Samstag, 19. Mai 2018

Rezension zu Robert Menasse: Der Europäische Landbote

Menasse, Robert (2012), Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Zsolnay.

Rezension

Autor: Helge Wilhelm

Robert Menasses “Der Europäische Landbote“ beginnt mit der Geschichte der Europäischen Union nach dem Zweiten Weltkrieg. Er erzählt von der völligen Verwüstung Europas durch den Nationalismus und die zarten Anfänge einer schwierigen Einigung, in deren Verlauf Erbfeinde einander Kompetenzen für kriegswichtige Industrien abgetreten haben. Die ehemaligen Kriegsgegner, die sich in den beiden Weltkriegen in ungekanntem Ausmaß abgeschlachtet hatten, starteten, in der Einsicht begründet, dass so etwas sich nicht wiederholen darf, einen in der Geschichte der Menschheit einzigartigen Prozess, der dauerhaft Kriege auf europäischem Boden unmöglich machen und für einen dauerhaften Wohlstand für alle sorgen sollte.

Was mit Kriegsindustrie begann, entwickelte sich zum größten supranationalen politischen Gebilde der Menschheitsgeschichte, das von nun an zuallererst die Bewahrung und Verbreitung der rechtstaatlichen und liberalen Demokratie zur Aufgabe hat.

Robert Menasse beschreibt auf den ersten Seiten, nach den oben genannten Ausführungen, den großen Unterschied zwischen der viel gescholtenen EU-Bürokratie und den nationalen Bürokratien. Diese seien zu einer „Staatsräson verpflichtet, die das Rückgrat eines denkenden Menschen unter Umständen auch brechen kann“. Als Beispiel nennt er österreichische Diplomaten, die zwar ähnliches auf sich nähmen wie EU-Beamte, z.B. fernab der Heimat arbeiten und leben, aber dafür eben auch zweifelhaften Regierungen dienten.

Auch hier nennt er das Beispiel einer österreichischen Regierung, deren Amtszeit nun die österreichischen Gerichte beschäftigt. Im Gegensatz dazu seien die Beamten der EU-Kommission ausschließlich einer „aufgeklärten Rationalität“ verpflichtet und ihr Dienst unterscheide sich deutlich von der „aalglatten Schlüpfrigkeit, trübsinnigen Angepasstheit und protegierten Willfährigkeit“ nationaler Beamter.

Er fährt fort damit, zu beschreiben, wie er Brüssel als Prototyp Europas auffasst, dessen Regierungschefs werden einsehen müssen, dass ihre Zeit abgelaufen sei. Besonders übel stößt ihm auf, wie in der Griechenlandkriese ab 2010, dem Jahr, in dem Menasse nach Brüssel zog, um die EU kennen zu lernen, die deutsche Politik in einem nationalistischen Anfall die EU zum Sündenbock erklärte (übrigens mit Hilfe der Medien) und wie Deutschland anfing, Stück für Stück die Europäische Kommission zur Durchsetzung nationaler Interessen zu missbrauchen.

Ein wichtiger Punkt für Menasse ist auch die Frage nach dem Demokratiedefizit der EU. In der Tat ist es so, dass das Parlament in Brüssel kein Initiativrecht hat und die Kommission Recht sprechen kann gegenüber den Nationalstaaten, während sie gleichzeitig Politik macht. Der Grund für dieses Problem ist der Vertrag von Lissabon, der es ermöglichte, einen als Erfolg verkauften Vertrag zur Zementierung der Kompetenzen nationaler Regierungen zu machen und die Kommission entscheidend geschwächt habe. Auch wenn sich die nationalen Regierungen verbissen an ihre Kompetenzen klammern, so werden sie doch laut Menasse eines Tages durch eine immer stärkere Verflechtung und die immer wiederkehrenden Krisen Europas gezwungen sein, diese an ein System der „checks and balances“ auf europäischer Ebene abzugeben.

Dies sind nur zwei Beispiele dafür, wie nationale Regierungen, auch die deutsche, immer wieder versuchen, durch Verträge und sonstige Absichtserklärungen die europäische Integration zu verhindern und sich dafür von der heimischen Presse auch noch feiern zu lassen.

Robert Menasse fährt fort, den Rat der EU als den entscheidenden Störfaktor für die Einigung Europas auszumachen. Dieser habe den Nationalismus auf eine Ebene gehoben, die nun dafür sorgt, dass jedes Land für sich eigene Probleme bekommt. Hauptproblem ist, dass der Rat eine Institution ist, welche eigentlich darauf hinarbeiten sollte, sich selbst überflüssig zu machen, aber stattdessen werde er benutzt, um „nationale, neoliberale Interessen politischer und (finanz-)wirtschaftlicher Eliten“ durchzusetzen.

