Mittwoch, 18. Dezember 2019

Rezension zu Thomas Schmid: Europa ist tot, es lebe Europa

Schmid, Thomas (2016), Europa ist tot, es lebe Europa. Eine Weltmacht muss sich neu erfinden, C. Bertelsmann. 

Rezension

Autor: Max Sperlich 

Europas Problemgebirge. Und die Kraft der Krise

Thomas Schmid beschreibt in seinem Buch „Europa ist tot, es lebe Europa“ die aktuelle Krise der Europäischen Union (EU) und liefert Lösungsansätze, wie der Verlust an Glaubwürdigkeit und Zustimmung aufgehalten und umgekehrt werden kann. Denn nach Meinung des Autors hat die Gemeinschaft Großes geleistet. Erstmals sind die Völker Europas vertraglich aneinander gebunden, wodurch die längste Friedenszeit in der Geschichte des Kontinents folgte. Nun sei es aber an der Zeit, so der Autor, die Institutionen der EU zu reformieren sowie ihren Regulierungs- und Vertiefungszwang zu überdenken.


Denn dadurch wird für viele Europäer die EU mehr als Last denn als Attraktion empfunden, viele begreifen die Gemeinschaft als bürokratisches Monster, das eher Angst als Begeisterung hervorruft. Wut macht sich unter ihnen breit, sie formieren sich und wollen zurück zum Nationalstaat, um die volle Souveränität ihres jeweiligen Landes zurückzugewinnen. Das Aufkommen der Populisten mit ihren einfachen Lösungen ist ein Ausdruck dieser Unzufriedenheit. Damit wird die EU durch ihren Reformstau erstmals in ihrer Existenz bedroht, denn es war ein elementares Ziel der Gemeinschaft, eben diese Nationalstaaten aufgrund der historischen Erfahrung zu überwinden. Und dies wird erreicht durch teilweise Übertragung staatlicher Aufgaben an eine höhere Instanz.

Der Austritt Großbritanniens aus der Gemeinschaft, der Brexit, spiegelt diese Entwicklung wider. Erstmals tritt ein Land aus der EU aus, um seine volle Souveränität zurückzugewinnen. Es besteht die Gefahr, dass es Nachahmer gibt, wodurch die Existenz der Gemeinschaft ernsthaft bedroht wäre. Und auch in der Flüchtlingsfrage haben die EU-Staaten bewiesen, dass sie nicht gemeinsam handeln und mit einer Stimme sprechen können. Viele Staaten schotten sich ab, offene Grenzen, ein Merkmal der EU, werden geschlossen. Mit Zäunen und Stacheldraht hatte man versucht, der Flüchtlingsströme Herr zu werden. Vereinbarte Regeln, Grundpfeiler der Union, wurden gebrochen oder für nichtig erklärt. Erstmals wurde es möglich, dass der europäische Einigungsprozess zum Erliegen kommt. Dass Reformen in der EU notwendig sind, ist daher offensichtlich. Die Gemeinschaft ist in einem denkbar schlechten Zustand. Sie wird nicht nur von schweren Krisen erschüttert, sondern auch in ihrer Existenz bedroht. Ihre Auflösung, ihr Scheitern erscheint erstmals möglich.

Diesen Pessimismus teilt Thomas Schmid nicht. Er zeigt im vorliegenden Buch die Probleme auf, die die jetzigen Krisen hervorgerufen haben und bietet Lösungsansätze für Reformen, die eine andere, bessere EU herbeiführen. Er macht Vorschläge, wie das Gefüge der Union so verändert werden kann, dass es fehlerfreier wird. Durch diese Reformen würde es für die EU-Staaten möglich, ohne Verlustgefühl von der überkommenen Vorstellung nationaler Selbständigkeit Abschied zu nehmen. Europa müsse zu einer Weltmacht werden, jedoch nicht im herkömmlichen Sinn durch Großmacht- und Großmannsdenken. Europa soll, auf der Basis einer Rechtsordnung, die Zukunft durch Verhandeln und durch Abschluss von Verträgen gestalten. Zielerreichung durch die Macht des Rechts anstelle von Gewalt und Zwang.

