In diesem Beitrag stellt Lina Buchloh folgenden Aufsatz vor:
Klatzer, Elisabeth / Schlager, Christa (2016): Gender Mainstreaming oder Mainstream ohne Gender? Wirtschaftspolitische Steuerung in der Europäischen Union: geschlechterblind und gleichstellungsriskant; in: Femina Politica 2-2016, S. 37-48, online unter: https://doi.org/10.3224/feminapolitica.v25i2.25351.
Die Autorinnen tragen mit ihrem Artikel zu einer kritischen Bilanz der Errungenschaften der Gleichstellungspolitik bei. Die Gleichstellungspolitik wurde 1997 von der Europäischen Union mit dem Vertrag von Amsterdam als Querschnittsziel vertraglich festgelegt (vgl. S. 37). Des Weiteren analysieren die Autorinnen den geschlechterpolitischen Gehalt der EU-Wirtschaftspolitik und untersuchen den Einfluss der Gleichstellungspolitik in der budget- und wirtschaftspolitischen Steuerung der EU (S. 38). Das Ziel der Autorinnen ist es, reagierend auf die Defizite der Geleichstellungspolitik Handlungsansätze zu entwickeln, damit die Gleichstellungspolitik in Zukunft wirksamer werden kann. Im folgenden Abschnitt des Artikels fassen die Autorinnen die Charakteristika der neuen wirtschaftspolitischen Steuerung („EU Economic Governance“) zusammen:
- „Regelgebundenheit mit hoher rechtlicher Bestandskraft führt zu einer einseitigen Defizit- und Verschuldungsabbau-Ausrichtung und zu Sparzwang und Abbau von Sozialstaatlichkeit.“ (S. 38f.)
- „Mit der Formel „Wettbewerbsfähigkeit“ wurden Regelungen geschaffen, die den Druck auf Löhne erhöhen, den Abbau von Arbeitsrechten forcieren und Gewerkschaften schwächen.“ (S. 39)
- „Ein hohes Maß an wesentlichen wirtschafts- und budgetpolitischen Entscheidungskompetenzen wurde an eine kleine Gruppe der Wirtschafts- und Finanzelite übertragen.“ (S. 39)
Die Autorinnen schildern, dass im Zusammenhang der Economic Governance die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen, die Finanzministerien, das Generalsekretariat und der Rat der Finanzminister bei Entscheidungen im Bereich Budget und Wirtschaftspolitik einen großen Machtzugewinn erfuhren. Die daraus resultierenden Entscheidungen sind durch ihre Komplexität schwer nachzuvollziehen. Diese Prozesse, in die auch die Europäische Zentralbank mit eingebunden ist, bezeichnen die Autorinnen als intransparent. Entscheidungen auf wirtschaftspolitischer Ebene werden laut den Autorinnen demokratischen Institutionen entzogen und an informelle oder bürokratische Machtzentren übergeben (vgl. S. 39).
Im folgenden Abschnitt weisen die Autorinnen darauf hin, dass der Gender-Mainstreaming-Auftrag nicht zufriedenstellend erfüllt wurde. Bis auf die Arbeitsmarktpolitik sind „die Wirtschafts-, Budget- und Geldpolitiken ebenso wie die wirtschaftspolitischen Institutionen weiterhin weitgehend geschlechterblind […] und mit geschlechterpolitischen Schieflagen verbunden“ (S. 40). Die bisherigen Errungenschaften der Gleichstellungspolitik werden durch die geschlechterblinde Politik gefährdet.
Die Autorinnen beschreiben einzelne Aspekte dieser Machtverschiebung: Die institutionellen Veränderungen aufgrund der Economic Governance sind bereits geschlechterpolitisch, da die Institutionen, wie oben beschrieben, über größere wirtschaftspolitische Entscheidungsmacht verfügen und in einem hohen Ausmaß von Männern dominiert werden (vgl. S. 40).
Laut den Autorinnen nimmt die Überbeanspruchung von Frauen zu, allerdings werde die Notwendigkeit, bezahlte und unbezahlte Arbeit gleich zu betrachten, von den EntscheidungsträgerInnen untergraben. Die Autorinnen beschreiben, dass der Sozialabbau Frauen stärker betrifft, da sie z.B. durch Betreuungspflichten und gesellschaftliche Diskriminierung durchschnittlich niedrigere Erwerbseinkommen haben (vgl. S. 41).
