Donnerstag, 31. Mai 2018

Essay zu Reiner Hoffmanns FAZ-Gastbeitrag "Für eine soziale Zukunft Europas"

Reiner Hoffmann: Für eine soziale Zukunft Europas, FAZ vom 10.06.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/zerfaellt-europa/zerfaellt-europa-9-fuer-eine-soziale-zukunft-europas-14270880.html)

Autor: Finn Tümmers

„Das ist die wesentliche Krise Europas: der fehlende Mut, entgegen dem weltweiten neoliberalen Mainstream den Anspruch einer sozialen Gestaltung konsequent zu verfolgen.“ Mit diesen Worten beschreibt der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes Reiner Hoffmann in seinem FAZ-Gastbeitrag die Problematik in der Europäischen Union.

Reiner Hoffmann ist deutscher Gewerkschaftsfunktionär und seit Mai 2014 Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Am 14.05.2018 wurde er mit 76,3 Prozent der Stimmen der Delegierten vom DGB-Bundeskongress wiedergewählt. Des Weiteren sitzt er in Aufsichtsräten mehrerer Unternehmen, wie z.B. der Bayer AG.

Reiner Hoffmann vertritt die Ansicht, die Europäische Union habe „sich mehr und mehr von ihrem Anspruch verabschiedet, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und zugleich Gestalter einer fairen Globalisierung zu sein.“ Verantwortlich sieht Hoffmann dafür diverse Krisen, welche die EU plagen würden. Zudem würden jene Krisen mit „falschen Krisenrezepten“ angegangen. Ein Beispiel hierfür sei die „noch längst nicht überwundene“ Wirtschaftskrise. Zusammengebrochene Sozial-, Renten und Tarifsysteme seien das Produkt eines Krisenrezeptes, der rigiden Austeritätspolitik. Diese Politik verantworte eine wachsende „wirtschaftliche und soziale Divergenz“ innerhalb der EU. Hoffmann kommt zu der Erkenntnis, dass fiskalpolitische Ziele sozialpolitischen Zielen nicht untergeordnet sein dürften und man sich somit von der Austeritätspolitik abwenden solle.

Als Folge dessen sieht Hoffmann eine sinkende Solidarität innerhalb der EU. Europäische Bürger würden der Union immer weniger Vertrauen entgegenbringen und eine Wiedergeburt der Kleinstaaterei stehe in den Startlöchern. Diese schwere „Vertrauens- und Legitimationskrise“ würde in Kombination mit der Flüchtlingskrise einen starken Rechtsdruck fördern.

Vergleichbar mit einem Flächenbrand bezeichnet Hoffmann die nebeneinander laufenden Krisen, welche in einem möglichen Ausschluss Griechenlands und möglichen Ausstieg Großbritannien münden könnten. So würden viele diesen Flächenbrand als Risiko für das Bestehen der Europäischen Union sehen.

Hoffmann möchte sich allerdings nicht mit einem möglichen Scheitern, sondern mit der Debatte, wie man die EU wieder handlungsfähig bekommt und wie man wieder Vertrauen in „das Projekt der EU“ bekommt, beschäftigen. Außerdem möchte er einen Weg darlegen, wie man mit der beschleunigten Globalisierung oder Digitalisierung umgehen soll. „Mit einem Europa mit mehr sozialem Zusammenhalt“, antwortet Hoffmann auf diese Themen.

Hoffman zieht als Beleg dafür Beispiele aus der Vergangenheit heran. Beispielsweise sei man sich nach dem ZweitenWeltkrieg ebenfalls einig gewesen, dass die Antwort auf die Katastrophen das Zusammenwachsen Europas sein müsste. Lösen sollte es Probleme wie: Faschismus, Krieg, Demokratie, Frieden, Armut, Arbeitslosigkeit, sozialen Fortschritt und Leben in Wohlstand.

Historische Beispiele für die Gewährleistung des Friedens nach den Weltkriegen und die friedliche Überwindung von Diktaturen seien z.B. Portugal und Spanien. Dieser Prozess, so Hoffmann, sei allerdings durch „die Forcierung eines neoliberalen Globalisierungsprozesses“ ins Stocken geraten.

Bei dem zweiten Gründungsziel, dem sozialen Fortschrittsversprechen, sieht Hoffmann Parallelen. Die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft und die Einbindung der Europäischen Grundrechtecharta in den EU-Vertrag mache die Europäische Union zu einem sozialen Vorreiter im Hinblick auf die wirtschaftliche Globalisierung. Trotz diverser Unterschiede in den Wirtschaftssystemen der EU-Mitglieder ist es gelungen, Sozialmodelle durchzusetzen. Solidaritätsbasierte Absicherungsmodelle lieferten Sicherheit in vielen Bereichen, wie z.B. Krankheit und Alter.

Das soziale „Referenzmodell“ sei allerdings durch die Erweiterungen in Mittel und Osteuropa ins Wanken gekommen. Diese Erweiterung brachte, so Hoffmann, Unterschiede in der ökonomischen Integrationswilligkeit und Integrationsfähigkeit mit sich und nage am Bild des Referenzmodells.

