Montag, 4. Januar 2021

Rezension zu Robert Menasse: Der Europäische Landbote

Menasse, Robert (2012): Der Europäische Landbote. Die Wut der Bürger und der Friede Europas, Wien: Paul Zsolnay Verlag.

Rezension

Autor: Roman Strauß

„Entweder geht das Europa der Nationalstaaten unter, oder es geht das Projekt der Überwindung der Nationalstaaten unter. So oder so, die EU ist unser Untergang“ (S. 107).

So glanzvoll und drastisch lautet wohl die kürzeste und prägnanteste Zusammenfassung des Buches „Der Europäische Landbote“ von Robert Menasse. Menasse, einer der bekanntesten österreichischen Autoren, hat für Recherchen mehrere Jahre in Brüssel gelebt und daraus ist im Jahr 2012 „Der Europäische Landbote“ entstanden. Ein relativ kurzes Buch, im Vergleich zu seinem zweiten EU-Werk „Die Hauptstadt“, das im Jahr 2017 erschienen ist und seither sehr kontrovers diskutiert wird.

Im Landboten legt Menasse seine Sicht auf die EU dar und bezieht kritisch und gleichzeitig liebevoll Stellung zu ihr – als großer Kritiker eben, der er ist, und als großer EU-Verfechter. Wie so oft kommt auch bei diesem Buch durch den Untertitel ein gewisses „Geschmäckle“ zum Vorschein, der da lautet: „Die Wut der Bürger und der Friede Europas oder Warum die geschenkte Demokratie einer erkämpften weichen muss.“

Zu Beginn des Buches bedient sich Menasse den geläufigen EU-Klischees: Die Institution als Ganzes sei ein unübersichtliches Gefüge, ein Bürokratiemonster mit einem Demokratiedefizit und einer Intransparenz, wenn es um die Verflechtung von Kommission und Rat geht. Allerdings kommt nach kurzer Exkursion in die Geschichte der EU ein anderer Tenor auf. Nach und nach entdeckte Menasse Brüssel „neu“, freundliche und aufgeschlossene Beamten entpuppten sich sowie die eigentliche Krise der EU, nämlich die in den Nationalstaaten – nicht die Institution EU als Ganzes, sondern die vielen Nationalstaaten sind das Problem.

Bollwerk

Die Nationalstaaten als Europäischer Rat sind Menasses größtes Dorn im Auge, die anderen piken nur leicht, dieses jedoch sticht und sticht. Die EU sollte als supranationale – wohlgemerkt einzigartige – Institution über den einzelnen Nationalstaaten stehen. Diese müssten „überwunden“, ihre Macht gebrochen werden. Allerdings sind eben diese in der Union institutionell mit Macht ausgestattet in Form des Europäischen Rates. Und genau dieser Rat ist zu einem langfristigen Bollwerk geworden, der von Regierungschefs benutzt wird, um genau diese Vergemeinschaftung und Schwächung der Nationalstaaten zu blockieren – obwohl er eigentlich darauf hinarbeiten sollte, sich selbst überflüssig zu machen.

Nationen müssten institutionell und ökonomisch so verflochten und in wechselseitige Dependenz gebracht werden, dass das Verfolgen jeglichen Eigeninteresses gar nicht mehr anders als in gemeinschaftlichem Handeln möglich ist. Nur so könnten Solidarität statt Nationalitätenhass, nachhaltiger Friede und gemeinsamer Wohlstand hergestellt werden. Das Problem heute sei allerdings, dass die Verflechtung der europäischen Staaten schon so weit fortgeschritten ist, dass nationale Lösungen nicht mehr funktionieren, und gleichzeitig die „Nationalisierung“ wieder zugenommen hat, was dazu führt, dass supranationale Lösungen auch nicht mehr möglich sind.

„Weniger Staat müsste mehr Europa bedeuten und nicht die Zerstörung von beidem: von Staat und Europa“ (S. 57).

