Freitag, 4. Mai 2018

Essay zu Sigmar Gabriels FAZ-Gastbeitrag "Die Zukunft einer großen Idee"

Sigmar Gabriel: Die Zukunft einer großen Idee, FAZ vom 15.02.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/zerfaellt-europa/sigmar-gabriel-ueber-europas-fluechtlingskrise-14069942.html)

Autor: Jonathan Schirling

Die EU steht vor einer Bewährungsprobe. Im Jahr 2016 stellten zwei Wirtschaftsexperten ein Szenario vor, das die EU als scheiterndes Konstrukt porträtiert (siehe hier). Auslöser der aktuellen Zerreißprobe und dem daraus entstandenen Unmut sind insbesondere die Finanz- und Flüchtlingskrise. Seitdem streben rechtspopulistische Parteien in mehreren europäischen Staaten danach, der EU den Rücken zu kehren. Mit dem Brexit wurde klar, dass ein Austritt aus der EU nicht nur als Drohung verstanden werden darf, sondern tatsächlich auch umgesetzt werden kann. Sigmar Gabriel versucht in seinem im Februar 2016 erschienenen Beitrag „Die Zukunft einer großen Idee“ zu klären, wie die EU diese Bewährungsprobe erfolgreich meistern kann.

Allen voran schöpft er dabei Kraft von den Gründungsvätern der EU. Gerade sie haben unheimlichen Mut bewiesen, indem „nur wenige Jahre nach dem Weltkrieg ein gemeinsamer Austausch an einem Tisch möglich gemacht wurde.“ Aus dieser Tatsache heraus gibt es für heute „keinen Grund, kleinmütig zu sein.“ Allerdings dürfen die jetzigen Probleme nicht kleingeredet werden. Wichtig ist für ihn an dieser Stelle, „das Bewusstsein für die Werte Europas neu zu schärfen.“

Ein Teil dieses Bewusstseins wird durch die Friedensfrage verkörpert. Die Sicherung des Friedens zählt zu den größten Erfolgen der EU und darf nicht durch protektionistische Verhaltensweisen erneut aufs Spiel gesetzt werden. Hinzu kommt das Freiheitsversprechen. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs konnten mittel- und osteuropäische Staaten in Europa „die Menschenrechte gegen Willkürherrschaft und Unterdrückung durchsetzen“, was sich wiederum in einem Bund des Rechts in der EU niedergeschlagen hat.

Die Rückbesinnung auf das Freiheitsversprechen innerhalb der EU ist in Anbetracht der Tatsache, dass Angriffe auf die Unabhängigkeit der Gerichte und der Medien sowie Ausgrenzungen von Minderheiten wieder häufiger zum Vorschein kommen, wichtiger denn je. Unkommentiert bleibt an dieser Stelle jedoch, weshalb diese Rückentwicklung gerade in den osteuropäischen Staaten seinen Lauf nimmt. Warum die EU gerade dort als „Feind“ angesehen wird und wie zukünftig gehandelt werden soll, damit die Bürger/-innen vor Ort wieder eine positive Haltung gegenüber der EU einnehmen, wird auch nicht geklärt.

Ein weiterer Pfeiler des Bewusstseins der EU ist, laut Gabriel, der gerechte Wohlstand. Er ist der Meinung, dass einige Europäer bereits vergessen haben, wie wertvoll die eigene Mitgliedschaft in der EU ist. Der von Jeremy Rifkin beschriebene und von ihm an dieser Stelle zitierte Europäische Traum verwirklicht „ein selbstbewusstes Gesellschafts- und Wohlstandsmodell, das keinen Menschen ausstößt und zurücklässt, Chancengleichheit organisiert und sich am Leitbild der sozialen Gerechtigkeit orientiert.“ Es bedarf somit ständiger Rückbesinnung auf die Erfolge, die von der EU erzielt worden sind. Hinzu kommt, dass die EU eine Vorbildfunktion im Bereich der Nachhaltigkeit einnimmt und als Akteur in der internationalen Politik anderen Großmächten auf Augenhöhe begegnen kann.

