Sonntag, 7. Mai 2023

Bericht über den Bürgerdialog: "EU-Außenpolitik in Krisenzeiten" der Jungen Europäer (JEF)

Am Freitag, dem 28.04.2023, hat eine von der Organisation „Junge Europäer – JEF Baden-Württemberg“ und der Stadt Sindelfingen organisierte Veranstaltung unter dem Titel „EU-Außenpolitik in Krisenzeiten: Diskutiere mit!“ im Rathaus der Stadt Sindelfingen stattgefunden. Die „Jungen Europäer“ als Jugendorganisation mit Mitgliedern im Alter von 14-35 Jahren sind ein überparteilicher, überkonfessioneller und proeuropäischer Verband und setzen sich laut ihrer Homepage für ein demokratisches, bürgernahes und föderales Europa ein.

Den Auftakt der Veranstaltung leistete Dr. Martin Große Hüttmann von der Universität Tübingen mit einem Impulsvortrag. Die anschließende Diskussion mit Fragerunde wurde von zwei Workshops gefolgt: Dr. Ragnar Müller mit dem Titel „EU-Außenpolitik am Beispiel des Westbalkans“ sowie der von Dr. Martin Große Hüttmann angebotene Workshop „EU-Außenpolitik am Beispiel der Ukraine“. Im Folgenden werden der Impulsvortrag und die zwei Workshops sowie die daraus resultierenden Erkenntnisse zusammengefasst.

Martin Große Hüttmann zitierte Henry Kissinger aus den 70er Jahren („Wen rufe ich an, wenn ich mit Europa sprechen will“) zu Beginn seines Vortrags und präzisierte, dass einem bei einem heutigen Anruf der EU der Anrufbeantworter 27 Meinungen – von jedem Mitgliedstaat jeweils die Meinung – vorschlägt, und man sich für eine entscheiden muss. Das Wort „Krise“ definiert Große Hüttmann als „wenn etwas Spitz auf Knopf steht“ und macht deutlich, dass man in der EU zuerst von einer „Krise“, später „Polykrise“ und mittlerweile von einer „Permakrise“ hinsichtlich der EU spricht; das Wort „Krise“ allein wird inzwischen fast inflationär verwendet.

Auf die Außenpolitik der Europäischen Union bezogen, stellt Große Hüttmann drei „I“ vor: Ideen, Interessen und Instrumente. Erst, wenn es eine sinnvolle Schnittmenge zwischen ihnen gibt, kann so etwas wie Außenpolitik in der EU überhaupt erst entstehen.

  • Hinter „Ideen“ stecken die Begriffe Ideen und Leitbilder, als Beispiele werden „europäische Souveränität“, „strategische Autonomie“ oder Resilienz genannt sowie die Mahnung, die Sprache der Macht zu sprechen.
  • Interessen“ stellen Sicherheit und Unabhängigkeit, Frieden, Sicherheit und Wohlfahrt weltweit, Umwelt und Nachhaltigkeit sowie eine regelbasierte Weltordnung dar.
  • Das dritte „I“ der "Instrumente" ist bezogen auf soft power statt hard power, den EU-Haushalt sowie die Institutionen der EU.

Große Hüttmann betont auch den „Gap“, die Lücke zwischen den Erwartungen, die an die EU gestellt werden, und den Kapazitäten, die die EU tatsächlich hat, diese auch zu befriedigen (expectations-capability-gap).

Im weiteren Verlauf des Vortrags wird das bei wichtigen Abstimmungen geltende Prinzip der Einstimmigkeit angesprochen, wovon die Abkehr auf EU-Ebene oftmals als sinnvollste Lösung in der Diskussion angeführt wird. Hier wirft Große Hüttmann das Prinzip der doppelten bzw. qualifizierten Mehrheit, welches bereits jetzt in der Praxis Verwendung findet, in die Arena mit Verweis auf die jeweiligen Vor- und Nachteile eines solchen Abstimmungsverfahrens.

