Freitag, 3. Januar 2020

Rezension zu Roman Herzog: Europa neu erfinden

Herzog, Roman (2014), Europa neu erfinden. Vom Überstaat zur Bürgerdemokratie, Siedler Verlag

Rezension

Autorin: Dennis Nourê

In seinem Buch „Europa neu erfinden“ durchleuchtet der ehemalige Bundesverfassungsrichter und Bundespräsident Roman Herzog die Strukturen der Europäischen Union und hinterfragt diese kritisch. Auf den insgesamt 150 Seiten thematisiert er unter anderem den Vertrauensverlust zwischen den Bürgern der Mitgliedstaaten und den Amtsträgern der EU. Er spricht die Probleme klar an und versucht, Lösungsansätze zu liefern.

Das „Demokratie-Defizit“ der EU

Herzog sieht in der EU ein „Demokratie-Defizit“. Da jeder Mitgliedstaat eine Demokratie ist, diese Demokratien sich jedoch erheblich unterscheiden, stellt sich für ihn die Frage, wie sich daraus ein gemeinschaftliches Demokratieverständnis entwickeln lässt, an das zumindest Führungsorgane der EU gebunden wären.

Dabei sieht er unter anderem die fehlende "Nation" im Fall der EU als ein Problem. Mit dem Leitsatz „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, der in jeder Verfassung der Mitgliedstaaten verankert ist, überlegt Herzog, was überhaupt ein Staatsvolk ist, mit der Erkenntnis, dass es sich um einen Zusammenschluss aus entscheidungs- und handlungsbereiten Bürgern handelt. Dieses Volk bildet die Nation, die für jeden demokratischen Staat vonnöten ist. Die EU hat keine "Nation", da diese sich durch gemeinsame Kultur, Sprache und Geschichte auszeichnet.


Ein weiteres Problem, laut Herzog, ist die steigende Macht der EU-Kommission. Diese wird weder vom Volk gewählt noch vom Parlament. Die Parlamente in den Mitgliedstaaten haben eine weitaus größere Macht als das EU-Parlament. Darunter leide die Akzeptanz der Unionsbürger und führe zu einem Vertrauensverlust.

Der Vertrauensverlust wird gestärkt durch die Entscheidungsverfahren der EU. Es gibt keine Parlamentsdebatten, sondern Kommissions- und Ausschussverhandlungen. Dabei finden meist keine öffentlichen Diskussionen statt, da es keine europäische Öffentlichkeit gibt – keine Nation – und auch kein Versuch eingeleitet wird, eine Öffentlichkeit herzustellen. Somit fehlt die Transparenz der Aktivitäten sowie der Bürgerdialog.

Ebenso thematisiert Herzog die Möglichkeit einer Verfassungsgebung unter Betrachtung bisheriger Verfassungsgebungen. Er unterscheidet dabei zwischen einer bereits bestehenden und in einem eigenen Staat lebenden Nation und einer Neugründung eines Bundesstaats aus mehreren Staaten. Letzteres trifft auf die EU zu. Dafür müssten alle Mitgliedstaaten ihre Bürger abstimmen lassen. Die Verfassung tritt nur dann in Kraft, wenn eine bestimmte Anzahl an Staaten dafür gestimmt hat und auch nur in diesen Staaten. Die anderen Staaten könnten dann mit dem neugegründeten Bundesstaat neue Gemeinschaftsverträge verhandeln.

Zudem vergleicht Herzog die EU mit einer konstitutionellen Monarchie und sieht sie nur als teildemokratisch. Dies begründet er damit, dass das Parlament zwar von den Bürgern gewählt wird, also demokratisch, aber der Präsident der Kommission wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und dann vom Parlament gewählt. Der Präsident der Kommission setzt dann zusammen mit dem Ministerrat die restlichen Mitglieder der Kommission ein. Das Parlament stimmt über die gesamte Kommission ab, nicht über jedes einzelne Mitglied. Herzog sieht darin eine Gefahr für die parlamentarische Demokratie, gleichzeitig sieht er aber auch den Vorteil, dass das gesamte Parlament als Opposition fungieren kann.

