Montag, 14. Juni 2021

Großwetterlage in der Polykrise

In diesem Beitrag stellt Leon Maier folgenden Aufsatz vor:

Altmann, Franz-Lothar (2017): Europäisches Miteinander in Zeiten der Poly-Krise; in: Der Donauraum 57 (1), S. 11-16, online unter: https://www.vr-elibrary.de/doi/abs/10.7767/dedo.2017.57.1.11.

„Der vorliegende Beitrag versucht, die derzeitige „politische Großwetterlage“ in Europa anzusprechen und in Form eines Ausblicks auch einen gewissen Bezug zur EU-Strategie für den Donauraum (EUSDR) zu konstruieren.“ (S. 11)

Der Autor thematisiert zunächst die verschiedenen Krisen, welche im Zusammenhang mit der Europäischen Union stehen. Die Eurokrise sei eine Nord-Süd-Finanzkrise, von welcher man hoffe, sie sei überwunden: „… eine Hoffnung, die zumindest beim Blick auf Griechenland und auch auf Italien nur beschränkt gerechtfertigt scheint“ (S. 11).

Die Ost-West-Krise sei eine weitere Krise, welche sich mit Hilfe von Himmelsrichtungen beschreiben lasse. Der Osten verweigere eingeforderte Solidarität. Hieraus habe sich eine Rechtskrise innerhalb der EU entwickelt. In Zusammenhang mit der Rechtskrise stehe auch die Flüchtlingskrise, welche als Katalysator für den Rechtspopulismus gilt.

„Rechtspopulismus hat sich in den Visegrád-Staaten ausgebreitet, Extremismus und Xenophobie vereint mit Rassismus finden wir allerdings nicht nur in diesen Staaten, sondern zunehmend auch im westlichen Europa“ (S.11).

Schon länger sei auch die Erweiterungskrise im Gespräch, jedoch stünden nur die Länder des westlichen Balkans und die Türkei zur Diskussion für eine mögliche Mitgliedschaft.

„Sowohl bei den betroffenen Ländern als auch in der EU hat sich einerseits Enttäuschung und andererseits Skepsis, sprich Erweiterungsmüdigkeit, breitgemacht“ (S. 11).

Lediglich die EU-Kommission würde die Erweiterungsagenda vorantreiben. Die meisten Ländern würden kein oder kaum Interesse zeigen, so Altmann. Die jüngsten internen Krisen seien zum einen der Brexit, zum anderen verschiedene separatistische Bewegungen in Katalonien, Schottland, Flandern, im Baskenland und in Nordirland.

Mit dem Brexit betrete die EU eine politische terra incognita. Ein Fall sei eingetreten, der nur pro forma in den Lissabon-Vertrag aufgenommen wurde. Von diesen Krisen leitet Altmann durch zwei Fragen zur Identitätskrise über:

„Kann man somit sagen, dass das EU-Ziel der immer enger werdenden Union am Brexit gescheitert ist, wenn eigentlich nur noch Frankreich, Deutschland und Luxemburg von diesem Ziel sprechen? Sind wir unsicher geworden, ob unser Weg zu „mehr Europa“ richtig ist?“ (S. 12)

Erschöpfung, Frustration und Ungeduld seien durch die jüngsten Wahlen deutlich erkennbar. Die Europäische Union, intergouvernemental und technokratisch, wie sie aktuell ist, sei überholt und gefangen in Agonie. Wichtige Entscheidungen würden hinter verschlossener Tür getroffen, die Gipfel würden nach Vorschlägen der Kommission entscheiden und das Parlament verfüge über zu wenig ernsthafte Kompetenzen, so der Eindruck der Bürger*innen.

