Samstag, 21. Dezember 2019

Rezension zu Claus Leggewie: Europa zuerst!

Leggewie, Claus (2017), Europa zuerst! Eine Unabhängigkeitserklärung, Ullstein Verlag.

Rezension

Autor: Leon Glückert

Ein unabhängiges, offenes Europa. Man könnte sagen, das Buch sei eine „Unabhängigkeitserklärung“, welche in einem freiheitlichen und staatlichen System unerlässlich ist. Doch was genau heißt dies? Dies und vieles mehr erläutert uns der Politikwissenschaftler Claus Leggewie, der zurzeit an der Universität in Gießen aktiv ist, in diesem Buch.
„…vielleicht gibt es schönere Zeiten, aber dies ist unsere Zeit. Wir haben nur dieses Leben […] möglicherweise diese Revolution“.
So lautet ein Zitat des französischen Philosophen Jean Paul Sartre. Leggewie erwähnt es direkt am Anfang seines Buches, und ich finde es sehr treffend zur aktuellen Lage, denn es steht schlecht um Europa. Rechtsnationalistische Populisten gefährden die EU. Rassistische, nationalistische, fundamentalistische, egoistische Akteure stehen mittlerweile an der Spitze vereinzelter Länder. Parteien wie die Front National, Fidesz oder die AfD stehen inmitten unserer Gesellschaft, sie gehören mittlerweile dazu bzw. zum politischen Alltag.

Doch die Lage ist nicht hoffnungslos, es gibt viele Initiativen, die für ein freiheitliches, weltoffenes und gerechtes Europa eintreten. Leggewie nennt sie „Agenten des Wandels“, welche sich quer durch Europa erstrecken, sie bilden eine Stimme Pro Europa. Lautstark, überzeugend und effektiv! Doch in der öffentlichen, vor allem medialen Welt kommt diese Stimme oft zu kurz.

Nicht selten gehen sie in dem lautstarken und plakativen Gebrüll der Autoritären unter. Deshalb ist es wichtig, ein Fundament für ein gemeinsames EU-Verständnis zu schaffen, damit die Bürgerschaft erkennt, wie wichtig ein gemeinsames Europa für unsere Welt ist. Viel wichtiger ist jedoch, jedem Menschen eine Stimme zu verleihen. Denn Europa ist nicht nur ein „Kontinent“, es ist viel mehr.

Wir sind Europa, es hängt von jedem einzelnen ab. Man könnte sagen, es ist ein Wunder, aus was für einer „…Trümmerwelt [die] Europäische Union erwachsen [ist]“ (S.9). Es ist ein einzigartiges Modell supranationaler Kooperation, ein „Sui Generis“ oder - wie wir in unserem Seminar sagen würden - „ein Schnabeltier“. Die EU ist so einzigartig und wichtig für uns alle, dass es sich schlichtweg zu „kämpfen“ lohnt, damit die Autoritären, Plakativen und oft brüllenden Europagegner Grenzen aufgezeigt bekommen.

Gliederung

Leggewie gliedert sein Buch in drei Kapitel:
  • Im ersten Kapitel geht es um „Gezeitenwechsel“, eine Reise quer durch Europa, in denen er gewählte populistische Strömungen verstehen möchte, sie betrachtet und bewertet.
  • Das zweite Kapitel „Gegen den Strom“, zeigt uns Alternativen auf. Weg von der „lähmenden Fremdenfurcht, Terrorpanik […] hin zu Zukunftsthemen“ (S.15).
  • Im dritten Kapitel „Freibeuter“ werden „ein Dutzend“ konkreter Beispiele aus der Praxis Europa […] vorgestellt“(S.15).

I. Gezeitenwechsel

Gleich zu Beginn sollte man festhalten, dass der Alltagsbegriff „Populismus“ längst zu harmlos ist. Egal in welches Land man hineinblickt, hat er sich von einer anfänglichen EU-Skepsis hin zum völkisch-autoritären Nationalismus gewandelt. Es kristallisieren sich auch immer dieselben Schemata, die klare Unterteilung in Eigene und Feind sowie die EU als Sündenbock heraus. Doch ist es nicht so, dass die „Nationalisten“ nichts ohne Brüssel wären? Und sie ihren Aufstieg nur den einzelnen, aktiven Wählern und einer funktionierenden Demokratie zu verdanken haben (was im Widerspruch zu ihren vielen Parolen steht)?