Daher ist es nicht verwunderlich, wenn Menasse den Europäischen Rat als Konstruktionsfehler der EU bezeichnet. Die Vertretung nationaler Interessen auf europäischer Ebene blockieren eine gemeinsame Europapolitik sowie die Weiterentwicklung der EU, wie sie von den Gründervätern gemeint war. Es sollte also darum gehen, die Sonderinteressen der einzelnen Nationalstaaten zurückzudrängen, um diese mit Hilfe von Beamten, die aus genau diesen Staaten kommen, zu überwinden.

Die Finanzkrise von 2010 spielt eine prominente Rolle im Landboten, da sie zum Zeitpunkt des Buches die aktuell größte Krise der EU darstellte. Menasse beschreibt sie provokant als politische Krise, da die für die Definition einer Finanzkrise nötigen Merkmale gänzlich ausblieben. Die Punkte, die Kommission zu schwächen, das Parlament in seinen Rechten zu begrenzen, aber den Rat zu stärken, sind die Auslöser für die Finanzkrise und der Grund, weshalb er hier eine politische Krise sieht. Ebenso wenig verwunderlich kommt nun Menasses Forderung, dass sich (spätestens ab jetzt) alle Energie auf die – ersatzlose (!) – Abschaffung des Rates richten müsse.

Auch Deutschland als größtes bzw. stärkstes und somit einflussreichstes Mitglied der EU bekommt in Position und Rolle gehörig sein Fett weg. Menasse beschreibt den deutschen Führungsanspruch in der EU als das eigentliche demokratische Problem. Deutschland und seine Wirtschaft führen an; treffen ab und an noch hinter verschlossener Türe Vereinbarungen mit Frankreich, um die Ergebnisse dann den übrigen 25 Mitgliedstaaten zu präsentieren und sie so vor vollendete Tatsachen zu stellen.

Was - neben Deutschland - gar nicht gut wegkommt in Menasses Werk ist die Kultur. Beziehungsweise nicht nur in Menasses Werk, auch in der EU selber kommt sie nicht gut weg, da scheinbar die Motivation und der Ansporn in der Union fehlt, eine gesamteuropäische Kultur zu schaffen oder wenigstens Schritte in diese Richtung zu gehen. Kultur sei benötigt als ein Identifikationssymbol, um den Bürger*innen diese Institution näher zu bringen und sie zu vereinen. Das Fehlen einer verbindenden Idee, einer gemeinsamen Kultur, einer kulturellen Identität wird gebündelt in einem Defizit der EU dargestellt. Die EU hat, so scheint es, ein blindes Auge in Richtung der Bedeutung von Kultur.

„Das Kulturressort der Europäischen Kommission ist das budgetär am schlechtesten ausgestattete, es ist so schlecht finanziert und wird innerhalb der Kommission so wenig ernst genommen, dass ein von Frankreich, Deutschland, England oder Italien nominierter Kommissar nie akzeptieren würde, dieses Ressort zu übernehmen“ (S. 78).

Zukunftsvision

Die Ursache der aktuellen (damals wie heute) europäischen Krise sei das Vergessen der europäischen Idee, die Idee von der Gründung der EU. Es fehle der heutigen Generation eine Zukunftsvision. Die Demokratie, wie sie uns im Westen nach dem Krieg geschenkt wurde, sei eine Selbstverständlichkeit geworden und sollte einer erkämpften Demokratie weichen, betont Menasse. Die Politiker und Beamten heute seien auf ganzer Linie unfähig, im Status quo Dynamiken zu erkennen.

Er beschreibt eine Zukunftsblindheit, die heutige Generation sei eine Übergangsgeneration, die nicht mehr begreifen kann, worum es ging, als das europäische Projekt begonnen wurde, und auch nicht begreifen kann, worauf es hinauslaufen muss. Entscheidungen sollten wieder (vermehrt) im Hinblick auf ein zu erreichendes Ziel getroffen werden, nicht nur im Hinblick auf das Management einer Krise des Status quo. Eine steile These, wie ich finde, da er allen Politiker*innen einen Stempel aufdrückt, und für Menasse selber einer der zentralen Aspekte der europäischen Krise.