Rechtscharakter der EU

Herzog stellt sich hier die Frage, ob die EU ein Staatenbund oder ein Bundesstaat ist. Hierbei kommt er auf keine klare Antwort, da es keine klare Grenze zwischen die beiden Begriffen gibt. Dabei gibt Herzog auch an, dass die EU über keine „Kompetenz-Kompetenz“ verfügt und somit kein Staat ist.

Ebenso würde in einem Bundesstaat Bundesrecht das Landesrecht brechen. In manchen Fällen steht das EU-Recht auch über dem Gesetz der Mitgliedstaaten, in anderen jedoch steht das Staatsrecht über dem EU-Recht, wie in einem Staatenbund. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnete die EU als Staatenverbund, was Herzog als richtige Bezeichnung sieht, da es keine klare Abgrenzung zwischen Bundesstaat und Staatenbund in der EU gibt.

Veränderte Welt: Kolonisation – Globalisierung – Regionalisierung

Nach dem Ende der Kolonialzeit erkennt Herzog einen Wandel in der Welt. Die Regionalisierung findet in den ehemaligen Kolonien statt und sie schließen sich zu Blöcken zusammen, die zwischen Nationalstaat und den Vereinten Nationen stehen, ebenso wie die EU, die dem als Vorbild dient.

Durch eine andere Vorstellung von Sozialpolitik und Menschenrechten haben sie die Möglichkeit, günstige Produkte auf den Markt zu bringen, so Herzog. Er sieht die Aufgabe der EU darin, die Prosperität und Identität zu schützen. Die Unionsbürger erwarten diesen Schutz, und wenn weniger davon zu sehen ist, als sie erwarten, so würde ihr Vertrauen sinken.

Sowie die Welt sich verändert hat, so haben sich auch die Aufgaben der EU gewandelt. Zur Zeit der Gründung ging es noch um den Friedenserhalt, da sich die Staaten sowohl humanitär als auch wirtschaftlich keinen Krieg mehr leisten konnten. Zudem sollte die Gemeinschaft Sicherheit vor Russland gewährleisten.

Herzog sieht die Hauptthemen heute etwas anders. Die Kontrolle der deutschen Wirtschaft sei fast nicht mehr nötig, da Kohle und Stahl nicht mehr präsent sind. Er sieht eher ein Problem darin, dass die Verbesserungen von den Bürgern nicht wertgeschätzt werden, und dies ist dann vermutlich auch ein Grund für den Vertrauensverlust in die EU, wofür sie selbst eigentlich nichts kann.

Anders sieht Herzog es bei der Friedenspolitik der EU. Innerhalb der Mitgliedstaaten herrscht zwar Frieden, was auch eine herausragende Leistung sei, jedoch würde die EU in der außenpolitischen Friedenspolitik versagen, so zum Beispiel in Jugoslawien. Die Friedenszone werde nur vergrößert durch den Beitritt neuer Staaten. Die Friedenspolitik kommt an ihre Grenzen, wenn die Beitrittskriterien darunter leiden. Herzog ist der Meinung, dass die EU den zentralen Fehler gemacht hat, nicht auf eine gewisse Homogenität zu achten. Wirtschaftlich schwache Staaten sollten nach einer gewissen Zeit der Unterstützung auf eigenen Beinen stehen, was sie nun nicht tun.

Zudem kritisiert Herzog die Mitgliedstaaten, da diese in der Außenpolitik der EU Funktionen vorenthalten. Die EU benötigt diese Funktionen, um kompetent handeln zu können. Er ist der Meinung, dass die EU rasche, mutige Entscheidungen durchsetzen können muss, um nicht von anderen Mächten aus dem Spiel genommen zu werden.

