Freitag, 13. Dezember 2019

Rezension zu Ulrich Beck: Das deutsche Europa

Beck, Ulrich (2012), Das deutsche Europa. Neue Machtlandschaften im Zeichen der Krise, Suhrkamp.

Rezension

Autorin: Nazdar Alicioglu

1953 warnte Thomas Mann vor einem „deutschen Europa“. Dies ist mit der Eurokrise Wirklichkeit geworden. Angela Merkel zwingt Europa die deutsche Sparpolitik auf. Dieser Essay handelt von den Folgen und den möglichen Alternativen zu dieser Politik. Er umfasst drei Kapitel:
  • „Wie die Euro-Krise Europa zerreißt - und verbindet“
  • „Europas neue Koordinaten der Macht: Wie es zum deutschen Europa kommt“
  • „Ein Gesellschaftsvertrag für Europa"
Die drei Kapitel umfassen eine Seitenlänge von 74 Seiten. Im folgenden fasse ich die Kapitel zusammen.


1. Kapitel: Wie die Euro-Krise Europa zerreißt - und verbindet

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft wurde mit der Unterzeichnung der Römischen Verträge errichtet. Europa ist eine Antwort auf den Horror des Holocaust und des Krieges. Europa ist ein Bündnis ehemaliger Welt- und Großmächte, die einen Ausweg aus ihrer kriegerischen Geschichte suchten.

Nach der Finanzkrise 2008 folgten viele Probleme. Ein gemeinsamer Markt mit gemeinsamer Währung ist durch die Europäische Union entstanden. Aber der Schritt zu einer echten wirtschaftspolitischen Union ist unterblieben. Deshalb war es unmöglich, die Ökonomie der Euro-Staaten zu koordinieren.

Die Europäische Union hat aber auch Fortschritte gemacht. Durch sie wurden aus Feinden Nachbarn, Bürger und Bürgerinnen der EU genießen politische Freiheiten und einen hohen Lebensstandard. Durch die Europäische Union gelang es den Ländern Griechenland, Portugal und Spanien, sich von einer Diktatur in eine stabile Demokratie zu verwandeln. Die Europäische Union ist einer der größten Markt- und Handelsblöcke der Welt.

Viele Errungenschaften der EU sind den Bürgern und Bürgerinnen der EU selbstverständlich geworden. Es geht darum, ein Europa zu schaffen, das in der Lage ist, auf den fundamentalen Wandel und die großen Herausforderungen Antworten zu finden, ohne in Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zurückzufallen.

Wenn man sich tiefgründig mit der Europa-Krise auseinandersetzt, dann muss man sich die Frage stellen, wie solidarisch Europa sein kann, wie solidarisch Europa sein soll und wie solidarisch Europa sein muss? Europa ist ohne seine Werte der Freiheit und der Demokratie und ohne seine kulturelle Herkunft sowie Würde nichts. Im Vordergrund der Europa-Krise dreht sich alles um die Schulden, Haushaltsdefizite und Finanzprobleme.

2. Kapitel: Europas neue Koordinaten der Macht: Wie es zum deutschen Europa kommt

Die Theorie der Risikogesellschaft setzt bei den Selbstgefährdungen der Moderne an und greift die Frage auf, wie angesichts drohender Katastrophen die nationalstaatliche Ordnung brüchig wird und wie sich das Verständnis von Macht, von sozialer Ungleichheit und vom Politischen als solches verändert. Bezüglich der Europa-Krise wurden drei Thesen ausformuliert.

In der ersten These geht es um eine Inflation der drohenden Katastrophen und Zusammenbrüche. Der Begriff des Risikos bezieht sich in der Risikogesellschaft auf in der Zukunft drohende Katastrophen. Diese Katastrophen sollen in der Gegenwart verhindert werden. Im Rahmen der Euro-Krise heißt das, dass es schon dramatische persönliche und soziale Katastrophen gibt. Im Hinblick auf Griechenland zum Beispiel konnten sich viele Griechen keine Arztbesuche oder Krankenhausaufenthalte mehr leisten.

Aber im Hinblick auf die Schlüsselsituation des Euros und der Europäischen Union kann von einer Situation des Risikos gesprochen werden. Die Katastrophe wäre der Zerfall der Währungsunion. Dies würde möglicherweise eine Kettenreaktion auslösen und somit die Europäische Union als Ganzes und die Weltwirtschaft in den Abgrund reißen. Die Risikogesellschaft ist nicht mit der Katastrophengesellschaft gleichzusetzen.

