Sonntag, 13. Mai 2018

Essay zu Hans-Jürgen Papiers FAZ-Gastbeitrag "Europa zwischen Nationalstaatlichkeit und Einheit"

Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier: Europa zwischen Nationalstaatlichkeit und Einheit, FAZ vom 21.10.2016, (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-17-europa-zwischen-nationalstaatlichkeit-und-einheit-14484032.html)

Autor: Sebastian Koschmieder

Die Vision von einem vereinten Europa, in dem alle Länder und Nationen ungeachtet von ihrer Herkunft, Interessen, Stärken und Schwächen zusammen leben und arbeiten und für ein gemeinsames Europa stehen, scheint in weite Ferne zu rücken, beschreibt der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Dr. Hans-Jürgen Papier, eindrucksvoll in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Früher stand der Name „Europa“ lediglich für einen Kontinent. Von dieser Tatsache sind wir glücklicherweise weit entfernt und durch die Europäische Union existiert der Name nicht mehr nur auf dem Blatt Papier, sondern ist mittlerweile „ein Erfolgskapitel ohnegleichen in der Geschichte des Kontinents“, wie er ausführt. Durch das Zusammenleben und Interagieren der verschiedenen europäischen Länder unter einem Dach ist die EU „Garant für Frieden, Freiheit und Wohlstand“ geworden.


Doch mittlerweile ist ein Punkt erreicht, an dem sich viele Länder nicht mehr sicher sind, inwiefern sie weiterhin die Idee einer gemeinsamen Europäischen Union mittragen und mitverantworten wollen. Viele Länder proklamieren ihre Unabhängigkeit und wollen sich von der Europäischen Union und Brüssel, das laut Papier für ein „anonymes Moloch einer bürgerfernen europäischen Zentralgewalt“ stehe, lossagen.

Weiter schreibt er, dass die Deutschen nach einer Umfrage mit nur 29 Prozent die EU positiv bewerten, 29 Prozent negativ und 41 Prozent ist sie gleichgültig. Doch woher kommt diese ablehnende und gleichgültige Haltung? Profitieren die einzelnen Staaten nicht mehr „ausreichend“ von der Europäischen Union oder sind es die gesetzlichen Vorgaben aus Brüssel, die das politische Leben in den Ländern zu weit einschränkt?

Papier schreibt, dass „sich das Bild einer politischen Klasse herausgeprägt" hat, „die Europa am Reißbrett gestaltet und jede Rückbindung an die Basis [...] verloren hat“. Er kritisiert, dass die Politiker hierbei immer auf die „Alternativlosigkeit der europäischen Integration“ verwiesen haben und Fehler „in der Vermittlung und Erklärung der Politik“ gemacht worden sind.

Doch hierbei werden drei elementare Punkte vergessen, auf die es bei der europäischen Integration ankommt. Zum einen spielt die „stetige Vertiefung der Integration“ eine Rolle, des Weiteren die „ständige geographische Erweiterung“ und zuletzt geht es auch um den „Ausbau der Demokratie und des Parlamentarismus in der EU“.

Jedoch weist Papier weiter darauf hin, dass diese drei Ziele nicht gleichzeitig und im Einklang miteinander erreicht werden können. So hat es der von ihm zitierte ehemalige EP-Präsident Klaus Hänsch folgendermaßen ausgedrückt: „Je größer die EU wird, desto weiter entfernt sie sich von ihren Bürgern“. Dieser Satz beschreibt sehr eindrucksvoll, wohin die EU momentan driftet und warum der Zuspruch der Bürger für die EU so gering ist.

Dabei wurde im Vertrag von Lissabon der Versuch unternommen, den nationalen Parlamenten wieder mehr Eigenständigkeit und Kontrolle über Entscheidungen zu geben. Denn im Vertrag über die Europäische Union ist festgehalten, dass die Union die nationalen Identitäten der Mitgliedsstaaten achtet und nur innerhalb der ihr zugewiesenen Kompetenzen arbeiten darf. So schlussfolgert Papier treffend, dass die „Mitgliedsstaaten [...] als Herren der Verträge die Kompetenzen der Union“ bestimmen. Somit ist die EU faktisch kein „überdimensionierter und demokratisch defizitär ausgestaltetet Superstaat“, sondern ein Verbund voll souveräner und demokratischer Staaten, wie Papier es ausdrückt.

