Mittwoch, 8. August 2018

Essay zum FAZ-Gastbeitrag „Die Utopie vom Leben jenseits der Grenze“ von Ivan Krastev

Ivan Krastev: Die Utopie vom Leben jenseits der Grenze, FAZ vom 01.03.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-3-die-utopie-vom-leben-jenseits-der-grenze-14082761.html)

Autor: Dennis Schlesinger

Der bulgarische Politologe Ivan Krastev durchleuchtet in seinem Gastbeitrag die Flüchtlingskrise in Europa und ihre Gefahr für den Fortbestand der Europäischen Union.

Er stellt zunächst fest, dass wir durch die fortschreitende Technologisierung in einer Welt der „Diktatur des globalen Vergleichs“ leben. Menschen vergleichen sich nicht mehr mit ihren unmittelbaren Nachbarn, sondern mit den am besten gestellten Bewohnern und Gesellschaften der Erde. Er bezeichnet die daraus resultierenden Völkerbewegungen als moderne Revolution, deren Ursachen nicht in einer gemeinsamen Ideologie liegen. Es sind eben jene Mechanismen, hervorgerufen durch die weltweite Ungleichheit, die die Menschen nach Veränderung und einem Wechsel ihres Wohnortes streben lassen.

Das Problem für die Europäische Gemeinschaft liegt in der in Europa entstandenen Gegenrevolution. Nach anfänglicher Solidarität finden wir mittlerweile einen Zustand der Ablehnung und Angst gegenüber der zunehmenden Migration vor. Da diese Abneigung in den mittel- und osteuropäischen Ländern besonders stark ausgeprägt ist, beschreibt Krastev einen sich zuspitzenden Ost-West-Konflikt innerhalb Europas, der zu einer ernstzunehmenden Gefahr für die EU geworden ist.


Die kosmopolitischen westeuropäischen Länder reagieren mit großem Unverständnis auf die osteuropäische Haltung, „man schulde diesen Menschen [Geflüchteten] gar nichts“. Die Aussage des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán fasst die Stimmung in Osteuropa treffend wie folgt zusammen:
„Die moralische Pflicht der Europäischen Union sei es nicht, den Flüchtlingen zu helfen, sondern die Sicherheit ihrer Bürger zu gewährleisten.“
Und diese Sicherheit sehen die führenden Politiker Osteuropas durch unterschiedliche Aspekte der Migration gefährdet. Es ist die latente Angst vor Terrorismus, die Gefährdung der öffentlichen Gesundheit durch das Einschleppen unbekannter Krankheiten, den Verlust der eigenen Identität (religiös wie ethnisch) und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt.

Während diese Aspekte in westeuropäischen Staaten zu einer Polarisierung im öffentlichen Diskurs führten, einen sie in mittel- und osteuropäischen Ländern ansonsten gespaltene Gesellschaften. Es handelt sich um einen der wenigen Punkte, in denen die Aussagen der Regierungen mit der Meinung der Bevölkerungen übereinstimmen.

Das Unverständnis über die nicht vorhandene Solidarität und über die Angst in Osteuropa verdeutlicht er durch zwei Dinge: Zum einen waren Osteuropäer im 20. Jahrhundert selbst sehr damit beschäftigt, auszuwandern oder sich um Einwanderer zu kümmern, zum anderen sind mittel- und osteuropäische Staaten nur sehr wenig vom Flüchtlingszustrom betroffen.

Aus diesem Grund sieht er den Ursprung der Ablehnung im geschichtlichen Hintergrund Mittel- und Osteuropas, deren Staaten erst spät im 19. Jahrhundert entstanden und aus dem Zerfall von großen Reichen und aus damit verbundenen ethnischen Säuberungen hervorgingen. Sie haben damals die Idee der „Nation als kulturelle Einheit“ von den Deutschen übernommen, weshalb sie besonders verärgert über die Kritik an ihrem Umgang mit der Flüchtlingskrise sind.

Ein weiterer wichtiger und laut Krastev unverständlicherweise am seltensten diskutierter Punkt ist die demographische Panik. Die Staaten Mittel- und Osteuropas fürchten das „ethnische Verschwinden“ und die damit verbundene geschichtliche Bedeutungslosigkeit. Sie möchten deshalb die eigene Nation und Ethnie vor einer Vermischung durch Migranten und ihren unterschiedlichen Religionen schützen und weitere Abwanderung verhindern.

