Donnerstag, 2. Januar 2020

Rezension zu Martin Schulz: Der gefesselte Riese

Schulz, Martin (2013), Der gefesselte Riese – Europas letzte Chance, Rowohlt. 

Rezension 

Autorin: Mareike Gebauer

Martin Schulz, von 1994 bis 2017 Europaparlamentarier, verfasste dieses Buch nach einjähriger Amtszeit als Präsident des Europäischen Parlaments. Gleich in seinem Anfangssatz beschreibt er das Scheitern der Europäischen Union als realistisches Szenario. Er möchte zur Verbesserung Europas einladen und sieht sein Buch als Skizze, wie diese Verbesserung aussehen könnte.
„Auch ich bin unzufrieden und zornig über den Zustand, in dem sich die europäischen Institutionen befinden, und will deshalb nicht die EU verteidigen, wie sie momentan aussieht, sondern vielmehr beschreiben, wie sie aussehen könnte, wenn wir sie verändern und verbessern.“ (S. 7)
Das Erscheinungsbild Europas vergleicht er mit dem Scheinriesen Tur Tur aus dem Buch „Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer“ von Michael Ende. Dieser stellt die Gesetze der Physik auf den Kopf, denn er wird bei größerer Entfernung nicht optisch kleiner, sondern immer größer. Aus weiter Distanz erscheint er wie ein gewaltiger Riese. Schulz beschreibt, dass er oft an diese Geschichte denken muss, wenn er außerhalb Europas unterwegs ist.
"[...] je weiter man sich von Europa entfernt, umso größer ist die Faszination, die von der EU ausgeht: Frieden, Freiheit, Wohlstand und soziale Gerechtigkeit sind Begriffe, die mit Europa verbunden werden. Das „Modell Europa“ steht für viele Beobachter auf anderen Kontinenten für eine freie Presse, unabhängige Gerichte, eine Kranken- und Rentenversorgung für jedermann und Aufstiegschancen auch für Benachteiligte.“ (S. 8)
Von nahem jedoch erkennt man, dass der Riese Tur Tur recht klein, alt, schäbig und heruntergekommen ist. Auch hier zieht Schulz einen Vergleich mit Europa und begründet diesen mit sinkenden Zustimmungswerten in allen Mitgliedsstaaten der Gemeinschaft. Bereits seit mehreren Jahren steht die Krise Europas im Fokus der Medien und erzeugt Verunsicherung sowie Angst. Die Wut über die verfehlte Politik in der EU wandelt sich zunehmend in Wut gegen die EU als Institution und gefährdet dadurch das „europäische Gesellschaftsmodell“. Um dies zu verhindern muss Europa weiter zusammenwachsen. Schulz nennt hierzu folgende zentrale Aspekte:
  • Es gibt eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Steuer- und Finanzpolitik
  • Reform der europäischen Gemeinschaft: echte europäische Regierung, die parlamentarisch gewählt und kontrolliert wird
  • Erneuerung der europäischen Institution und neue Lösungsansätze, um Jobs und soziale Sicherheit zu gewährleisten.
Diese Lösungsansätze sollen in seinem Buch diskutiert oder zumindest angerissen werden. Doch zunächst beschreibt Schulz Europa in der Kritik: In diesem Kapitel geht er unter anderem auf die Problematik der EU-Erweiterungen ohne Reformen ein, denn der Aufbau der EU wurde für wesentlich kleinere Mitgliederzahlen konstruiert. Eine Reform des EU-Aufbaus wäre bereits vor der letzten großen Erweiterungsrunde sinnvoll gewesen. Dabei muss die Handlungsfähigkeit stärker berücksichtigt werden. Dies wird deutlich bei der Zusammensetzung der EU-Kommission: jedes Mitgliedsland entsendet einen Kommissar. Die Zusammensetzung der EU-Kommission sollte sich nach Schulz jedoch daran orientieren, welche Aufgaben zu bewältigen sind und nicht daran, ob jedes Land seinen Kommissar hat. Die Reform müsste außerdem eine Erneuerung der Demokratie Europas berücksichtigen, die dem Prinzip der Gewaltenteilung auf EU-Ebene ausreichend Geltung verleiht.

In den Fokus stellt Schulz auch Europas Versagen beim Formulieren einer gemeinsamen Haltung und gemeinsamer Interessen. Zu viele EU-Mitglieder scheinen vorrangig das eigene Wohl im Blick zu haben. Dies hat laut Schulz zur Folge, dass die EU als globaler Akteur nicht ernst genommen wird.