In der zweiten These geht es um die Kontrollierbar- bzw. Unkontrollierbarkeit der Großkrisen. In der dritten These geht es um die Botschaft des Risikos. Risiko ist immer eine politische Kategorie. Risiko befreit die Politik von alten Regeln und institutionellen Fesseln. Die Europäische Union kann sich in zwei Richtungen entwicklen. Im guten Fall gelingt es ihr endgültig, die kriegerische Geschichte der Nationalstaaten zu überwinden und auf dem Weg der demokratischen Kooperation die Krise unter Kontrolle zu bekommen.

Im anderen Fall bedeutet die Krise das Ende der Demokratie. Da die angeblich notwendigen Maßnahmen mit dem Hinweis auf die drohenden Katastrophen legitimiert werden und jede Opposition für unzulässig erklärt wird. Daraus ergeben sich vier Spannungsverhältnisse die sich jeweils durch zwei Begriffspaare charakterisieren lassen. Diese vier Dimensionen werden ausführlich erklärt.

1. Mehr Europa vs. Mehr Nationalstaat: Das Risiko des Zusammenbruchs Europas hat den Traum geweckt, ein neues Europa zu schaffen. Der Autor nennt diejenigen „Europaarchitekten“, die sich für mehr Europa stark machen und neue Ideen für den Umbau und Ausbau Europas entwickeln.

2. Von der Gefahr geboten vs. Von den Gesetzen verboten: Die „ Europaarchitekten“ agieren in einer schwierigen Lage. Ihr Kampf um mehr Europa ist von der Gefahr geboten, aber oft von den Gesetzen verboten. Einerseits haben sie die Vorstellung von einem bundesstaatlichen Modell, bei dem es eine zentrale europäische Instanz gibt, die von den nationalen Parlamenten die Haushaltshoheit übertragen bekommt. Andererseits stehen sie vor dem Problem, wie ein solcher Umbau der nationalstaatlichen in eine europäische Gesellschaftsordnung, Politikordnung und Rechtsordnung legitimiert werden kann.

3. Bedrohungslogik des Krieges vs. Bedrohungslogik des Risikos: In der Bedrohungslogik des Krieges geht es um Aufrüstung, es geht um die Abwehr oder Unterwerfung von Feinden. In der Bedrohungslogik des Risikos geht es um grenzüberschreitende Kooperation zur Abwehr von Katastrophen. Bei der Bedrohungslogik des Krieges ist der militärische Feind klar benennbar. Man verfügt über die notwendigen Informationen über die Ziele und über die Ausrüstung sowie über die militärische Stärke des Gegners. Im Rahmen der Bedrohungslogik des Risikos gibt es jedoch häufig keinen benennbaren Akteur und keine feindliche Intention.

4. Globaler Kapitalismus vs. Nationale Politik: Der Autor skizziert drei Spaltungen der Europäischen Union. Die erste Spaltung ist zwischen Euro-Ländern und EU-Ländern, die nicht zur Währungsunion gehören. Die zweite Spaltung betrifft die Gläubigerländer und den Schuldnerländer. In der EU gibt es innere und äußere Außenseiter. Die inneren Außenseiter sind die, die den Euro haben, aber auf die finanzielle Hilfe der anderen Länder angewiesen sind. Also bilden die Schuldnerländer die neue Unterklasse der EU. Die äußeren Außenseiter sind die Länder, die zwar zur EU gehören, aber nicht den Euro haben. Durch die beiden Spaltungen hat sich eine dritte Spaltung realisiert, die Spaltung in ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.

Die drei skizzierten Spaltungen stärken die Vormachtstellung Deutschlands in der Europäischen Union. Erstens ist Deutschland das reichste, wirtschaftsmächtigste Land der EU. Merkel ist weder solidarisch mit den Europäern, noch unterstützt sie die Fraktion der Europa-Skeptiker, die jede Hilfe verweigern wollen. Wo es um deutsche Hilfsgelder für die Schuldenstaaten geht, gibt Angela Merkel keine klare Antwort, sondern ein machtpokerndes Jein.

Zweitens geht es um das Zögern als Zähmungstaktik. Die Strategie der Verweigerung ist der zentrale Hebel der Wirtschaftsmacht Deutschland im Europa des Finanzrisikos. Drittens: Merkel möchte im Inland geliebt und im Ausland gefürchtet werden. Somit stärkt sie ihre Machtposition und die des deutschen Europas. Viertens: Merkel will den Partnerländern vorschreiben, was in Deutschland als Zauberformel für Wirtschaft und Politik gilt.