Schmid identifiziert insgesamt fünf Problembereiche, die er für die derzeitige Krise der EU verantwortlich macht:
  • die Einführung des Euro,
  • die Rückkehr der Geopolitik durch Putin,
  • die Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU,
  • die Flüchtlingskrise,
  • den Austritt Großbritanniens aus der EU.

a) Einführung des Euro

Nach Schmid ist das Wunder des Euros ausgeblieben. Sämtliche Ziele und Erwartungen seien ausgeblieben. Die Einheitswährung habe Europa nicht vorangebracht. Es war ein großer Fehler, so der Autor, den Euro vor der politischen Einheit einzuführen. Schmid stellt fest, dass die Krise der Einheitswährung politisch wie demokratisch zweifelhafte Rettungsmaßnahmen ausgelöst haben. Es sei unwahrscheinlich, dass die ständigen Manöver zur Rettung des Euro, nach dem Motto koste es was es wolle, jemals Erfolg haben werden. 

b) Rückkehr der Geopolitik durch Putin

Völlig unvorbereitet wurde die EU von der neuen, aggressiven Expansionspolitik unter Führung Vladimir Putins getroffen, oder anders ausgedrückt, sie wurde von ihr kalt erwischt. Er ist zur klassischen Machtpolitik zurückgekehrt. Russland sei wieder ein Land geworden, so Schmid, das Angst und Schrecken verbreitet. Die EU war nicht in der Lage, auf diese Krise mit einer Stimme, mit einer gemeinsamen Außenpolitik zu reagieren. Man begriff nicht, welche Gefahr von dieser Machtdemonstration Putins ausging. Er versuchte, den Völkern Europas zu vermitteln, dass es auch anders, dass es auch ohne Verhandeln und Verträge geht. Und in den heutigen modernen Gesellschaften ist das Leben komplex, jeder ist gewissermaßen selbst verantwortlich für die Gültigkeit seiner Werte. Dies ist nicht immer einfach, man sehnt sich nach Einfachheit, Sicherheit und nicht zuletzt nach dem starken Mann. Dieses Verlangen hat Putin durch sein rücksichtloses Vorgehen in der Ukraine bedient. Auch hier haben Populisten erneut Zulauf erhalten, und Europa war nicht in der Lage, auf die bedrohlichen Zeichen angemessen zu reagieren. 

c) Aufnahme der mittel- und osteuropäischen Staaten in die EU

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion suchten viele Staaten Mittel- und Osteuropas politischen Schutz in der EU und militärischen in der Nato. Die Angst vor allem von Polen, das in Russland eine Gefahr für ihr Land sah, machte eine Aufnahme dieser Staaten in die EU zwingend. Aber es gab die Mitgliedschaft nicht umsonst. Wer Mitglied in der EU werden will, muss die Kopenhagener Kriterien erfüllen. Diese Kriterien sind zum Beispiel die Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Schutz von Minderheiten sowie eine funktionierende Marktwirtschaft. Diese Kriterien zwangen die Bewerber, ohne das nötige Know-how, quasi über Nacht, einen Unrechtsstaat in einen Rechtsstaat zu verwandeln und die Wirtschaft aus der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft zu überführen. Gewaltige Aufgaben, die schwerste Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt hervorriefen und teilweise mit bitterer Armut einhergingen. Da der Abstand zu den westlichen Ländern bis heute nicht aufgeholt ist, fühlen sich die Osteuropäer oftmals als Europäer zweiter Klasse, mehr als Gäste denn als vollwertige Mitglieder. Zudem hatten sie sich gerade aus den Klauen der Sowjetunion befreit und wollten eigentlich einen eigenständigen, souveränen Nationalstaat gründen und entwickeln. Doch mit dem Beitritt mussten sie erneut Souveränität abgeben, diesmal an die EU. Denn diese hatte Ziele und Aufgaben, die weit über die einer traditionellen Internationalen Organisation hinausgingen. Viele Probleme der heutigen Zeit würden einzelne Staaten völlig überfordern, sind nur auf einer höheren Ebene lösbar. Dadurch mindert die Mitgliedschaft zwangsläufig die Selbstständigkeit der Einzelstaaten. Dies lehnen die neuen Mitglieder Osteuropas ab. 