In seinem Kapitel „Was, wenn Europa scheitert?“ beschreibt Schulz in verschiedenen Szenarien den Zerfall bereits geschaffener Errungenschaften der EU. Zum Beispiel den Zerfall des Euros, die Wiedereinführung der Grenz- und Zollkontrollen, erneute Handelskriege und ganz wesentlich: den steigenden Populismus, der die Angst vor der Globalisierung und Überfremdung schürt und den Glauben an den Nationalstaat sichert.

Das dritte Kapitel „Neustart“ widmet sich der Frage: „Welches Europa wollen wir?“ Es bedarf laut Schulz generell mehr Europa, mit einer in die Zukunft gerichteten Begründung. Sowie die Bewältigung der Vertrauenskrise und nicht nur der Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Wesentlich ist hierbei eine Schlussfolgerung aus ihren Ursachen. Seine Lösungsansätze gliedert er in folgende Unterpunkte:

1. Stärkung der europäischen Demokratie
  • Gewaltenteilungsmodell auf EU-Ebene übertragen
  • institutionelle Reform erfordert Revision der Europäischen Verträge
  • Mehr Transparenz: öffentliche Debatten bei Entscheidungen
  • Mehr Beteiligung der BürgerInnen
  • Lebendige Zivilgesellschaft
  • besonders hervorgehoben wird hier, welch wesentlichen Anteil Künstler bei der kulturellen Identitätsbildung haben (europäische Filmförderung, Eurovision Song Contest)
  • aufmerksame Medien
  • erfordert gemeinsames Mediengesetz unter Berücksichtigung der Meinungsfreiheit in allen Mitgliedsstaaten

2. Herausbildung einer europäischen Außenpolitik

Die EU ist aus wirtschaftlicher und militärischer Perspektive eine Großmacht, die bisherige Außenpolitik ist jedoch nicht kohärent, zögerlich und uneinig. Als Ursache beschreibt Schulz die mangelnde Bereitschaft der Mitgliedsstaaten zur Übertragung von Kompetenzen auf EU-Ebene, wenn dadurch nationale Interessen berührt werden. Zudem prägen spezifische historische Erfahrungen die außenpolitischen Ansätzen der einzelnen Mitgliedsstaaten und führen somit innerhalb der EU zu Differenzen (z.B. empfindet BRD eine besondere Verantwortung für Israel und Nahost).

Auch nach Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wird die europäische Außenpolitik von einem intergouvernementalen Ansatz bestimmt. Die fehlende Vergemeinschaftung der europäischen Außenpolitik wird in Krisensituationen besonders deutlich: umständliche Beratungsprozesse und Abstimmungen verhindern schnelle Reaktionen und ein Auftreten der EU als einheitlicher Akteur. Verbesserung sieht Schulz durch folgende Veränderungen:
  • Stärkung des EU Außenministers
  • Einbringen spezifischer Netzwerke der Mitgliedsstaaten auf EU-Ebene „Die Staaten müssen erkennen, dass aus dem partiellen nationalstaatlichen Souveränitätsverzicht politischer Machtgewinn auf der supranationalen Ebene entsteht: kollektive Souveränität.“ (S. 204)
  • In Einklang bringen der verschiedenen Elemente außerpolitischen Handelns: Handels-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik
  • Eine gemeinsame Flüchtlingspolitik, die folgende Gesichtspunkte hervorhebt:
  • eine restriktive Rüstungsindustrie
  • Bekämpfung von Fluchtursachen
  • eine gezielte Entwicklungszusammenarbeit basierend auf Armutsbekämpfung und Strukturveränderungen
  • Beachtung sozialer und menschenrechtlicher Standards global agierender Unternehmen
„Wir werden nur dann einen dauerhaften Frieden genießen können, wenn auch unsere Nachbarn friedlich leben können.“ (S. 211)

3. Verteidigung unseres Gesellschaftsmodells
„Europa ist eine Idee [...] einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft, in der niemand zurückgelassen wird und jeder eine zweite Chance bekommt, und es ist die Idee, dass es trotz kultureller Vielfalt eine Einheit geben kann. [...] Dieses Gesellschaftsmodell ist sozial, und es ist demokratisch.“ (S. 211)
In Europa genießen wir sozialstaatliche Errungenschaften wie Sozialversicherung, Krankenkassen, Arbeitslosen-, Unfall- und Rentenversicherung, Tarifverträge, besonderen Schutz der Grundrechte durch die Wertegemeinschaft. 1949 gründete sich der Europarat, der sich um den Grundrechtsschutz und um die Förderung der Demokratie kümmert. Mit der Europäischen Menschrechtskonvention und dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof schützt er die BürgerInnen vor rechtswidrigen Eingriffen des Staates. Damit hat die EU ein eigenes, auf der Welt einmaliges System des Menschenrechtsschutzes, ergänzt durch den Europäischen Gerichtshof und die Europäische Grundrechtecharta.

