Mittwoch, 28. April 2021

Europäische Narrative und nationale Interessen

In diesem Beitrag stellt Hannah Kraus folgenden Aufsatz vor: 

Wirsching, Andreas (2006): Europa als Wille und Vorstellung. Die Geschichte der europäischen Integration zwischen nationalem Interesse und großer Erzählung. In: Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften, Vol. 4, S. 488-506 [online unter: https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/ZSE.2006.025/html]

Andreas Wirsching betrachtet in seinem Aufsatz die Geschichte der europäischen Integration aus bzw. mit zwei unterschiedlichen Perspektiven. Er fragt zunächst nach den Antriebskräften der europäischen Integration nach 1945, nach den Interessen, welche die europäischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg zusammenführten, sowie danach, welche "europäische Identität" sich schlussendlich hieraus entwickelte (S. 488).

Hier könne nach Wirsching die Geschichte der europäischen Integration bis zum Vertrag von Maastricht aus zwei verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden, die im Verlauf seines Aufsatzes im Hinblick auf die Anfänge der europäischen Integration diskutiert werden: Die „(neo)-realistische“ Perspektive und eine „konstruktivistische“ Perspektive, die Strukturen hinsichtlich ihres soziokulturellen Kontextes, in dem sie interpretiert werden, und durch den Sinn, der ihnen durch die Umstände zugeschrieben wird, untersucht. Das nationale Interesse wird hier von Wirsching als „die Resultante eines Kommunikationsprozesses“ (S. 490) bezeichnet, der durch Wahrnehmungen, Identitäten und Diskurse entsteht.

Wirsching spricht in diesem Zusammenhang von „imagined communities“ (deutsch: „vorgestellte Gemeinschaften“). Aus dieser Perspektive heraus impliziert der Begriff „imagined communities“, dass es sich bezüglich der europäischen Integration, des Entstehens der Europäischen Union, nicht um eine objektiv real erfahrene Gemeinschaft handelt, sondern dass diese Gemeinschaft durch die Wahrnehmungen und Vorstellungen der Menschen existent und „real“ gemacht wurde:

„Die Integrationsgeschichte erschiene dann vor allem geprägt durch eine bestimmte Vorstellung von Europa.“ (S. 490).

Wirsching fragt danach, ob und inwiefern die Geschichte der europäischen Integration parallel auch eine Form der europäischen „Meistererzählung“ produziert hat, die gewisse semantische Zwänge erzeugt und damit auf den Integrationsprozess selbst zurückwirkt (vgl. S. 490). Darüber, dass es eine europäische Kooperation und eine weiterführende europäische Integration überhaupt geben würde und sollte, herrschte nach Wirsching eine generelle Übereinstimmung der politischen Kräfte. Offen und problematisch war jedoch die Frage nach der tatsächlichen Gestaltung und Umsetzung eines solchen Prozesses (vgl. S. 491).

„Innerhalb des westlichen Teils von Europa gab es nach dem Krieg vielfache Blockaden. Zwischen 1945 und 1949 verhinderten sie zunächst ein genuines Verständnis unter den europäischen Staaten. Und der Grund hierfür lag vor allem in differierenden nationalen Interessen.“ (S. 491).

So wurde Deutschland, wenn es um die Möglichkeit einer europäischen Zusammenarbeit ging, zunächst nicht inkludiert. Nach Wirsching änderte sich dies jedoch ab dem Zeitpunkt, an dem die beteiligten Regierungen anfingen, die europäische Integration als eine Politik zu betrachten, die ihren eigenen nationalen Interessen dienten (vgl. S. 492). Ohne diese Ausrichtung der beteiligten Akteure an ihren nationalen Interessen wäre dieser ‚Richtungswechsel‘ wohl nicht geschehen.

„Natürlich gab es ein großes Maß an Idealismus. Aber ohne konkrete nationale Interessen würde dieser Idealismus versickert sein […].“ (S. 492).