Die Abneigung gegenüber dem Islam resultiert aus zwei unterschiedlichen Gegebenheiten in Mittel- und Osteuropa. Wir haben auf der einen Seite Länder wie die Slowakei, in denen sich keine einzige Moschee befindet und der Islam somit für etwas völlig Fremdes steht. Auf der anderen Seite beherbergen Länder nahe der Grenze zur muslimischen Welt bereits große muslimische Minderheiten, wodurch die Angst der schleichenden Übernahme steigt.

Hinzu kommt, dass durch die gescheiterte Integration der Roma in Osteuropa der Glaube beziehungsweise das Vertrauen auf die Fähigkeit fehlt, Minderheiten in die jeweilige Gesellschaft integrieren zu können.

Den Hauptgrund für die Trennung von Ost und West in der Flüchtlingskrise sieht Krastev im Misstrauen gegenüber der kosmopolitischen Denkweise. Dies führt er auf die jeweiligen geschichtlichen Hintergründe zurück. Der Drang zum Kosmopolitismus des Westens ist die Konsequenz aus der extrem fremdenfeindlichen Zeit des Nationalsozialismus. Andererseits resultiert der Antikosmopolitismus Mittel- und Osteuropas zum Teil aus der Abneigung gegenüber dem vom Kommunismus aufgezwungenen Internationalismus.

Abschließend geht Krastev auf die Folgen der Spaltung zwischen Ost und West für die Europäische Union ein. Hier wird zunächst erwähnt, dass die Spaltung in der Flüchtlingskrise de facto gar nicht mehr gegeben ist, da auch in Westeuropa der Unmut über die "Willkommenskultur" wächst. Aber zu einer Annäherung zwischen West- und Mitteleuropa wird es dadurch nicht kommen. Den konservativen Westeuropäern sind die Osteuropäer ebenso fremd wie die Flüchtlinge, während der kosmopolitische Teil Westeuropas in ihnen das größte Hindernis für eine offene europäische Gesellschaft sieht. Die Schlussfolgerung ist dementsprechend ernüchternd und wenig optimistisch:
„Als Osteuropäer erklärten, sie schuldeten den Flüchtlingen nichts, erkannten viele im Westen, dass auch sie Osteuropa nichts schulden.“
Ivan Krastevs Beitrag zur Flüchtlingskrise und deren Auswirkungen auf das Ost-West-Verhältnis in der Europäischen Union zeigt auf, wie heterogen die Wertegemeinschaft in Europa aktuell ist. Die angesprochenen geschichtlichen und kulturellen Unterschiede liegen klar auf der Hand und können aus heutiger Sicht nur schwer überwunden werden. Der Weg hin zu einer europäischen Identität erscheint noch ein sehr langer und schwieriger zu werden, aus meiner Sicht sogar utopisch zum jetzigen Zeitpunkt.

Doch nicht nur die Unterschiede zwischen Ost- und Westeuropa spielen hierbei eine Rolle. Wie im Beitrag bereits kurz angesprochen, finden Parteien und Populisten mit Anti-EU-Kurs immer mehr Anklang. Am Beispiel der Flüchtlingskrise zeigt sich die Spaltung auch innerhalb der großen westeuropäischen Nationen.

Aus meiner Sicht bedarf es klarerer und transparenterer Entscheidungen, wie wir mit geflüchteten Menschen der unterschiedlichen Kategorien (Kriegs-, Wirtschaftsflüchtlinge, politisch Verfolgte) human und respektvoll umgehen möchten. Die teilweise stark unsolidarische Haltung osteuropäischer Regierungen und in Teilen westeuropäischer Gesellschaften ist für mich nur sehr schwer nachvollziehbar. Es liegt an den sozialdemokratischen Parteien, diese Stimmung wieder zu kippen und für ein offenes angstfreies Klima in Europa zu sorgen. Doch dies gelingt nicht, indem man seinen politischen Kurs immer mehr an dem der erfolgreichen rechtspopulistischen Parteien orientiert, um nicht noch mehr Wählerstimmen zu verlieren, sondern indem man klare Kante zeigt und gewillt ist, für einen Stimmungswechsel zu kämpfen.

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