Dies in Kombination mit unkoordinierter Wirtschafts- und Fiskalpolitik und der „verfehlten“ Krisenpolitik sei der Auslöser, durch den „Europa seine sozialpolitische Handlungs- und Gestaltungsmacht fahrlässig verspielt.“
„Diese Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten sich mehr und mehr von ihrem gemeinsamen Anspruch verabschiedet haben, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und zugleich Gestalter einer fairen Globalisierung zu sein."
Das Thema Globalisierung behandelt Hoffmann in seinem Kommentar wie folgt. Die Arbeit der Zukunft bräuchte viele Grundvoraussetzungen wie eine Bildungsoffensive. Hoffmann kritisiert Theorien, die für flexiblere Arbeitsmärkte stehen und fordert eine andere Lösung für die Rentenfrage. Klare faire verbindliche soziale Rechte und Spielregeln seien essentiell, um die Globalisierung in europäischen Märkten zu lenken. „Ein gemeinsamer Markt braucht zwingend europäische Regeln.“ Durch solche Regeln wäre z.B. unlauterem Wettbewerb vorgebeugt. Ein soziales Fortschrittsprotokoll solle „Grundrechten Vorrang gegenüber wirtschaftlicher Freiheit“ geben.

Auch die Handelspolitik wird von Hoffmann unter dem Aspekt des sozialen Europas betrachtet. Er sieht in den Handelsabkommen die Gefahr einer steigenden ungerechten Vermögensverteilung. Anstatt neoliberaler Handelspolitik möchte Hoffmann, dass man bei Handelsabkommen nicht den Druck auf Sozialstandards erhöhe, sondern diese achte und ausbaue. Ganz allgemein wünscht er sich eine andere Wirtschaftspolitik mit Fokus auf nachhaltigem Wachstum und ökologischer Modernisierung.

„Ob ein Kurswechsel gelingt, hängt von der europäischen Arbeits- und Sozialpolitik ab." Ein schlauer Policy-Mix mit sozialem Zusammenhalt kann das Vertrauen der Bürger wiedergewinnen. Weltoffenheit und Toleranz seien das richtige Gegenmittel gegen nationalistische Bewegungen.
„Die Europäische Union hat sich mehr und mehr von ihrem Anspruch verabschiedet, den sozialen Zusammenhalt zu fördern und zugleich Gestalter einer fairen Globalisierung zu sein.“
Sinkendes Vertrauen gegenüber dem politischen Establishment führt Hoffmann auf verfehlte Krisenpolitik zurück. Die Austeritätspolitik zerstöre Sozial -, Renten- und Tarifsysteme. Doch scheint gerade diese rigide Politik den „Grexit“ gestoppt zu haben. Griechenland bleibt in der EU und verzeichnet zudem sogar Wirtschaftswachstum.

Des weiteren kritisiert Hoffmann scharf den „rechtspopulistischen“ Druck, der durch eine sinkende Solidarität und sinkendes Vertrauen der EU-Bürger in die Politik entsteht. Sind es doch z.B. in Österreich fast 50% der Wähler gewesen, die bei der Bundespräsidentenwahl für den „rechtspopulistischen“ Kandidaten gestimmt haben. Eine Stigmatisierung ist aber meiner Meinung nach nicht angebracht. Unzufriedenheit in einer Demokratie muss sich äußern können, ohne in eine radikale Ecke gedrängt zu werden. Mit dem Finger auf andere zeigen, deren Meinung man nicht teilt, ist alles andere als sozialer Zusammenhalt.

Auch die "Flüchtlingskrise" scheint Mitursache für einen „Rechtsruck“ zu sein. Falsche bzw. nicht nachvollziehbare Lösungen sorgen in den Augen der Bürger für Unzufriedenheit und folglich für eine Integrationskrise. Gerade bei diesem Thema hätte sich solidarisches Handeln aller EU-Mitgliedstaaten als sinnvoll erwiesen. Eine gerechte Verteilung innerhalb der EU-Mitgliedsstaaten, finanzielle, soziale und bildungstechnische Unterstützung hätte die Flüchtlingskrise zu einem kleineren Problem für einzelne Statten gemacht.

Ich finde, dass gerade an solchen Beispielen deutlich wird, wie EU-Mitglieder ein sehr einseitiges Bild von Solidarität haben. Sobald ein gewisser Staat ein bestimmtes Maß an Nachteilen erreicht, die die Vorteile aber längst nicht überwiegen, ist ihnen die EU-Solidarität nicht mehr genehm. Gerade schwächere Staaten, die von finanziellen Leistungen der Europäischen Union profitieren, hätten sich meiner Meinung nach solidarischer gegenüber den Mittelmeerstaaten zeigen müssen. Das wäre sozialer Zusammenhalt gewesen.