Die EU besteht ausschließlich aus Demokratien und verbindet daher einen hohen Grundrechtsschutz mit hohen Sozialstandards. Die BürgerInnen erleben soziale und politische Stabilität, sowie Meinungs- und Pressefreiheit. Der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin beschreibt den Europäischen Traum wie folgt:
„Der Europäische Traum stellt Gemeinschaftsbeziehungen über die individuelle Autonomie, kulturelle Vielfalt über Assimilation, Lebensqualität über die Anhäufung von Reichtum, nachhaltige Entwicklung über unbegrenzt materielles Wachstum, spielerische Entfaltung über ständige Plackerei, universelle Menschenrechte und die Rechte der Natur über Eigentumsrechte und globale Zusammenarbeit über einseitige Machtausübung.“ (S. 214)
Dennoch kommt es innerhalb Europas zu einer zum Teil vollständigen Verweigerung der Grundrechte. Dies zeigt sich in der Flüchtlingspolitik und der problematischen Haltung einiger Mitgliedsstaaten gegenüber Minderheiten wie Sinti und Roma.

Es stellt sich die Frage, ob die Zuständigkeit für den Sozialstaat weiterhin bei den Mitgliedsstaaten bleiben oder eine Übertragung auf EU-Ebene erfolgen soll. Deutschland empfindet auf diese Fragestellung vorrangig Angst vor dem Verlust hoher Sozialstandards. Allerdings ist es gerade die EU, die in zentralen Bereichen die Mitgliedsstaaten in Zugzwang zur Einhaltung hoher Sozialstandards bringt, zum Beispiel in der Antidiskriminierungspolitik, der Geschlechtergleichstellung und der Arbeitszeitregelung.

Schulz schlägt auf europäischer Ebene eine Formulierung von Mindestlohnstandards vor, u.a. um Altersarmut vorzubeugen. Zudem betont er die Notwendigkeit, die Mitbestimmungsregeln für europäische Betriebsräte zu stärken, um eine europäische Rechtsgrundlage für grenzüberschreitende Tarifverhandlungen zu schaffen. Wirtschaftliche Grundfreiheiten des Binnenmarktes und soziale Grundrechte müssen innerhalb der EU gleichrangig gelten. Die Erhöhung der Bildungsausgaben hält Schulz für erforderlich zur Förderung von Austauschprogrammen für Schüler, Auszubildende und Studenten. Die Entstehung einer europäischen Identität wird dadurch erheblich gefördert.

4. Zähmung des internationalen Raubtierkapitalismus

Hier beschreibt Schulz eine Neuordnung des Finanzmarktes unter folgenden Gesichtspunkten:
  • Grundsätzlich bedarf es mehr Transparenz und Kontrolle in Bezug auf den Finanzmarkt und Steuerveränderungen
  • Re-Regulierung der Finanzmärkte, Finanzprodukte und Finanzdienstleister
  • vorgeschlagener Lösungsansatz: europaweite Finanztransaktionssteuer (tritt voraussichtlich 2021 unter Beteiligung von 10 Mitgliedsstaaten in Kraft)
  • Koppelung der Finanzmärkte an die Realwirtschaft
  • Das Europaparlament schlug eine stärkere Kontrolle von Ratingagenturen vor, da diese maßgeblich an den Ursachen der Finanzkrise beteiligt waren. Inzwischen besteht die Möglichkeit der Haftung für deren Beurteilungen

Fazit: Ich lese dieses Buch, während die EU über den Umgang mit unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen in überfüllten Flüchtlingslagern der griechischen Inseln debattiert. Besonders eindrücklich sind für mich daher die Ausführungen von Schulz bezüglich des weltweit einmaligen Schutzes der Menschenrechte innerhalb der EU, und ich frage mich nach der Präsenz dieses einmaligen Schutzes zum Beispiel in Moria. In seinem Buch beschreibt er die Anfänge der „Flüchtlingsproblematik“, interessant wäre daher ein Statement aus heutiger Sicht. Abschließen möchte ich gerne mit folgendem Zitat: „Ich hoffe, dass wir in Europa keine falschen Entscheidungen treffen, unter denen die folgenden Generationen lange zu leiden haben.“ (S. 149-150)

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