Die Wut der bürgerlichen Gesellschaften - und das sind laut Menasse alle Gesellschaften Europas heute - speise sich aus der schizophrenen Situation, dass dem Bürger auf der einen Seite Europa viel zu fern ist und zu abstrakt, aber auch lokale Angelegenheiten sind ein Problem, da sie ihm zu nahe sind. Also brauche es etwas in der Mitte, und das sei das Nationale. Da wisse doch jeder, was gemeint sei und jeder könne sich damit identifizieren. Dem wütenden Bürger falle dabei aber nicht auf, dass eben jene nationalen(!) Regierungen der Grund sind, warum Europa nicht recht funktionieren will und sie deswegen wütend sind.

Als Gegenvorschlag zu einem Europa der Nationen schlägt er ein Europa der Regionen vor, was es faktisch schon immer gewesen sei. Als Beispiel nennt er seine Heimat Österreich, in dem sich die Mentalitäten in den einzelnen Bundesländern stark unterscheiden würden. Er empfindet es auf den folgenden Seiten auch als einen riesigen Skandal, dass in der Europäischen Kommission Kultur quasi keine Rolle zu spielen scheint und berichtet von einer äußerst unfreundlichen Begegnung mit der Kulturkommissarin, die ihn aus ihrem Büro warf.

Robert Menasse ist davon überzeugt, dass der Rat ersatzlos abgeschafft werden müsse, um die „nachnationale Entwicklung der EU“ zu einem echten Bundesstaat voranzutreiben. Er sieht in den nationalen Regierungen und ihren Kungeleien das eigentliche Problem, da sie die europäische Entwicklung hintertreiben würden, da sie nicht länger in die Zukunft denken könnten als bis zur nächsten Wahl.

Menasse ist der festen Überzeugung, dass eine EU nur ohne Nationen funktionieren kann und dass wir uns verabschieden müssen von unseren Vorstellungen von Demokratie, welche noch aus dem 19. Jahrhundert stammen und für ein nachnationales Europa nicht geeignet seien.

Er wendet sich auch entschieden gegen die Vorstellung, dass wir eine Union nach dem Vorbild der USA verwirklichen sollten, da diese mit den Methoden und Denkmustern einer an Nationen gebundenen Demokratie europäischer Schule entstanden sei. Auch plebiszitären Formen einer europäischen Demokratie erteilt er eine Absage.

Robert Menasse sieht die Zukunft der EU in etwas Unbekanntem, etwas Neuem und etwas, das kein Vorbild kennt. Er sieht den Nationalstaat als die große Bedrohung für das europäische Projekt und ist der Ansicht, die Nation müsse überwunden werden.

Ich habe Robert Menasses Gedankengänge mit großem Interesse gelesen. Auch wenn ich ihm in vielen Punkten nicht zustimmen kann, sehe ich dennoch, dass sich hier jemand wirklich Gedanken gemacht hat. Er redet nichts schön und nichts schlecht. Er betätigt sich weder als Tagträumer noch als Untergangsprophet. Sein Buch ist interessant geschrieben, auch wenn es ungeordnet und die Kapitelaufteilung bisweilen willkürlich wirkt. Einige Textstellen erscheinen zusammenhangslos.

Seine Ansicht, die Nation müsse überwunden werden, damit Europa gelingen kann, halte ich gelinde gesagt für Unsinn. Eigentlich für gefährlich. Wir können nicht darüber hinwegsehen, dass die Geschichte der Völker und ihrer Nationen viel länger andauert und viel tiefergehend ist als die wenigen Jahrzehnte, in denen wir Europapolitik machen. Übrigens kann eine EU als Bundesstaat nur dann entstehen, wenn es auch Gliedstaaten gibt. Daher ist der Erhalt der europäischen Nationen für eine bundesstaatliche Einigung unabdingbar.

Auch die von europäischen Intellektuellen forcierte Anti-Amerika-Haltung ist hier nicht zielführend. Die EU-Kommission als EU-Regierung wird nur dann legitim sein, wenn deren Präsident auch von den Bürgern der EU gewählt wurde, wenn die einzelnen Kommissare in öffentlichen Anhörungen befragt und vom EU-Parlament abgesegnet worden sind. Dies muss so sein, um Transparenz und Öffentlichkeit für eine europäische Politik zu schaffen. Auch müssen die europäischen Parteien mit europaweiten Wahllisten antreten, um eine Identifizierung mit europäischer Politik zu ermöglichen und zu gewährleisten, dass Menschen es akzeptieren, wenn jemand aus einem anderen Staat und Kultur in ihrem Namen Gesetze (mit-)erlässt.

Kommt uns das bekannt vor? Richtig, genauso funktioniert die amerikanische Bundespolitik, die ein Territorium verwalten muss, das mit Europa locker mithalten kann. Europa hat sogar viel mehr Einwohner als die Vereinigten Staaten.

Wir brauchen klare, vertraute Strukturen, um so wichtige Aufgaben wie eine europäische Armee, Polizei, vielleicht eines Tages einen europäischen Geheimdienst usw. gestalten zu können. Wenn die EU in absehbarer Zeit zum Bundesstaat werden soll, muss sie einen Wiedererkennungswert für die Menschen in Europa haben. Dies geht nur, wenn sie sich an Vorbildern orientiert. Wie die EU am Ende in fünfzig oder mehr Jahren aussehen soll, ist momentan von nachrangiger Bedeutung.

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