„Diese Vorstellung führt zu der Meinung, Europa wäre zu abstrakt, die Eliten zu weit entfernt von den Bürger*innen. Es gibt Verdruss über die sogenannten Brüsseler Technokrat*innen und ihre Regelungswut, Klage über mangelnde Transparenz der Entscheidungen, Misstrauen gegenüber einem unübersichtlichen Netz von Institutionen und Unwillen gegenüber der wachsenden Bedeutung des Europäischen Rates und die vermeintlich dominierende Rolle des deutsch-französischen Tandems.“ (S. 12)

Sichtbare Formen der Zusammenarbeit wie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und damit verbundene gemeinsame Interessen würden an Bedeutung verlieren, so Altmann. Angesichts zunehmender Multipolarität in der Weltordnung können die europäischen Länder nur gemeinsam eine globale Rolle einnehmen.

Altmann skizziert die Ergebnisse einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung. Jugendliche der Visegrád-Staaten sowie in Österreich und Deutschland würden eine deutlich gestiegene Zustimmung zur EU zeigen. Jedoch gehe die Zustimmung mit der Forderung einher, dass politische Reformen mit der wirtschaftlichen Einigung Schritt halten sollen. Die europäischen Institutionen müssen die Bürger*innen erreichen und besser repräsentieren. Anschübe, Ermutigung und Streitkultur sei gefordert. Europa müsse auch auf den unteren Ebenen präsenter werden, ein mögliches Beispiel seien die Europa-Strategie für den Donauraum.

„Dabei wird deutlich, dass Veränderungen in Europa auch stattfinden, ohne direkten Bezug zur europäischen Polykrise zu haben“ (S. 13)

Altmann unterscheidet drei Lösungsansätze für das künftige Miteinander auf der EU-Ebene. Der erste könne als Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner bezeichnet werden.

„Ratspräsident Donald Tusk schlug vorsichtige Teil-Vereinbarungen vor: eine umfassende Übereinkunft zu Migration, abgestimmte Rückführungspraktiken in sichere Herkunftsländer, die Rückkehr zu einem Schengen-Raum ohne Kontrollen, einen Europäischen Währungsfonds (EWF) und die Vollendung der Bankenunion.“ (S. 14)

Der zweite Ansatz gehe auf den großen Reform-Rundumschlag des französischen Präsidenten Macron zurück. Macron fordere Reformen in allen Bereichen, er verlange nicht nur gemeinsame Abstimmungen, sondern auch gemeinsame Aktivitäten. Altmann sieht Macrons Vision für die Erneuerung der EU als „allzu ambitioniert“. Zu viele Teilbereiche würden einen gemeinsamen Gesamtkonsens verlangen, wobei viele Mitgliedstaaten Vorbehalte in unterschiedlichen Bereichen aufweisen würden.

„Eine Verwirklichung von Macrons Vision würde unweigerlich zu einer Spaltung der Union führen, wenn sich wenige Länder den Vorschlägen anschlössen und diese ein neues Kerneuropa mit gleichzeitigem Ausschluss der übrigen bildeten“ (S. 14)

Ein möglicher dritter Weg nehme Bezug auf die Verstärkung regionaler, themenbezogener Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Formen. Hierbei sei eine intensive Kommunikation mit den Bürger*innen erforderlich, um diesen das Gefühl der Sinnhaftigkeit zu vermitteln. Bürger*innennähe und Mitsprachemöglichkeit ließen sich auf regionalen themenbezogenen Ebenen leichter erreichen. Direkter Kontakt zwischen Bürger*innen und Institutionen können den Abbau von Vorurteilen unterstützen, so Altmann.

Dies sei zwar eine Politik der kleinen Schritte, könne jedoch ausgehend von unteren Ebenen zur Stärkung der Sinnhaftigkeit und des Ansehens der EU beitragen. Eine Verflechtung ohne allgemeine Verpflichtung, ein Flechtwerk von Zusammenarbeitsbereichen, von grenzüberschreitenden Kooperationen, welche sachbezogen und ohne politische Ambitionen auftreten, so sei die Vorstellung.

„ …je mehr überlappende Verbindungen, desto stärker der Zusammenhalt. Stärke durch Vielfalt statt Stärke durch Einheit.“ (S. 15)

Allerdings bestehe hier eine Gefahr der differenzierten Integration, falls Konzepte völkerrechtlicher Verträge zwischen den beteiligten Staaten anstelle von europarechtlichen Vereinbarungen angewandt würden.

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