d) Flüchtlingskrise

Dass die Staaten vor allem aus Mittel- und Osteuropa Probleme mit der Abgabe von staatlichen Aufgaben an die EU haben, zeigt sich besonders deutlich, so Schmid, in der Flüchtlingskrise. Mit dem starken Anstieg der Flüchtlingsströme aus Syrien, aber auch aus Afrika wurde deutlich, dass nationalstaatliches Denken einzelner Staaten im Widerspruch zu den Grundpfeilern der EU steht. EU bedeutet, so der Autor, nicht mehr Herr im eigenen Haus zu sein und die Probleme anderer Länder als die eigenen anzuerkennen. Probleme in der Gemeinschaft zu lösen, kann nur gelingen, wenn die Einzelstaaten Souveränität nach Brüssel abgegeben, dies ist eine der Grundlagen der EU. Aber ausgerechnet in der Flüchtlingskrise, die ein Problem darstellt, das alle Staaten Europas angeht, hat sich die Union in ihre Einzelstaaten zerlegt. Europa erschien unfähig, den Strom der Flüchtlinge zu steuern. Die Gemeinschaft wurde von diesem Strom in ihre Einzelstaaten gespalten. Es schien, als raube dieser Strom der EU ihre Existenzgrundlage.

e) Austritt Großbritanniens aus der EU

Der Austritt Großbritanniens aus der EU hat gezeigt, dass es bei der Skepsis der Briten gegenüber der EU nicht beim Murren und Nörgeln bleiben muss. Das eigentlich Undenkbare, ein Exit, ist möglich geworden und nicht nur für sie, es könnten weitere folgen.

Was, so fragt Schmid, ist zu tun? Trotz aller institutionellen Reformen sei die EU immer unflexibler, schwerfälliger und starrer geworden. Die Ursachen dafür sieht der Autor in einer Grundausrichtung der EU, die in der Präambel des Vertrages zum Ausdruck kommt. Dort heißt es, dass die Gemeinschaft entschlossen den Prozess der Schaffung einer "immer engeren Union" der Völker Europas vorantreiben soll. Thomas Schmid hält dies für die Ursünde der EU. Denn die Staaten haben sich freiwillig zusammengetan, weil sie glaubten, dadurch friedlicher zusammenleben und mehr Wohlstand erzeugen zu können. Durch diesen Zusammenschluss binden sich die Länder aneinander. Aber diese Bindung sollte, gerade weil sie von Dauer sein soll, so locker wie möglich sein. Die eingegangenen Verpflichtungen müssen auch wieder aufkündbar sein. Sonst geht das Grundprinzip der Freiwilligkeit verloren. Schmid fordert, die Union solle eine freie Assoziation sein, sonst unterscheide sie sich nicht wirklich von der Zwangs- und Gewaltmethode, die in den Beziehungen von Einzelstaaten so oft zum Verhängnis wurde. Doch die Krise der Union sollte uns nicht in Panik versetzen, so Schmid. Es ist nicht die erste Krise, die Europa zu bestehen hat. Von Beginn an wurde die Gemeinschaft von Krisen geplagt. Sie hat sie alle überstanden, sie wird auch diese überstehen. Man kann durchaus sagen, die Krise ist das Lebenselixier der Union. 