Hoffmann zieht viele Parallelen zur Vergangenheit, um an ihnen aufzuzeigen, wie ein „Europa mit mehr sozialem Zusammenhalt“ aussehen kann. Diese Parallelen sind schlüssig. Der gesicherte Frieden nach dem Weltkrieg dürfe nicht aus den Augen verloren werden. Hier stimme ich ihm natürlich voll und ganz zu. Frieden ist ein hohes Gut und sollte unter allen Umständen gewahrt werden. Trotzdem darf man sich auch als Friedensvorreiter von seinen Nachbarn nicht alles gefallen lassen. Die Annexion der Krim durch Russland z.B. war eine sehr schwierige Angelegenheit, in welcher der Frieden sehr stark in Gefahr geraten ist.

Erhebliche Investitionen in den Sozialstaat mit dem Ziel einer „in hohem Maße wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft“, seien bereits getätigt worden. Als einziges Integrationsmodell stemme sich die EU mit Erfolg gegen den „bösen“ Neoliberalismus des freien Marktes. Klar ist, dass die Etablierung der sozialen Marktwirtschaft ein voller Erfolg für die EU und ihre Bürger war. Niemand sonst hat ein solch soziales, aber doch freies Wirtschaftssystem.

Hoffmann allerdings vertritt eine klassisch linke Position und möchte die Freiheit des Marktes gerne mehr zu Gunsten der Arbeitnehmer einschränken. Oft wird hierbei vergessen, dass die soziale Marktwirtschaft aber auch rentabel für internationale Konzerne sein bzw. bleiben muss. Wie weit sollte man in die Marktwirtschaft eingreifen? Das ist die Frage. Der Mittelweg mit Rücksicht auf beide Positionen scheint mir der richtige.

Reiner Hoffmanns Erkenntnis, dass nach den großen Erweiterungen um die Staaten Mittel- und Osteuropas die Unterschiede in der ökonomischen Integrationsfähigkeit und politischen Integrationswilligkeit zugenommen haben, ist durchaus nachvollziehbar. Heute gibt es in der EU 28 Mitgliedsstaaten. Der „Club“ der Mitgliedsstaaten ist drastisch gewachsen und das in einem sehr schnellen Tempo. 2004 wurden gleich 10 neue Staaten aufgenommen. Dass bei einer solch schnellen Eingliederung viele Interessen unter den Tisch fallen, ist wohl verständlich und notwendig. Weiterhin kann ich verstehen, dass die Konkurrenzfähigkeit der Länder an ihren Lohnstückkosten, an Sozial- und Abgabemodellen festgemacht wird.

Jedoch hätte meiner Meinung nach vor der Erweiterung Veränderung in den genannten Punkten stattfinden müssen. Eine solche tiefgreifende Veränderung ist meiner Meinung nach nicht die Aufgabe der Europäischen Union. Doch erscheint hier das Problem, dass z.B. gleiche Lohnkosten für gleiche Arbeit, bei unterschiedlicher Qualifikation, wirtschaftlich nicht vertretbar ist. Der gesamten Diskussion greift man voraus, indem man Bildungsreformen startet und einheitliche Abschlüsse mit derselben Qualifikation und denselben Lehrinhalten einführt. Auch Hoffmann greift diese Idee ähnlich auf, in seinem Abschnitt über die Debatte der Arbeit der Zukunft. Zustimmen würde ich ihm besonders bei seiner Kritik an der Lösung der Rentenfrage. Eine Erhöhung des Rentenalters kann nicht die Lösung sein, zumindest nicht für die Bürger. Ebenso glaube ich, dass es faire Spielregeln geben muss, die Arbeits- und Sozialrechte im Hinblick auf die Globalisierung regeln.

Bei der Handelspolitik hingegen bzw. dem Thema Handelsabkommen kann ich nur bedingt zustimmen. Die positiven Seiten eines Handelsabkommens werden völlig außer Acht gelassen. Die Vermögensverteilung der Welt ist keines Falls gerecht. Allerdings könne ein Handelsabkommen unter Berücksichtigung dieses Wissens auch Vorteile mit sich bringen. Gerade mittelständische Unternehmen, welche Zölle usw. als große finanzielle Hürde betrachten, könnten von einem Handelsabkommen profitieren. Folglich könnte auch der kleine Mann Gewinne erzielen. Genau wie Hoffmann finde ich, dass gewisse Normen und Rechte bei einem Freihandelsabkommen nicht unter den Tisch fallen dürfen. Unabhängige Schiedsgerichte und geheime Verhandlungen sind wider jeden demokratischen Verständnisses.

Recht hat Hoffmann, dass die europäische Wirtschaftspolitik durchaus nachhaltiges Wachstum und ökologische Modernisierung ins Auge nehmen sollte. Ob allerdings ein sozialer Aufbruch notwendig ist, würde ich mit Vorsicht betrachten. Oft ignoriert er die andere Seite der Medaille bzw. hat ein sehr linksgefärbtes Bild, was als Gewerkschaftsfunktionär durchaus nachvollziehbar ist. Allerdings glaube ich nicht, dass sozialer Zusammenhalt jedes Problem lösen kann, jedoch ein wichtiger Baustein sein könnte. Besonders fehlt mir persönlich die Art, wie sich Hoffmann sozialen Zusammenhalt vorstellt.

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