Wirsching führt aus, dass das Voranschreiten der europäischen Integration insbesondere auf die Kooperation mit Frankreich zurückzuführen sei. Auch hier waren die nationalen Interessen Frankreichs von zentraler Bedeutung: Frankreich mangelte es an heimischer Kohle und es verzeichnete ein schwerindustrielles Defizit. Da Eisen und Stahl zu dieser Zeit noch immer als die ökonomische Basis militärischer Stärke und Großmachtpolitik galten, suchte die französische Politik in diesem Zuge bereits nach dem Ersten Weltkrieg nach Wegen, um Deutschland, das über reichlich Kohle und Schwerindustrie verfügte, in Schach zu halten.

Die Voraussetzung dafür war jedoch der Zugriff Frankreichs auf die deutschen Kohlereserven im Ruhrgebiet (vgl. S. 493). Wirsching ist der Meinung, dass die Verwirklichung des Schuman-Plans ohne die nationalen Interessen der USA, Frankreichs und Deutschlands, die „komplementär und gleichsam zahnradartig ineinander griffen“ (S. 459) kaum vorstellbar gewesen wäre.

Dabei wiesen die Interessen der USA in Richtung der Weiterentwicklung ihres Konzepts der „Hegemonie durch Integration“ (S. 495). Für Frankreich stellte der Plan bezüglich seines schwerindustriellen Defizits ebenfalls eine Lösung dar. Das galt auch für Deutschland, und zwar in dem Sinne, dass der Plan der jungen Bundesrepublik einen ersten Schritt zur internationalen Gleichberechtigung versprach (vgl. S. 495).

Das Nicht-Beitreten von Großbritannien sei demgegenüber auf „realistische“ Erwägungen bezüglich der grundsätzlich differierenden Interessensstruktur zurückzuführen, denn Großbritannien litt nicht wie Frankreich an einem Kohledefizit o.Ä. Wirsching spricht u.a. im Hinblick auf die Ereignisse bezüglich der EGKS von einem supranationalen Quantensprung der europäischen Integration, der aber (lediglich) auf der nüchternen Abwägung nationaler Interessen basierte (vgl. S. 495).

Im gleichen Zug nennt Wirsching aber auch den Faktor der "Meistererzählung". Hierbei führt er an, dass die beteiligten Akteure und Entscheidungsträger der europäischen Integration schon von Anfang an in einen spezifischen Kommunikationszusammenhang eingebunden waren und dementsprechend auch seinen semantischen Zwängen unterlagen. Dies äußerte sich u.a. in den Manifesten und Verlautbarungen der zahlreichen Gruppierungen, in denen einprägsame Begriffe und Zielvorstellungen wie Frieden, Föderation, Zukunft und Hoffnung zentral waren.

Die übergeordnete Leitvorstellung dieser Semantik war eine europäische Einigung jenseits des Nationalstaates. Nach Wirsching konnte sich aus diesen Gründen ein transnationaler Europa-Diskurs entfalten, obwohl der politische Weg dorthin auf einige Blockaden stieß. Insbesondere Churchill sorgte dabei mit seiner Rede von den „Vereinigten Staaten Europas“ hinsichtlich der europäischen Bewegung für Hoffnung und Auftrieb (vgl. S. 500).

„Bevor die eigentliche integrationspolitische Dynamik 1949/50 einsetzte, war also ein europäisches Narrativ entstanden, das bereits die diskursiven Elemente eines wirkungsmächtigen historischen Deutungsmusters bereitstellte. Im Sinne einer anhebenden „großen Erzählung“ verkörperte es die transnationale Vorstellung eines neuen Europa.“ (S. 500)

Aus diesem Zusammenhängen heraus seien nach Wirsching solche „konstruktivistischen“ und kulturgeschichtlichen Aspekte der europäischen Integration unbedingt zu beachten, denn „sie ergänzten den ‚realistischen‘ Mechanismus und wirkten gleichsam wie Öl im Getriebe“ (S. 500).

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