Italien

Gehen wir zunächst einmal nach Italien, der Politologe Marco Tarchi nennt es: „das Land der vielen Populisten“ (S. 31). Falls es eine Schablone gäbe, um populistische Züge zu erkennen, würde Italien perfekt hineinpassen. Angefangen hat es mit Berlusconi und seiner „Forza Italia“. Er bezeichnete sich damals als „einer von euch“, als Mann des Volkes. Geprägt von Korruption, einer späteren Abspaltung von Norditalien und dem Slogan „Los von Rom und Brüssel“ geriet das Land in eine Starre von Problemen.

2009 kam es dann zur Gründung der Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) unter Beppe Grillo. Aus dem anfänglichen Hoffnungsträger entwickelte sich allerdings nach und nach eine radikale Haltung gegenüber Brüssel sowie anderen Instanzen. Anhand Grillo, Berlusconi oder Trump sieht man fabelhaft, wie sehr sich Politik und Medien verweben. „Showbiz und Berufspolitik verschwimmen“ (S. 39).

Ungarn

Ungarn galt anfangs als „Musterbeispiel postsozialistischer Transformation“ (S. 40). Später wurde das Land allerdings aufgrund von Korruptionsskandalen sowie dem Abdriften der Fidesz-Partei nach rechts zum Sorgenkind der EU. Letzten Endes kam es durch die Mehrheitspartei mit Orbán als zentraler Figur zur Beschneidung des Verfassungsgerichts. Die Demokratie begann aufzuweichen. Kritik gab es in Massen, hängengeblieben ist dagegen wenig. Sie prallte eher ab! Viel schlimmer noch, sie und das Brüsseler Ungarn-Bashing schürten die „Mobilisierungsreflexe der Rechtspopulisten in ganz Europa“ (S. 43).

Polen

Schließlich blickt Leggewie noch auf Polen, ein Paradebeispiel für eine „unterspülte Demokratie“. Fangen wir damit an, dass es vor allem Polen und „namentlich der Solidarnósc-Bewegung zu verdanken ist, dass es zu einer Wiedervereinigung Europas kam. Sie wollten einen gewaltfreien sowie friedlichen Abgang vom Sowjetblock, und dies mittels eines EU- und NATO-Beitritts untermauern. Polen war daher anfangs sehr respektiert, friedlich und ein starker Partner. 2015 dann der Bruch durch die PiS Partei (Recht & Gerechtigkeit), welche vor allem vom starken Land-Stadt Gefälle profitierte.

Schuld war wie zu erwarten die EU, aber auch die eigene „urbane Elite“, welcher einen Ausverkauf polnischer Interessen an Brüssel vorgeworfen wurde. Folglich kam es, wie es kommen musste. Die PiS-Regierung begann ihren „alarmierenden Kampf gegen das Verfassungsgericht, die Parlamentsopposition, die freie Presse und zuletzt die Armee, allesamt Stützpfeiler des Rechts- und Verfassungsstaates“ (S. 58). Man könnte schlichtweg behaupten, die Demokratie ist hier stärker gefährdet denn je. Leggewie schrieb: Die „PiS betreibt die Selbstmarginalisierung Polens“ (S. 59).

Zusätzlich droht die EU-Kommission dem Land mit Artikel 7 des EU-Vertrags, aufgrund des Vorgehens gegen das Verfassungsgerichts. Man stellt sich die Frage: Sanktioniert man Polen nun für ihre Taten, verstärkt somit aber den Zorn sowie die Sturheit der nationalistischen Regierung? Oder belässt man es bei einer Verwarnung, geht damit aber das Risiko ein, dass es andere Staaten Polen gleich tun würden. „Jeszcze Polska Nie Zginęła“ - „Noch ist Polen nicht verloren“ (S. 60), lautet es aus der gedichteten Nationalhymne, und so sollte es in ganz Europa erklingen. Widerstand nicht nur gegen die PiS-Regierung, sondern gegen all diejenigen, die sich gegen ein liberales, offenes und unabhängiges Europa aussprechen.

Die Lehren des Populismus

Es gibt noch zur Genüge andere Beispiele, um die Fehler und Lehren des Populismus zu ermitteln, doch diese drei sollten erst einmal genügen. Denn wenn man eines gelernt hat, dann dass der Populismus oft gleich verläuft bzw. ist. Zuallererst ist er „Gefühlspolitik“, unterteilt klar in oben und unten, genauer gesagt in das Eigene gegen das Fremde. Populisten wollen oft eine politische Wende, richten sich gegen die Europäische Union, Einwanderer, teilweise geht es auch gegen die eigene Verfassung.

Man darf bei aller Kritik jedoch nicht vergessen, dass auch populistische Strömungen legitime Ausdrucksformen, ähnlich wie die Ökologiebewegung, sind. „Ihr Ausdruck steht unter dem Schutz der Meinungsfreiheit“ (S. 113), solange er keine Rechte anderer verletzt. Letzten Endes haben also auch populistische Aussagen ihren Ursprung, bzw. Wahrheitskern, und diesen sollte man nicht ignorieren. Man sollte sich mit allen demokratischen Mitteln zur Wehr setzten und Widerstand leisten, denn davon lebt eine Demokratie sowie ihre Gesellschaft.

