Freitag, 28. Januar 2022

Interne und externe Herausforderungen für die EU

In diesem Beitrag stellt Katharina Beyrle folgenden Aufsatz vor:

Lübkemeier, Eckhard (2021): Rechtsstaatlichkeit und Handlungsfähigkeit: zwei Seiten einer EU-Medaille; SWP-Aktuell, 49/2021, online unter: https://www.swp-berlin.org/10.18449/2021A49/.

Dr. Eckhard Lübkemeier ist Botschafter a.D. und Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe EU der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er stellt eine Erosion der Rechtsstaatlichkeit fest. Diese Erosion betreffe vor allem Ungarn und Polen. Um dieser negativen Entwicklung Einhalt zu gebieten, fehle dem Europäischen Parlament (EP) zum einen die Willenskraft und zum anderen würden vertragliche Hürden eine Sanktionierung erschweren.

Lübkemeier sieht in der Corona-Pandemie einen Hoffnungsschimmer. Die Corona-Pandemie führte zu einem wirtschaftlichen Einbruch in allen Mitgliedsstaaten. Währenddessen wurde aber auch der Haushaltsplan für 2021 bis 2027 beschlossen, der große Mengen an Finanzmitteln in Aussicht stellt. Diese Mittel sind konditioniert, das heißt, dass Länder, die die Rechtsstaatlichkeit missachten, die Mittel nur eingeschränkt oder gar nicht erhalten können. Lübekmeier ist der Ansicht, dass dieser Hebel konsequenter genutzt werden sollte. Dieses Streichen beziehungsweise Kürzen stehe auf der rechtlichen Grundlage des im EU-Vertrag (EUV) beschriebenen Selbstverständnisses der EU als Werte- und Demokratiegemeinschaft.

Lübkemeier sieht für die EU drei aktuelle Herausforderungen. Die EU-Gelder müssen effektiv eingesetzt werden, die EU muss die Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidung stärken und sie muss sich im Wettbewerb mit autokratischen Regimen behaupten. Um diese Herausforderungen zu meistern, sei eine stabile Demokratieunion die wichtigste Grundlage (vgl. S. 1).

2017 wurde gegen Polen das erste Mal ein Verfahren nach Artikel 7 des EUV eingeleitet. 2018 folgte das gleiche Verfahren gegen Ungarn. Die Kommission beschreibt dieses Verfahren als eines, das ein außergewöhnliches Instrument darstellt, mit dem die EU tätig werden kann, wenn eine Verletzung des Artikels 2 des EUV vorliegt (der Artikel bezieht sich vor allem auf die Werte und die Rechtsstaatlichkeit). Dieses Verfahren wurde gegen Polen und Ungarn eingeleitet, da die Kommission eine Unabhängigkeit der Justiz gefährdet sieht. Diese Gefährdung könne man aber auch schon in Rumänien, Kroatien und der Slowakei sehen. Die Kommission äußerte aber auch Bedenken hinsichtlich einer Einflussnahme auf die Medien in Österreich, Bulgarien, Malta und Polen (vgl. S. 1). 

Erste Herausforderung: EU-Gelder effektiv einsetzen

Die erste Herausforderung umfasst vor allem die Beseitigung der wirtschaftlichen Verluste der Corona-Pandemie. Die zur Verfügung gestellten Mittel sollen nicht nur für den Wiederaufbau verwendet werden, sondern auch für einen nachhaltigen Umbau von Produktion und Konsum. Die EU hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 klimaneutral zu werden. Dieser aufwendige Wandel birgt ein großes Konfliktpotential zwischen den Mitgliedsstaaten, da dieser mit hohen Kosten verbunden ist. Dadurch wird der Zusammenhalt der ganzen EU auf die Probe gestellt.

Die Corona-Pandemie brachte für die EU eine zwiespältige Lehre mit sich. Es zeigt sich ein Spannungsverhältnis zwischen den nationalen Reflexen, wie die Grenzschließungen, und auf der anderen Seite die Aufnahme gemeinsamer Schulden. Diese neuen Haushalts- und Aufbaumittel können durch neue Konditionalitätsregelungen zurückgehalten oder gar gestrichen werden, wenn die Rechtsstaatlichkeit nicht gewährleistet wird (vgl. S. 2).

Zweite Herausforderung: EU-Handlungsfähigkeit durch Mehrheitsentscheidungen stärken und erhalten 

Der Übergang von Einstimmigkeit zu Mehrheitsentscheidungen zeigte immer wieder ein Spannungsverhältnis zwischen Effektivität und Legitimität. Die Bereitschaft, überstimmt zu werden und den Beschluss dennoch zu akzeptieren, wird strapaziert, wenn nationale Interessen berührt werden. Das gilt vor allem, wenn zu den Minderheiten Mitgliedstaaten gehören, die keine Rechtsstaatlichkeit gewähren. Ein Beispiel dafür ist, dass Polen und Ungarn gegen die Flüchtlingsumverteilung stimmten.