Die Wirkung der Gleichstellungspolitik kann durch das Europäische Semester ermittelt werden. Hierbei soll sichergestellt werden, dass Empfehlungen (von EK und Rat) umgesetzt werden. Die Berichte der Kommission, die jedes Jahr im November mit Blick auf die Prioritäten und wirtschaftspolitischen Analysen für das kommende Jahr veröffentlicht werden, sind laut den Autorinnen häufig geschlechterblind. Die Mitgliedsstaaten sind nur bezüglich der Beschäftigungsquote dazu angehalten, Maßnahmen zu befolgen, die die Arbeitsanreize erhöhen sollen.
„Gleichstellungsaspekte sind, trotz der eindeutigen Rechtslage, dass sie eine Querschnittsmaterie sind, in den umfangreichen Dokumenten in den allerwenigsten Fällen enthalten. Im gesamten Mechanismus der Economic Governance wurde auf EU-Ebene kein Aspekt eines Gender Mainstreaming-Prozesses verankert“ (S. 42).
Die Autorinnen beschreiben, dass die Auswirkungen auf Frauen und Geschlechterverhältnisse in den länderspezifischen Empfehlungen 2014-15 „zur fiskalischen Konsolidierung, zur Förderung von Wachstum und Wettbewerb, zu Reformen des Gesundheits-, Pensions- und Steuersystems sowie zur Modernisierung der öffentlichen Verwaltung […]“ (S. 42) nicht thematisiert werden. Die EK erwähnt Frauen laut den Autorinnen nur in Bezug auf die Ziele zur Erhöhung der Beschäftigungsquote.
Die Autorinnen bezeichnen die EU als Wettbewerbsstaat, dessen Wettbewerbsstaatlichkeit durch die Economic Governance, den Euro-Plus Pakt und die Wettbewerbsfähigkeitsräte in den EU-Staaten weiter angetrieben wurde (vgl. S. 44). Genetti, auf den sich die Autorinnen im Folgenden beziehen, beschreibt Veränderungen von Politik, Gesellschaft und Staat mit folgenden geschlechterrelevanten Charakteristika:
- „Orientierung neoliberaler Diskurse und Praxen an männlichen Normen,
- Reprivatisierung und Refeminisierung von sozialen Reproduktionsaufgaben,
- Verschiebungen in den Bedeutungen von Privat und Öffentlichkeit sowie
- Herausbildung einer neuen hegemonialen Geschlechterordnung und eines neuen Genderregimes im Postfordismus“ (S. 44)
In der Schlussfolgerung kommen die Autorinnen zu folgenden Ergebnissen:
- Die Gleichstellungspolitik der EU erfährt eine Krise.
- Bisherige Errungenschaften der Gleichstellungspolitik werden durch geschlechterblinde Politiken und Institutionen, die männlich dominiert sind, gefährdet.
- „Trotz des Bekenntnisses der EU zu Gender Mainstreaming und der Verankerung von Gleichstellung als Querschnittsziel in den EU-Verträgen spielen gleichstellungspolitische Überlegungen in der Economic Governance praktisch keine Rolle“ (S. 45).
Die Autorinnen sehen für die Weiterentwicklung und Umsetzung der Geschlechterpolitik eine Transformation auf drei Ebenen für notwendig:
- Neukonzeptionierung von Ökonomie. Wirtschaft soll als vor- und versorgende Wirtschaft konzeptualisiert werden (dadurch können geschlechterpolitische Schieflagen erkannt werden) (vgl. S. 45)
- Emanzipatorische Transformation von Staatlichkeit: „Die öffentliche Organisation von universellen Care-Dienstleistungen für Kinder, Alte, Kranke und Behinderte, ein emanzipatorischer Um- und Ausbau des „Öffentlichen“ sowie wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Macht des Finanzsektors und multinationaler Unternehmen sowie zum Abbau der enormen Ungleichheit bei Vermögen und Einkommen sind dabei wesentliche strategische Ansatzpunkte“ (S. 46).
- „Ausbau geschlechtergerechter partizipatorischer Institutionen und Entscheidungsprozesse“ (S. 46).
Die Autorinnen sehen diese drei Faktoren „als Basis für praktische Gleichstellungspolitik“ (S. 47), durch welche Emanzipation und Gleichstellung in der EU wirksam werden können.
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