Glanz und Elend der Einigung: Ein Zwischenspiel

In diesem Kapitel behandelt der Autor die Leistungen der EU, aber auch die Nachteile, die sich im Einigungsprozess ergeben haben. Als erstes hat die EU ein Kommunikationsproblem. Sie erklärt sich nicht gegenüber seinen Bürgern. Kaum ein Europäer versteht beispielsweise die Namen ihrer Organisationen oder ihrer Programme. Die Bürger werden einem Meer von Abkürzungen ausgesetzt, wie zum Beispiel ELER. Das ist der Europäische Landwirtschaftsfond für die Entwicklung des ländlichen Raums, oder EGFL, dies ist der Europäische Garantiefonds für die Landwirtschaft. Die Liste solcher Akronyme ließe sich nahezu unendlich fortsetzen. Diese Intransparenz ließe sich jedoch einfach lösen, würde man sich die Mühe machen, Worte und Begriffe zu finden, die ein Bauer in Bayern genauso versteht wie der französische Heizungsbauer. Zu lösen wäre das Problem auch, wenn man sich endlich dazu durchringen könnte, Englisch zur Amtssprache zu erklären.

Vorbildlich ist laut Schmid, oft allerdings im Gegensatz zur öffentlichen Meinung, der Beamtenapparat der Union, der deutlich schlanker ist als die nationalen Behörden. So kommen auf einen EU-Beamten etwa 10.000 EU-Bürger, in Berlin stehen einem öffentlichen Angestellten rund 34 Bürger gegenüber. Auch sieht er EU-Beamte deutlich aufgeschlossener gegenüber Veränderungen als die auf nationaler Ebene. Das ist aber auch ein Nachteil. EU-Beamte versuchen, so viele Kompetenzen wie möglich an sich zu ziehen. Hier findet der Hang zur Überregulierung seinen Ursprung. Und da den Brüsseler Bürokraten kein Regierungschef vorsitzt, wird die Entscheidungsmacht der politisch Verantwortlichen (Kommission) eingeschränkt. Der Autor fordert, dass die Kommission aufgewertet werden müsse, da die EU eine politische Institution ist. Die Kommission müsse mächtiger werden.

Und dies fängt bei der Personalauswahl an. Nicht wie bisher darf die EU als Abstellgleis für nicht mehr benötigte nationale Politiker gelten. Sondern die Auswahl der Mitarbeiter muss nach dem Motto „die Besten sind gerade gut genug“ erfolgen. Zusätzlich muss die Zahl der politischen Köpfe in der Kommission erhöht werden. Außerdem müsse die Kommission ihren paritätischen Repräsentanzcharakter ablegen und müsste sich mehr den Charakter eines Kabinetts zulegen. Dann wäre sie ein Gremium, das man in ganz Europa erkennen könnte. Auch müssten die Kompetenzen der EU noch mehr fokussiert und in eine Rangfolge gebracht werden. So würde die EU transparenter, ihre Aufgaben und ihre Tätigkeiten wären deutlicher sichtbar. Dies alles wäre ohne Vertragsveränderung machbar. Darüber hinaus sollte man das Prinzip aufgeben, dass jeder Staat einen Kommissar entsendet, der gleich zählt, unabhängig von der Größe seines Landes. Hierzu müssten allerdings die Verträge geändert werden, was eine sehr schwierige Aufgabe werden dürfte. Dies setzt großes Vertrauen zwischen den Einzelstaaten und einen respektvollen Umgang mit den kleineren Staaten voraus. 

Kein Land ist eine Insel. Werden sich die Briten wirklich vom Kontinent abwenden?