Zum Ende des Impulsvortrages werden kurz Szenarien zur Zukunft der EU-Außenpolitik, vor allem hinsichtlich einer weiterhin bestehenden oder möglicherweise bröckelnden Partnerschaft mit den USA, skizziert. So wäre das Szenario der „Superpower EU“ („Zeitenwende“ mit einer neuen Geschlossenheit innerhalb der EU sowie mit den USA) das beste Szenario und die „Powerless EU“ (Business as usual und Zerwürfnis mit den USA; bedingt auch abhängig von den anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA) der worst case. Zwischen diesen beiden Szenarien wären noch eine „Multipower EU“ („Zeitenwende“ und Zerwürfnis mit den USA) sowie eine „Depower EU“ (Einheit und business as usual) denkbar und keinesfalls abwegig.

Beendet wurde der Vortrag mit dem bekannten Zitat Jean Monnets („Europa wird in Krisen geschmiedet werden, und es wird die Summe der Lösungen sein, die man für diese Krisen erdacht hat“) und dem Verweis auf heute, da wir uns als „Zeitzeugen“ einer sich im Moment aufgrund der „Permakrise“ neu schmiedenden EU bezeichnen können, welche wie so oft Katalysator sowie Motor für neue Innovationen ist.

Europäische Außenpolitik und der Westbalkan

Bis heute prägen Stereotype das Bild des „Balkans“ in Europa. Der Balkan-Begriff ruft eine Reihe verschiedener Assoziationen hervor. Von kulinarischen Meisterstücken – wie der Balkanplatte - über das pure Gefühl von Strand, Berge, Sonne und Meer, bis hin zu den negativen Bildern des Balkans – spätestens seit Ende des Kalten Krieges scheint die Region zum Synonym von Krieg und Armut geworden zu sein. Doch was genau ist überhaupt als Balkan zu bezeichnen und wie ist dieser im Geflecht europäischer Integration und europäischer Außenpolitik einzuordnen? Diesen Fragen ging Dr. Ragnar Müller – Dozent im Fachbereich Politikwissenschaft der PH Ludwigsburg und Europaexperte – in seinem Workshop „EU-Außenpolitik am Beispiel des Westbalkans“ nach.

Immer wieder ist die Rede vom „Balkan“, „Westbalkan“ oder „Südosteuropa“. Welche Begrifflichkeit zur Bezeichnung der Länder im Südosten Europas gewählt wird, scheint verzwickt. Anzumerken ist jedoch, dass der Begriff „Balkan“ als höchst problematisch in diesem Zusammenhang zu werten ist. In seinem Ursprung bezeichnet der Balkan-Begriff lediglich ein tertiäres Faltengebirge in Südosteuropa, dessen Hauptkamm in Bulgarien zu verorten ist. Im allgemeinen Sprachgebrauch bezeichnet der Balkan-Begriff jedoch einen territorial weiter gefassten Raum, zu dem die Staaten Bulgarien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Nord-Mazedonien, Albanien, Kosovo, Serbien, Kroatien und Rumänien zählen. Mit Blick auf die diversen Ethnien und Konfessionen des Balkans bietet es sich an, den geeigneteren Terminus „Südosteuropa“ für diese doch sehr heterogene Landmasse anzuführen. EU-intern hält sich nach wie vor die Bezeichnung des Westlichen Balkans. Diese Bezeichnung umfasst eine Staatengruppe südosteuropäischer Staaten, welche noch keine EU-Mitglieder sind.

Mit Ende des Kalten Krieges 1991 und dem Zusammenbruch des Staatssozialismus kehrt auch das Bild „Rückkehr nach Europa“ in die Köpfe südosteuropäischer Staaten zurück. Wenn ein Staat nach dem Zerfall der Sowjetunion der EU beitritt, so schien Jugoslawien – mit seiner vermeintlich fähigen Produktion von Gütern und der fortgeschrittenen Emanzipation von der Sowjetunion – prädestiniert dafür. Jedoch zeigt sich, dass mit Jugoslawien in den 90er Jahren eben jenes Land zerfällt, dass sich außen- und innenpolitisch bereits im Kalten Krieg am weitesten von der Sowjetunion emanzipiert hatte. Die folgenden Kriege der 90er, mitsamt ihrer humanitären Krisen, lassen einen Beitritt südosteuropäischer Staaten in weite Ferne rücken.