Doch trotz dieser Einschätzung Papiers wird innerhalb der EU von der „Entmachtung der demokratisch legitimierten Parlamente“ gesprochen. Immer mehr Kompetenzen wandern nach Brüssel ab und das Spannungsverhältnis zwischen „Stetige Vertiefung der Integration“ und „Ausbau der Demokratie und des Parlamentarismus in der EU“ kommt verstärkt zum Vorschein. Dadurch verlieren die nationalen Parlamente an Legitimation und die nationalen Verfassungen werden ausgehöhlt.

Doch eigentlich sollte dieser Problematik mit Hilfe des Lissaboner Vertrages und des darin festgeschriebenen Subsidiaritätsprinzip Abhilfe geleistet werden, sodass alle Angelegenheiten, die in die Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten fallen, auch von diesen erledigt werden. Und nur bei Themen, welche aufgrund ihres Umfangs sich auf lokaler und nationaler Ebene nicht verwirklichen lassen, sollen auf Unionsebene gehievt werden.

Dennoch kritisiert Papier deutlich, dass das Subsidiaritätsprinzip „weder geeignet noch überhaupt darauf ausgelegt“ ist, „den fortschreitenden europäischen Integrationsprozess“ zu bremsen, bzw. aufzuhalten. Diesen momentan sehr kritischen Verlauf der EU, die Unzufriedenheit der Bürger und die notwendigen Konsequenzen daraus bringt er in einem Zitat sehr gut zum Ausdruck:
„Wenn die parlamentarische Demokratie nach dem gegenwärtigen Stand der EU und wegen ihres unvermeidlichen und unaufhaltsamen weiteren Ausbaus etwa im Sinne einer Fiskal- oder gar politischen Union sich auf nationalstaatlicher Ebene kraft innerer Auszehrung oder Aushöhlung allmählich dem Ende zuneigt, muss die demokratische Ordnung auf die Ebene der Union verlagert, Europa also als demokratiestaatliches Kompensations- und Ersatzmodell ausgebaut werden.“
Dieses Zitat drückt aus, in welche Richtung sich laut Papier die Europäische Union entwickeln muss, nämlich hin zu einer Union organisiert als Staat, wie sie selbst in den einzelnen Verfassungen der Mitgliedstaaten verankert ist. Ein europäischer Bundesstaat mit einem europäischen Bundesparlament und Bundesregierung wären die Folge, gegebenenfalls eine zweite Kammer mit einem europäischen Bundesrat oder Senat. Demnach verfügt ein solcher Staat über das Recht, seine Kompetenzen selbst zu bestimmen und ist nicht mehr auf die Übertragung von Einzelkompetenzen durch die Mitgliedstaaten angewiesen.

Dies hätte natürlich zur Folge, dass Deutschland sowie alle anderen Staaten ihre Verfassung ändern müssten und nach jetzigem Stand ein „Totalverzicht auf staatliche Souveränität“ ausgeschlossen ist. Doch leider, so prangert Papier an, werden solche Vorschläge insbesondere von deutscher Seite als der Versuch verstanden, Deutschland innerhalb einer solchen Staatgründung als Vormacht zu etablieren.

Des Weiteren sind gewisse Vorbedingungen laut ihm nicht gegeben. So müsste es bspw. eine einheitliche Parteienlandschaft geben, sowie eine gemeinsame europäische Medienöffentlichkeit. Ganz zu schweigen von einem „gesamteuropäischen Nationalbewusstsein“, oder einer Zivilgesellschaft „mit einer gewissen solidarischen Verbundenheit“, wie er weiter schreibt.

Und so solle man stattdessen einen „sinnvollen Umbau“ der EU betreiben und nicht die „Vertiefung der Integration“ weiter vorantreiben, wenn dieser „Königsweg“ sich momentan nicht verwirklichen lasse. Selbst die Kanzlerin sprach laut Papier davon, „Europa müsse auf den Prüfstand“. Doch er kritisiert die EU und ihre Politiker dafür, dass aktives Handeln und Entscheidungen nur mit „höchstem Druck und in einer Art Ausnahmezustand getroffen werden“.

Der Leitspruch „In Vielfalt geeint" sollte eigentlich den europäischen Verfassungsvertrag prägen, doch dieser scheiterte. Und so wurde aus dem Verfassungsvertrag ein Reformvertrag, welcher auf solch einen Leitspruch bewusst verzichtete. Dennoch bringt nach Papier dieser Satz „Ziel und Grenze der europäischen Einheit nach wie vor treffend zum Ausdruck“. Daher zeigt sich auch, angelehnt an diesen Leitspruch, wie groß das Dilemma ist, steht doch im Artikel 4 der europäischen Verfassung, „dass die Europäische Union die Verfassung ihrer Mitgliedsstaaten achtet“.

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