Der Autor sieht die Reaktion der EU auf den Volksentscheid der Briten einigermaßen skeptisch. Die verantwortlichen Politiker der Union hätten in ihren Kommentaren teilweise die Fassung verloren und in beleidigter, bisweilen verbitterter Art das Ergebnis des Referendums gedeutet. Besser wäre es gewesen, man hätte angemessen reagiert und zunächst einmal das Ergebnis akzeptiert, um dann aus dieser Akzeptanz heraus das Verhältnis der Insel zum Kontinent neu zu regeln. Großbritannien wird sowohl wirtschaftlich als auch institutionell mit dem Kontinent verbunden bleiben. Dies ist in einer sich immer mehr verbindenden Welt (Globalisierung) gar nicht anders möglich. Ein Zurück zu den Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts ist also sehr unwahrscheinlich. Diese neue Verbundenheit ist schon in Absatz 2 des Artikels 50 des EU-Vertrages geregelt. Dort heißt es, dass ein austrittwilliges Land ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts mit der EU aushandelt. In diesem Abkommen wird auch der Rahmen für die künftigen Beziehungen zwischen beiden festgelegt.

Ausgangspunkt für dieses neue Verhältnis könnte das im Februar 2014 ausgehandelte Reformprogramm sein. Dieses Programm sei ein willentlicher Schritt zurück, der zu mehr Akzeptanz und Flexibilität führe. Diese Reform beinhaltet verschiedene Wege der Integration für verschiedene Mitgliedsstaaten. Es gibt keine Verpflichtung, ein gemeinsames Ziel anzustreben. Des Weiteren sollten die nationalen Parlamente schnellere Mittel an die Hand bekommen, um übergriffige Rechtsakte aufzuhalten oder zumindest zu verlangsamen. So wäre sichergestellt, dass sich die Institutionen der EU ausschließlich mit Problemen befassen, die nur auf Gemeinschaftsebene gelöst werden können. Werden Maßnahmen getroffen, die die EU vertiefen sollen, so dürfen die Länder, die nicht der Union angehören (GB), nicht benachteiligt werden. Darüber hinaus sollte der Europäische Binnenmarkt wie auch die Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden. Auf der Basis dieses Reformpakets, so der Autor, ließe sich ziemlich schnell eine privilegierte Partnerschaft zu Großbritannien herstellen. 

Merkur und Mars: Mehr Außenpolitik

Nach Ansicht von Schmid braucht Europa eine gemeinsame Außenpolitik. Zu der neuerlichen Machtpolitik Russlands, die beispielsweise in der Annexion der Krim gipfelte, konnte es auch deshalb kommen, weil die EU die Befindlichkeiten und Sorgen Russlands wegen der Erweiterung von NATO und EU nicht ernst nahm oder gar nicht erkannte. Zudem verlieren die nationalen Außenminister zusehends an Bedeutung. Zum einen weil die Regierungschefs der jeweiligen Länder zunehmend die Außenpolitik an sich ziehen und weil immer mehr an Außenpolitik nach Brüssel wandert. Dagegen wehren sich die Chef-Diplomaten. Die Folge ist, dass der Europäische Auswärtige Dienst nicht mehr bei der Kommission angesiedelt ist. Damit versuchen sie, die Außenpolitik in die Nationalstaaten zurückzuführen. Dies ist unzeitgemäß und ineffizient und hat zur Folge, dass auf außenpolitische Ereignisse, wie die Annexion der Krim, nicht angemessen reagiert werden kann. Es fehlt die einheitliche, mächtige Stimme Europas, die natürlich viel mehr Gewicht hat, als der außenpolitische Standpunkt eines einzelnen Mitgliedstaates. 

Gewollt oder nicht: Der Kontinent wird ein anderer sein

Die EU braucht eine gemeinsame Sicherheits-, Außen- und Verteidigungspolitik. Spätestens mit dem Aufkommen der Flüchtlingsströme ist es offensichtlich, dass durch nationale Antworten keine Lösungen herbeigeführt werden können. Es handelt sich um eine gesamteuropäische Herausforderung. Doch hierzu fehlt der politische Wille, da in den drei Politikbereichen der Kern nationaler Souveränität liegt. Deshalb müssen die Regierungschefs der einzelnen Länder die Vergemeinschaftung dieser Politikbereiche vorantreiben. Dazu gehört auch eine entschlossene Mittelmeerpolitik, die sich auch den Problemen Syriens und Libyen annimmt, denn die Wurzeln vieler Probleme dieser Länder liegen auch in Europa begründet (z. B. Aufteilung der Einflusszonen im Nahen Osten durch Frankreich und Großbritannien nach der Zerschlagung des Osmanischen Reiches durch willkürliche Grenzziehung im Nahen Osten im Ersten Weltkrieg).