Nach der Beendigung des Jugoslawienkriegs und dem Tod Franjo Tudjmans (Kroatien) und dem Sturz von Serbiens Slobodan Milosevic beginnt die Zeit der langsam fortschreitenden Stabilität der Region. Auch der – auf Initiative von Joschka Fischer hin – gegründete Stabilitätspakt der Europäischen Union für Südosteuropa festigte das Ziel einer mittel- und langfristigen Stabilität der Krisenregion durch regionale und überregionale wirtschaftliche, demokratische und sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Neben den Mitgliedstaaten der EU waren die Balkanstaaten sowie die Mitglieder der G8 beteiligt. Das Gipfeltreffen in Thessaloniki 2003 bestätigte die fortschreitende Integrationsbereitschaft der EU, westliche Balkanstaaten durch feste Beitrittsgarantien in die Europäische Union einzugliedern.

Nach der Beitrittswelle von zwölf Staaten (2004, 2007) und den damit einhergehenden politischen Herausforderungen stagnieren jedoch diverse Beitrittsgesuche der noch ausstehenden südosteuropäischen Staaten. Durch vielfältige Krisen, wie der Finanzkrise 2008 oder der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 sowie einer EU-Erweiterung um 12 neue Mitgliedsstaaten setzt eine Erweiterungsmüdigkeit ein, die EU scheint mit eigenen politischen Herausforderungen mehr als beschäftigt zu sein. Ein Teufelskreis setzt ein: Ohne Reformen kommt es zu keiner Annäherung an die EU, ohne Zuversicht des Beitritts kommt es zu keinen Reformbemühungen.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 führt zu einer Zäsur und Zeitenwende in der internationalen Politik. Der russische Territorialhunger führt zu einer „Rückkehr des Krieges nach Europa“. Aus Sicht südosteuropäischer Staaten kehrt der Krieg jedoch nicht erst seit 1945 zurück, sondern war in den 1990er Jahren ein stetiger Begleiter.

Es zeigt sich jedoch, dass die Beitrittsperspektive des Westlichen Balkans dadurch deutlich besser geworden ist. Auch die EU muss durch die veränderte Lage verstärkt geopolitisch denken. Dieser europäische Blick auf geopolitische Gesichtspunkt lässt den Westbalkan vermutlich als Gewinner hervorgehen. Die Rückkehr der Geopolitik und die veränderte Systemkonkurrenz bieten nun die Chance einer neuen Integrationsdynamik. Diese scheint untrennbar mit sicherheitspolitischen Fragen verbunden zu sein. Der „Berlin-Prozess“ wird angekurbelt, die EU scheint sich mehr um die Region zu bemühen. Eine Erweiterungspolitik anderer Art setzt ein.

Europäische Außenpolitik am Beispiel der Ukraine

Seit dem ersten Assoziierungsabkommen, ratifiziert und begonnen zwischen 2014-2016, zwischen den Staaten der EU und der Ukraine und dem erneuten Angriff des russischen Militärs auf ukrainischen Boden im Februar 2022, strebt die Ukraine nun mit deutlichem Nachdruck eine weitere Annäherung an die EU an. Am liebsten mit einem Beitritt der Ukraine zum Bündnis. Durch das sehr öffentlichkeitswirksame Beitrittsgesuch der Ukraine durch ihren Präsident Selenskyj stellen sich verschiedene neue Fragen und Herausforderungen für die EU.