Wie es trotzdem zu den „sozialen, wirtschaftlichen und politischen Gegensätzen innerhalb der EU“ kommen konnte, versucht Gabriel mit der internationalen Finanzmarktkrise zu erklären. Speziell der Anstieg der Arbeitslosenquote von 7,5% auf 12% sowie die überdurchschnittlich hohe Jugendarbeitslosigkeit, beispielsweise in Griechenland (48%), Spanien (47%) oder Italien (40%), sind maßgeblich für die Verärgerung einiger Bürger/-innen der EU verantwortlich.

Griechenland konnte sich, anders als beispielweise Deutschland, nicht von der Krise erholen. Kritisiert wird hierbei von ihm, dass nun Milliarden über Milliarden Euro von der EU an internationale Gläubiger gehen, damit alte Kredite abgelöst werden können, aber kaum etwas investiert wird, um wirtschaftliche und soziale Bedingungen der Menschen in den Ländern sichtbar zu verbessern. In Anbetracht dieser Tatsache ist es nachvollziehbar, dass nun die Finanzschwachen nicht mehr an das Wohlstandsversprechen der EU glauben, obwohl finanzielle Hilfe von den reicheren EU Staaten bereitgestellt wird.

Gabriel plädiert durchweg für eine Schubumkehr in Europa: weg von der Politik der Desintegration und hin zu der verbindenden Erfahrung, dass gemeinsamer Wohlstand in Europa wieder möglich wird. Dieser Wohlstand kann beispielsweise durch die Bekämpfung von Steuerbetrug herbeigeführt werden, da es Luft für neue Investitionen schaffen kann. Wie die Bekämpfung von Steuerbetrug tatsächlich realisiert werden soll, lässt er bedauerlicherweise offen.

Darüber hinaus kann, so Gabriel weiter, die Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen nur gemeinsam erfolgreich gemeistert werden. Gerade hier ist also eine Politik der Integration unabdingbar, die von allen EU-Mitgliedsstaaten mitgetragen werden sollte. Eine „geordnete Verteilung“ kann bei dieser Herausforderung der Schlüssel zum Erfolg werden. In Staaten, die sich bisher weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, muss ein Umdenken her.

Dass die EU dabei afrikanische Staaten ausbeutet und durch erzwungene Freihandelsabkommen mitverantwortlich für die Flucht von unzähligen Menschen im Süden ist, erwähnt Gabriel leider nicht. Wünschenswert wäre an dieser Stelle gewesen, dass Gabriel konkrete Ansätze zur Fluchtursachenbekämpfung vorstellt, um das Problem nachhaltiger zu bearbeiten.

Die Ursachen der Schieflage, ausgelöst durch die Finanz- und Flüchtlingskrise, dürfen nicht voneinander getrennt betrachtet werden. Die Erholung der Finanzkrise und die erfolgreiche Bewältigung der Flüchtlingskrise sollten, so Gabriel, viel eher Hand in Hand gehen:
„Wir brauchen eine Erneuerung des europäischen Einigungsgedankens, die zwei Aufgaben miteinander verbindet: die wirtschaftliche Erholung der EU mit der Bereitschaft aller Mitgliedstaaten zu Lastenausgleich und Solidarität. Die Bekämpfung der viel zu hohen Arbeitslosigkeit mit einer gemeinsamen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Solange Deutschland nur die Solidarität bei der Flüchtlingsaufnahme einfordert, aber nicht bereit ist, mehr als bisher in Wachstum und Beschäftigung in Europa zu investieren, so lange wird uns auch niemand helfen. Nur beides zusammen wird uns aus der politischen Blockade herausführen.“
Ausschlaggebend ist für Gabriel dabei, dass in Europa wieder mehr über das Gelingen und weniger vom Scheitern gesprochen werden sollte. Dies scheint vermutlich erst dann möglich zu sein, wenn alle Bürger/-innen der EU die persönlichen Vorteile der Mitgliedschaft im Alltag wieder zu spüren bekommen. Vorher wird die große Idee Gabriels, die utopisch und phantastisch wirkt, wahrscheinlich nur eine Idee bleiben.

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