Nach Ansicht des Autors gehört die Türkei zu Europa. Dass sie Teil der islamischen Welt ist, widerspricht dem nicht. Sie könnte zum Brückenland zur islamischen Welt werden. Die EU solle aber neue Formen der Bindung unter Gleichen entwickeln, bei der es keine Hierarchien zwischen dem Mitglied und dem assoziierten Land gibt. Die Länder, die nur teilweise zur Gemeinschaft gehören, dürfen nicht minderen Ranges sein, so dass sie sich nicht als Mitglieder zweiter Klasse fühlen. Würde man die EU als ein Gebilde verstehen, dass unterschiedliche Geschwindigkeiten und unterschiedliche Koalitionen und Bündnisse erlaubte, könnte im Falle der Türkei darin eine Stärke liegen, indem sie als Mittler fungieren kann. Stärke deshalb, weil die EU hinter ihr steht. Zur EU dazugehören oder nicht, diese Credo müsste dann allerdings aufgegeben werden.

Der Euro: Eine Fehlkonstruktion ohne Exit

Schmid ist davon überzeugt, dass der Euro nur gerettet werden kann, wenn man sich zunächst davon verabschiedet, viel zu viele Volkswirtschaften mit unterschiedlicher Kraft zusammenführen zu können. Für die Rettung sei es daher notwendig, die Eurozone in zwei unterschiedliche Währungszonen aufzuteilen. In der einen Zone wären diejenigen Staaten, die die von der EU aufgeführten Stabilitätskriterien erfüllen könnten. Im zweiten Gebiet diejenigen, die das noch nicht können. Dadurch wären Erstere davon befreit, die anderen retten zu müssen. Und die Schwächeren wären davon befreit, auf Teufel komm raus ihre Wettbewerbsfähigkeit herstellen zu müssen. Beides würde den Populisten das Wasser abgraben. Jedoch liegt in dieser Konstruktion laut Schmid auch eine Gefahr, denn es könnte zu einer Zweiklassengesellschaf führen mit dem Ergebnis, dass die beiden Zonen gegeneinander aufgebracht werden. Insbesondere für Frankreich, das wohl in die Klasse der schwächeren Länder müsste, wäre dies inakzeptabel. Durch die Möglichkeit des Aufstiegs in die höhere Klasse durch Erfüllung der Stabilitätskriterien könnte dieses Zwei-Währungsgebiet schmackhaft gemacht werden. Vielleicht wäre dies ein Ansporn, die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes durch geeignete Maßnahmen zu erreichen. Nicht vergessen werden darf, dass ein solches Entzerren des Währungsraumes ein höchst riskanter Schritt ist und darüber hinaus äußerst kompliziert ist und deshalb eine Menge schwieriger Rechts- und Vertragsfragen aufwirft. 

Zuerst die Kultur?

Schmid plädiert dafür, dass sich das europäische Selbstverständnis selbst entwickeln soll. Die Berufspolitiker sollen sich da raushalten, da Europa keine eigene Identität besitzt. Gegebenenfalls soll die EU jeglicher Einflussnahme mit Autorität entgegenwirken. Eines könne die EU jedoch tun. Sie könnte endlich eine Amts- und Geschäftssprache in der Union etablieren, damit dem Sprachengewirr durch 24 Sprachen ein Ende gesetzt wird. Diese Einheitssprache könne nur das Englische sein, selbst dann, wenn Großbritannien aus der EU austritt. Denn jede andere Wahl würde dem entsprechenden Land eine Stellung geben, die ihm nicht zusteht (z.B. Frankreich oder Deutschland) und gleichzeitig die anderen Länder düpieren. Gleichzeitig wäre es ein Signal an die Engländer, dass sie auch weiterhin zu Europa gehören. 