Die drei R´s gegen Populismus

Hier nennt Leggewie drei Varianten der politischen Auseinandersetzung, mit dem der autoritäre Nationalismus bekämpft werden soll:
  • Responsiver werden: Man sollte dem Nationalismus nicht nachgeben, ihn ernst nehmen und seinen Wahrheitskern finden. Die Wurzel der Probleme packen, ansprechen und angehen.
  • Resilienter werden: „Europa zuerst“ lautet hier der Slogan! Die Gesellschaft sollte mehr zusammenhalten, für die Demokratie eintreten, kämpfen aber vor allem nicht überreagieren (Bsp. Terror, Migration). Leggewie betont oft „der autoritäre Nationalismus ist ein Testfall für den Rechtsstaat“ (S. 117). Letzten Endes sollte man aber auch auf die „vierte Gewalt“ achten und wehrhaft die unabhängigen Medien und Gewalten verteidigen.
  • Resistenter werden: Falls es laut Leggewie nicht anders geht, sollte man notfalls „kämpfen“, selbst aktiv werden. Z.B, falls eine verbrecherische Regierung am Werk ist. Dies wird auch explizit durch das deutsche Grundgesetz (Artikel 20/4) gewährleistet.

II. Gegen den Strom

Unseren derzeitigen Europaprozess kann man bestenfalls als dahindümpelnd, schleichend bezeichnen. Doch es gibt zahlreiche positive, mutmachende und beispielhafte Aktivitäten, welche dem Ganzen neuen Elan, neues Leben einhauchen könnten. Jedoch muss man einen Moment innehalten, um all die Initiativen erkennen zu können. Leggewie unterscheidet drei Körbe, in die er all die positiven Zielsetzungen, Theorien und praktischen Ansätze der Ideen- und Aktionswerkstätten für ein besseres Europa legt.
  • #Teilhabe: Hier geht es um die Verwirklichung einer echten europäischen Staats- und Unionsbürgerschaft und um ein gemeinsames Demokratieverständnis.
  • #Solidarität: Dieser Korb ist ein Sammelbecken für all jene, die für ein gerechtes, soziales und gleichberechtigtes Europa eintreten.
  • #Nachhaltigkeit: Dort befinden sich all unsere zukunftsorientierten Aktivitäten, die ein humanes Leben (im übrigen auch für künftige Generationen) ermöglichen sollen.

III. Freibeuter

"Freibeuter" lautet der Titel des letzten Kapitels des Buches. Einsteigen möchte ich hier mit einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry, dieser sagte:
„Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer“ (S. 195).
Dies kann man wunderbar auf Europa beziehen, man sollte die Menschen, vor allem die jüngeren dafür begeistern. Aktiv zu werden, mitzugestalten und zu verstehen: warum genau? Und wofür brauchen wir Europa bzw. wozu nützt uns dieser (oft negativ darstellte) „Haufen da in Brüssel“ eigentlich?

Leggewie nennt die Personen daher „Freibeuter", ich bevorzuge eher die „Agenten des Wandels“. Sie alle sind Gruppierungen, welche aus ihren einzelnen Ländern hervorgehen und für ein gemeinsames Europa eintreten. Sie geben sich dem Zerfall nicht hin, sondern werden aktiv. Gemeinsam stehen sie für ein friedliches, gerechtes und demokratisches Europa ein.

Sie treten all jenen gegenüber, die nationalistisch, korrupt oder egoistisch handeln. Mit dem Hintergrundwissen, dass man dies alles nur bewältigen kann, wenn ein jeder mitwirkt, damit die Europäische Union demokratischer wird. Zudem bräuchte man eine europäische Öffentlichkeit, interne Medien, die auch öfter europäische Themen aufgreifen, damit auch diejenigen Prozesse und Aktivitäten verstehen, welche sich sonst nicht für die EU interessieren.

Fazit

Leggewies Aufforderung für eine Unabhängigkeitserklärung für Europa ist ein sehr spannendes, zukunftsorientiertes, aber auch teilweise recht spitz formuliertes Buch. Man bekommt einen schönen Überblick quer durch Europa, seine Staaten, deren Geschichte, Strömungen, aber auch Initiativen innerhalb deren Grenzen. Man kann sagen, es ist ein sehr lebendiges sowie frisches Buch, welches den „Ideen im Werden“ stark zugutekommt. „Europa ist eine Welt von morgen“ (S. 274).

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