Es gibt zwei unterschiedliche Arten von Kooperationen. Kooperation kann wechselseitig geschehen oder auf der Grundlage von hieratischer Abhängigkeit. Die mächtigen Staaten können also auf einen Machtgewinn durch Kooperationen hoffen, während die Schuldnerstaaten sich fürchten müssen und die Regeln der mächtigen Ländern befolgen müssen. Deutschlands Aufstieg und die mächtige Stellung Deutschlands ist der Finanzkrise und der Antizipation der Katastrophe zu verdanken.

Deutschlands Wirtschaft ist sehr stark. Die starke Wirtschaft Deutschlands löst einen Nationalstolz bei den Deutschen aus. Die Deutschen wollen nicht länger als Rassisten und Kriegstreiber betrachtet werden. Sie wollen lieber als Lehrmeister und moralische Aufklärer Europas verstanden werden. Es gibt bezüglich der Europäisierung zwei Arten der Integration und Kooperation. Es gibt die gleichberechtigte Teilhabe oder die hierarchische Abhängigkeit. Es gibt vier Prinzipien der europäischen Vertrauensbildung. Die Prinzipien stellen eine unverzichtbare Grundlage einer europäischen Gesellschaft dar, die für die Vertrauensbildung notwendig sind.
  • Das Prinzip der Fairness: Mit dem Ausbau der Europäischen Union werden auch immer Abhängigkeiten und Verpflichtungen geschaffen. Die entsprechenden Verfahren und die Ergebnisse müssen von allen Beteiligten als fair und gerecht wahrgenommen werden.
  • Das Prinzip des Ausgleichs: Europa sollte dem Schutz der schwächeren Staaten Vorrang gewähren. Es muss einen Ausgleich zwischen großen und kleinen, mächtigen und weniger mächtigen Staaten geben.
  • Das Prinzip der Versöhnung: Der Umgang mit schwächeren Partnern muss durch eine Politik der Versöhnung gekennzeichnet sein. Gegensätze dürfen nicht durch Schuldzuweisungen und Herabsetzungen verschärft werden.
  • Das Prinzip der Verhinderung von Ausbeutung: Starke institutionelle Sicherungen sollen verhindern, dass die starken Länder die Schwächen der anderen Ländern ausnutzen und zu ihrem Vorteil verwenden.
Das deutsche Europa verstößt gegen diese Grundbedingungen einer lebenswerten europäischen Gesellschaft. Das wechselseitige Vertrauen der Bürger wird mit der Taktik des Zögerns, Zähmens und Disziplinierens zerstört.

3. Kapitel: Ein Gesellschaftsvertrag für Europa

Im dritten und letzen Abschnitt geht es um die Frage, was Europa für die einzelnen Menschen bedeutet und welche Prinzipien sich für einen neuen Gesellschaftsvertrag daraus entwickeln lassen? Es geht um die Sicht der Individuen auf Europa.

Europa besteht aus demokratisch verfaßten Nationalgesellschaften. Also ist Europa keine Nationalgesellschaft. Die junge Generation erfährt die europäische Gesellschaft als „doppelte Souveränität“, als Summe nationaler und europäischer Entfaltungschancen. Die Jugendlichen definieren sich über ihre Nationalität und dann als Europäer.

Vertikale Europäisierung meint die Integration der Nationalstaaten auf der Ebene der Institutionen. Die jungen Menschen, die sich horizontal über alle Grenzen hinweg bewegen, haben einen ganz anderen Begriff von der europäischen Gesellschaft. Sie erfahren Europa vor allem als mobile Gesellschaft der Individuen, sie schätzen die Durchlässigkeit nationaler Grenzen, die Vielfalt der Kulturen etc.

Nationalgesellschaften werden durch Werte integriert. Solche Werte gibt es auf der europäischen Ebene noch nicht. Daraus ergibt sich die Frage, wie das gemeinsame Handeln zur Grundlage der demokratischen Partizipation in Europa erreicht werden kann? Die Antwort darauf lautet, mehr Demokratie durch „Doing Europe“. Dies meint, dass Demokratie nur in dem Maße lebendig werden kann, wie die Menschen sich selbst das Projekt aneignen und Europa gemeinsam bauen.

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