Um eine Desintegration durch einen Konflikt zwischen Legitimität und Effektivität zu verhindern, möchten die Mitgliedstaaten immer möglichst im Konsens entscheiden. Dabei hilft es manchmal, die Vetomacht einzelner oder Gruppen einzuschränken. Diese Einschränkung begünstigt die Möglichkeit überstimmt zu werden und dann die Kompromiss- und Konsensbereitschaft zu erweitern. Heute wird meistens routinemäßig im Mehrheitsverfahren entschieden. Diese Abstimmungsoption führte und führt zu einem Kompetenzzuwachs für die europäische Ebene und hat die Handlungsfähigkeit gesichert (vgl. S. 2/3).

Bis heute ist aber die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) von dieser Entwicklung ausgenommen. Das verursacht viel Frustration bei den Mitgliedstaaten und in der Öffentlichkeit. Beispielsweise war die EU 2020 wochenlang unfähig, auf Repressionen gegen die belarussische Opposition mit Sanktionen zu reagieren. Selbst wenn manche interne Blockaden gelöst werden konnten, so leidet immer die Handlungsfähigkeit. Beschlüsse werden in dieser Hinsicht meistens zu spät oder in abgeschwächter Form gefasst. Auch einige Mitgliedstaaten blockieren Beschlüsse, indem sie nur zustimmen, wenn sie in anderen Bereichen Zugeständnisse bekommen.

Deswegen fordern einige die Abschaffung der Einstimmigkeitsentscheidungen in der GASP. Diese Forderung wird durch Deutschland, Frankreich, den Hohen Vertreter und die Kommissionspräsidentin von der Leyen unterstützt. Lübkemeier reflektiert, dass Mehrheitsentscheidungen zu mehr Handlungsfähigkeiten führen werden, was auch für die GASP gelten werde. Dafür müssen zwei Anforderungen erfüllt sein. Als erstes muss eine verlässliche Regeltreue gelten. Das bedeutet, die gegenseitigen Entscheidungen müssen respektiert werden, vor allem von den größeren Mitgliedstaaten, da diese einfacher eine Entscheidung verhindern können, durch eine größere Macht hinsichtlich wirtschaftlicher und formaler Kriterien. Als zweites muss es eine demokratische und rechtstaatliche Verfasstheit der EU und ihrer Mitgliedstaaten geben, denn Mehrheitsentscheidungen und Rechtsstaatlichkeit gehören zusammen (vgl. S. 3).

Mehrheitsentscheidungen haben aber auch eine Kehrseite. Erstens können diese Entscheidungen die ohnehin existierenden Konfliktlinien verschärfen und damit auch den Zusammenhalt in der EU an seine Grenzen führen. Zweitens werden Mehrheitsbeschlüsse mit Hilfe von Mitgliedsstaaten getroffen, deren Rechtsstaatlichkeit in Frage steht und damit wird die Legitimation untergraben. Drittens werden untadeligen EU-Mitgliedern das Vetorecht entzogen und gegen sie können Beschlüsse gefasst werden mit Unterstützung derer Mitgliedstaaten, deren Rechtsstaatlichkeit in Frage steht (vgl. S. 4).

Dritte Herausforderung: EU muss im Systemwettbewerb bestehen

Als dritte Herausforderung sieht Lübkemeier das Land China. China gelte nun als Weltmacht und habe als einziges Land das Potential, die USA wirtschaftlich und technologisch zu überholen. Aber nicht nur machtpolitisch stelle China eine Herausforderung dar, sondern China zeige sich auch als systematischer Gegenpol. Die Regierenden Chinas demonstrieren, dass Wohlstand und Weltgeltung nicht nur mit westlicher Demokratie und Marktwirtschafte einhergeht, sondern vielleicht sogar besser mit politischer Entmündigung und staatlicher Wirtschaftslenkung.

Am 15. Juli 2021 haben die USA und die EU bekundet, die Herausforderung durch China anzunehmen. Die USA und die EU sehen sich dabei selbst als Anker für Demokratie, Frieden und Sicherheit. Das einzufordern, funktioniere aber nur, wenn man das durch eigenes Vorbild zeigen würde („lead by example at home“). Denn nur wenn der globale Anspruch und die Wirklichkeit im eigenen Land übereinstimmen, dann könne man nach außen hin auch die entsprechenden Werte einfordern. In den USA ist sich die Biden-Administration bewusst, dass die eigenen Demokratiemängel erst behoben werden müssen, welche vor allem durch Trump offengelegt wurden. Das gleiche gilt auch für die EU. Diese muss eine intakte Demokratieunion sein, um sich gegen China behaupten zu können.

Zusammenfassend betont Lübkemeier, dass Krisen und Herausforderungen auch immer eine Chance für Korrekturen und Reformen bieten. Bei der Rechtsstaatlichkeit ist das wirksamste Mittel das Geld, um die betroffenen Länder zu einer Beseitigung der rechtstaatlichen Defizite aufzufordern. Zudem müssen die Kommission und die Mitgliedsstaaten zeigen, dass sie diesen Hebel auch in Gang setzten werden (vgl. S. 4).

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