Staatlichkeit ohne Staat: Die Zukunft beginnt jetzt

Im letzten Kapitel seines Buches versucht Schmid zu klären, wie die schwere Legitimationskrise der EU überwunden werden kann. Zwar habe die EU viele Kompetenzen an sich gezogen und Europa mit einem dichten Netz von Normen überzogen, jedoch scheinen die EU-Bürger weit weniger Probleme damit zu haben, als es Rechtspopulisten glauben machen wollen. Vielmehr liege das Problem darin, dass die EU irgendwie nicht griffig sei. Sie habe nicht die scharfen Kanten wie die nationalen Regierungen. Es gibt aber zwei Konstruktionen, die diesen Mangel nicht aufweisen: Auf der einen Seite das Europa der Vaterländer, der Nationalstaaten, meist von Europagegnern favorisiert. Auf der anderen Seite die Vereinigten Staaten von Europa. Beide Konstruktionen haben ausgedient.

Das Europa der Nationalstaaten steht völlig im Widerspruch zur Europäischen Union. Es ist die Gründungsabsicht der Union gewesen, eben diese Nationalstaaten zu überwinden. Denn die Geschichte der europäischen Nationalstaaten hat gezeigt, dass von ihnen nur Unheil und fürchterliches Leid ausging. Sie sind auch ein Anachronismus, da die zunehmend globalisierte Welt globale Probleme hervorbringt, die nur von übergeordneten Institutionen gelöst werden können. Doch ist zu beachten, dass es den Nationalstaat noch immer gibt und dass viele in ihm leben wollen. Deshalb muss er, so Schmid, auch wenn es paradox klingt, weiter gepflegt werden.

Auch die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa ist kein gangbarer Weg. Sie ist von großen europäischen Politikern immer wieder ins Gespräch gebracht worden, aber nie wurde man konkret, was die Vereinigten Staaten von Europa eigentlich seien sollten. Wie sie entstehen könnten, blieb immer vage und im Ungefähren, blieb immer bestenfalls ein theoretisches Konstrukt.

Schmid schlägt einen anderen Weg vor. Sämtliche Staaten Europas zeichnen sich, historisch betrachtet, durch eine Tradition aus, die allen gemeinsam ist: die Teilung der Macht. Es gab nie in den Ländern Europas die eine uneingeschränkte Macht, die die Strukturen einseitig prägte. Dies schlägt Schmid auch für die EU vor. Gravitationszentren und Gemeinschaftshandeln nur dort, wo es zwingend geboten ist (Verteidigung, Außen-, Sicherheits- und Umweltpolitik) oder wo es von Vorteil ist (Forschung). Die Kommission ist die Institution, die das Nationalstaatliche hinter sich gelassen hat. Sie schafft durch alle Nationalstaaten hindurch neue Wirklichkeiten.

Im Europäischen Rat und im Rat der Europäischen Union sind die nationalen Minister, also nationale Interessen vertreten und geben den Ton an. Dies ist das duale Entscheidungssystem der EU. Beides wird in ihm berücksichtigt: das Europäische und das Nationale. Hinzu kommt noch das Europäische Parlament und der Europäische Gerichtshof (EuGH) als weitere Entscheidungsträger (Teilung der Macht). Dabei unterliegen diese Institutionen dem strengen Subsidiaritätsprinzip, d.h. die EU darf nur solche Politikbereiche bearbeiten, die nicht von einer unteren Ebene bearbeitet werden könnte. Dieses Prinzip ist von den Mitgliedsstaaten rechtlich einklagbar. Schmid setzt sich für den Ausbau und die Weiterentwicklung dieser politischen Konstruktion ein als den für ihn einzig realistischen Weg, um die Identitätskrise der Union zu überwinden.

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