Einerseits handelt es sich um politisches Neuland für die EU, da in der Vergangenheit ihre Erweiterungspolitik nur in befriedeten Räumen stattfand. Insbesondere mehrere osteuropäische EU-Staaten sprachen sich dafür aus, der Ukraine bereits kurz nach Beginn des Angriffskrieges den Status als Beitrittskandidat zu verleihen, was sich auch durchsetzte. Dadurch, dass es derzeit (Mai 2023) keine Anzeichen gibt, dass der Krieg in der Ukraine bald endet und die EU-Kommissionspräsidentin der Ukraine ein schnelles Verfahren versprach, stellt sich die Frage, wie damit verfahren werden soll, wenn es Krieg oder kriegsähnliche Zustände in einem Mitgliedsland gibt.

Zusätzlich stellt sich die doppelte Herausforderung der Erweiterung und Vertiefung. Die letzte Reform des EU-Vertrages gab es 2007 in Lissabon. Seit 2007 ist die EU aber durch mehrere Krisen gegangen, welche Mängel im System aufgedeckt haben. Weiter gibt es derzeit 8 Beitrittskandidaten, die auf Fortschritte im Prozess warten und hoffen. Dieser doppelte Handlungsdruck wirft die Frage auf, welcher Prozess zuerst begonnen werden soll. Der Reformprozess oder die Erweiterungsbestrebungen.

Als letzte Herausforderung stellt sich die Frage, ob die Erwartungen, die die Ukraine in den Prozess legt, von der EU erfüllt werden können. Dabei spielt natürlich auch eine Rolle, welche Versprechungen die EU der Ukraine macht. Zu nennen ist hier das Versprechen der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyens, welche der Ukraine ein beschleunigtes Verfahren versprach.

Weiter befasst sich dieser Beitrag mit den Ideen, Interessen und Instrumenten, welche der EU im Umgang mit der Ukraine zur Verfügung stehen und nach denen sie handelt. Die Idee einer weiteren Annäherung zwischen der EU und der Ukraine ist klar geprägt durch eine friedensfördernde Politik. Durch den Beitritt der Ukraine zur EU würde sie noch deutlicher unter dem Schutz des “Westens” stehen und dies eine abschreckende Wirkung auf mögliche Aggressoren haben. Dies dient natürlich einem politischen und ökonomischen Interesse nach Stabilität in Europa. Erreichen möchte die EU dies durch das seit 2016 in Kraft getretene Assoziierungsabkommen und den nun verliehenen Status als Beitrittskandidat. Weiter fördert die öffentliche Unterstützung innerhalb der EU und der Ukraine für einen Beitritt den Prozess.

Nach dem Vortrag von Große Hüttmanns wurde die Debatte eröffnet und es wurden verschiedene Aspekte unter den Teilnehmenden diskutiert. Abgesehen von den bisher genannten Problemen stellen sich weitere Fragen, sollte es zu einem Beitritt kommen. Einerseits über die Fairness und Konsequenz des Aufnahmeprozesses. Während mehrere südosteuropäische Staaten seit Jahren über einen Beitritt verhandeln, wurde der Ukraine ein schnelles Verfahren versprochen. Sollte dies umgesetzt werden, könnten sich diese Staaten hintergangen und unfair behandelt fühlen. Andererseits scheint es auch so, dass die Bemühungen der Ukraine größer sind als die der Länder Südosteuropas, was einen schnelleren Beitritt rechtfertigen würde.

Des Weiteren gilt es zu bedenken, dass mit einem Beitritt der Ukraine diese direkt eines der größten Länder der Union wäre und einer der größten Getreideproduzenten der Welt ist. Daher könnte die Aufnahme dazu führen, dass Regeln, wie beispielsweise die Agrarsubventionen der EU, neu überdacht werden müssen. Die diskutierende Gruppe sprach sich am Ende für einen Beitritt der Ukraine zur EU aus, stellte jedoch die Bedingung, dass keine Verfahren abgekürzt werden sollten und die Ukraine das reguläre Verfahren durchlaufen sollte.

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