Bürokratismus und Normenhypertrophie

Herzog bringt Kritik an der Normenflut der EU an, die seiner Meinung nach zu viele Gesetze und Richtlinien hervorbringt. Er hat vier Argumente dagegen:
  • Der Rechtsstaat lebt davon, dass die Bürger sich freiwillig an die Gesetze halten. Das geht nur, wenn sie diese kennen. Im Fall der EU ist das aber eine zu große Masse (ca. 60.000 – 70.000 Druckseiten), als dass man sie alle kennen kann.
  • Der Wirkungsgrad der Normen sinkt, da sie durch Kontrolle und Zwang durchgesetzt werden müssen und Kontrolle und Vollstreckung sind immer lückenhaft. Folge: Bürger sehen Gesetze als behördliche Überraschungseingriffe.
  • Je weiter eine Rechtsordnung ausgedehnt ist, desto mehr wird sie zum Risiko für Gleichmäßigkeit. Große Firmen haben kein Problem, da sie große Rechtsabteilungen haben, kleine Firmen machen sich jedoch erst rechtskundig, wenn bereits etwas vorgefallen ist.
  • Normen müssen abstrakt formuliert werden, damit so viele Einzelfälle wie möglich abgedeckt werden. Je größer das Territorium, desto abstrakter muss die Norm formuliert werden. Dadurch verliert sie ihren Realitätsbezug. Hierbei stellt Herzog sich die Frage, ob eine europäische Regelung überhaupt immer nötig gewesen wäre oder ob eine Regelung in den Mitgliedstaaten nicht gereicht hätte bzw. vernünftiger gewesen wäre.
Laut Herzog wendet die EU bei der Gesetzgebung auf europäischer Ebene einen Trick an, den er stark kritisiert. Die EU soll nach dem Subsidiaritätsgrundsatz handeln, d.h., dass die übergeordnete gesellschaftliche Einheit, also die EU, nur die Aufgaben an sich ziehen darf, die kleinere Einheiten, also die Mitgliedstaaten, nicht in der Lage sind, selbst wahrzunehmen.

Wenn die EU eingreift, wendet sie nun den Gleichheitsgrundsatz an, und die neue Norm gilt für alle Mitgliedstaaten. Darum fordert Herzog einen Normabbau von 60.000 – 70.000 Druckseiten auf 35.000 – 40.000 Seiten und er fordert, dass die Lücken, durch die sich die EU selbst Kompetenzen verschafft, gestopft werden müssen.

Die innere Homogenität der EU

Unter Homogenität versteht Herzog die ausreichende Übereinstimmung von Staaten und Völkern in den zentralen Fragen der politischen und ethischen Grundüberzeugung und der Rechts- und Verfassungstraditionen. Falls diese nicht vorhanden ist, würde sich die Arbeit in der Gemeinschaft und die Kompromissfindung erschweren. Diese Risiken treten vermehrt auf, je mehr Mitglieder eine Gemeinschaft hat.

Herzog sieht hier, dass die Homogenität in der EU durch die neuen Mitgliedsstaaten aus Osteuropa gestört werden könnte, da sie ihre neue Souveränität nicht direkt wieder an die EU abtreten wollen. Er geht der Annahme nach, dass sie am liebsten ein einfaches Freihandelsabkommen hätten. Dafür würde Herzog eine Lösung bieten, in dem er aus der EU verschiedene Organisationen für verschiedene Politikfelder machen würde.

Eine Wirtschaftsgemeinschaft, die nicht auf die politischen und ethischen Grundsätze achten müsste und somit mehr Staaten aufnehmen könnte, und eine Gemeinschaft für die Weltpolitik, in der eine gewisse Homogenität vorausgesetzt wird. Noch dazu fordert Herzog, dass die Aufnahmebedingungen strenger durchgesetzt werden sollen. Fehlende wirtschaftliche Leistung dürfe nicht durch politische Grundsätze kompensiert werden und auch nicht umgekehrt. Es muss beides vorhanden sein.

Verantwortung der Mitgliedstaaten

Zum Schluss nimmt Herzog auch noch die Mitgliedstaaten in die Verantwortung, da nur durch sie Verträge geändert werden können. Ebenso können nur sie Widerstand leisten, wenn die EU über ihre Kompetenzen hinaus handeln möchte, z.B. durch Detailformulierungen bei Gesetzgebungsverfahren, bevor die EU den Subsidiaritätsgrundsatz anwendet. Er fordert auch, dass die Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschland, sich bei Abstimmungen nicht enthalten, sondern auch ihr Vetorecht einsetzen sollen, um gegen die Normenflut der EU anzukämpfen.

Fazit: Roman Herzog spricht mit seinem Buch viele Punkte der EU an, die verbesserungswürdig sind. Es ist eine klare Kritik, die zum Nachdenken anregen soll und auffordert zu handeln.

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