Anlass zur Sorge ist nicht der Mangel an Demokratie, sondern die zu geringe Handlungsfähigkeit der allein auf die Verträge und die quasi-einstimmige Zustimmung der nationalen Regierungen im Rat gestützten europäischen Entscheidungsstrukturen“ (Scharpf 1992, S. 297).

Außerdem stoße die indirekt-demokratische Legitimation an praktische Grenzen, wenn die Regel einstimmiger oder fast einstimmiger Entscheidungen nicht mehr die notwendige politische Handlungsfähigkeit sichern kann und mit dem Wegfall der Schranken für den grenzüberschreitenden Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen die nationalen Regierungen und Parlamente in weiten Bereichen die faktische Fähigkeit verlieren, im nationalen Rahmen auftretende Probleme auch mit nationalen Maßnahmen zu lösen. In dem Maße, wie die Nationalstaaten ihre Problemlösungsfähigkeit einbüßen, werden sie also abhängig von der Handlungsfähigkeit der europäischen Politik (Scharpf 1992, S. 298).

Daran anknüpfend behandelt Scharpf die Mitwirkungsrechte der Länder, indem er erklärt, dass die deutschen Länder durch den Prozess der europäischen Vereinigung Kompetenzen, Einflussrechte und Handlungsspielräume verloren haben und weiter verlieren werden, da das sekundäre Gemeinschaftsrecht keine Rücksicht auf die von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche innerstaatliche Allokation der in Anspruch genommenen Kompetenzen nehmen kann (vgl. Scharpf 1992, S. 300).

Von besonderer Bedeutung scheint für Scharpf die Forderung der Länder, eigene Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche oder interregionale Einrichtungen übertragen zu dürfen, denn angesichts der Schwierigkeiten der europäischen Willensbildung erscheinen alle Versuche, grenzüberschreitende Probleme durch Vereinbarungen und Institutionen unterhalb der zentralen Ebene zu regeln, grundsätzlich begrüßenswert.

Zuletzt erläutert Scharpf die Frage, ob es sich nun um eine Erosion oder eine Reform des deutschen Föderalismus handelt. Hierbei geht er auf folgende Punkte ein:

„Das Fazit der bisherigen Überlegungen muss aus der Sicht der deutschen Länder außerordentlich unbefriedigend erscheinen. Während ihre Einflussverluste nicht zu bestreiten sind, sind die diskutierten Abhilfen in ihrer wahrscheinlichen Wirkung teils kontraproduktiv, teils ungewiss oder vom Ausgang künftiger Verhandlungen auf der europäischen Ebene abhängig - und auch im günstigsten Falle scheinen sie kaum geeignet, den deutschen Ländern wieder zu ihrem in den sechziger und siebziger Jahren erreichten politischen Gewicht zu verhelfen“ (Scharpf 1992, S. 303).

Außerdem kommen die Folgewirkungen der deutschen Vereinigung, welche die Position der Länder noch stärker beeinträchtigen, hinzu (vgl. Scharpf 1992, S. 303). Trotzdem könnte man, was ihnen an Einfluss auf die zentralstaatliche Gesetzgebung verloren gegangen ist, als größere Eigenständigkeit der Landespolitik und Landesverwaltung wieder zurückgewinnen.

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