Lösungsvorschlag

Menasse fordert in seinem Buch nicht weniger als die Erfindung einer neuen, nachnationalen Demokratie. Das nachnationale Europa in Form einer europäischen Republik der Regionen. Menasse schreibt, dass der Mensch in Wahrheit in seiner Region, die seine Heimat darstellt, verwurzelt ist, und das Heimatgefühl die Wurzel der europäischen Identität ist.

„Heimat zu haben, ist ein Menschenrecht, nationale Identität nicht“ (S. 88).

Konkret ausformuliert sieht das so aus: Der Europäische Rat sollte abgeschafft werden, und es würde nur noch ein Parlament mit Repräsentanten aus den Regionen und eine Kommission, gewählt vom Parlament, geben. Die Kommission würde dann die Gesetze entwickeln und das Parlament darüber abstimmen. Die Beamten dieser Institution sollen hochqualifiziert und aufgeklärt und dazu von ihren nationalen Interessen und Identitäten befreit sein. Außerdem benötigt es die oben beschriebene, momentan fehlende Zukunftsvision der Politiker*innen von heute.

In der Republik von Regionen hat jede Region ein eigenes Parlament, die EU ist nur für die Rahmenbedingungen zuständig. Menasse stellt sich als „Verfechter der regionalen Selbstverwaltung“ dar, er sieht die nationale Identität als historisch reversibel und die „Nation“ rational als durch nichts mehr zu begründen an. Außerdem betont er explizit, keine Vereinigten Staaten Europas nach dem Vorbild der USA anpreisen zu wollen; die Vereinigten Staaten von Amerika basieren nämlich auf Kriege und Nationsbildung – das neue europäische Projekt sollte auf Verhandlungen und Einigung auf gemeinsame Werte gegründet sein. Die „Wut der Bürger“ müsste sich gegen den Europäischen Rat richten, eine demokratische Offensive müsste als Voraussetzung für ein demokratisches Europa die Abschaffung des Rats fordern, die Ausstattung des Parlaments mit allen parlamentarischen Rechten, die Wahl der Abgeordneten nicht mehr in der Nation, sondern in den Regionen.

Des Weiteren fordert Menasse eine neue (Be-)Deutung des Begriffs „Demokratie“. Demokratie heutzutage sei nur nationalstaatlich gedacht, erfahren und verstanden. Allerdings bedarf es des Verständnisses einer Demokratie über Staatsgrenzen hinaus, eine Art supranationales Demokratieverständnis.

„[…] am Ende wird etwas völlig Neues entstehen, keine Übernation, sondern ein Kontinent ohne Nationen, eine freie Assoziation von Regionen, kein superstaatlicher Zentralismus, sondern gelebte demokratische Subsidiarität, mit einem Zentrum, in dem echte Gemeinschaftsinstitutionen vernünftige Rahmenbedingungen erarbeiten und Rechtssicherheit garantieren […]“ (S. 101 f.).

Das ist die zukunftsgewandte Richtung Menasses, seine Vorstellung eines nachnationalen, subsidiärem Europa der Regionen, das im Landboten nach und nach be- und verhandelt wird. Verhandelt, weil man sich beim Lesen fühlt wie „live dabei“ zu sein, während die Gedanken aus Menasse sprudeln und sich langsam aber sicher zu einer konkreten Masse zusammenfügen.

Von der Form her ist „Der Europäische Landbote“ nicht logisch in Kapitel unterteilt, diese wirken teilweise willkürlich zusammengesetzt; jedes Kapitel steht für sich und bringt seine eigenen Argumente und Ansichten mit sich. So fließt das Buch nicht als Roman dahin, auch wenn es Züge eines Romans mit Gesprächen und amüsanten Schilderungen mit anschließenden Bewertungen mit sich trägt, sondern beginnt quasi mit jedem Kapitel neu, weshalb man den Landboten auch als Streitschrift verstehen kann. Menasse legt seine politischen Ideen auf unmissverständliche, direkte Weise dar, er nennt mehrere Ursachen für die europäische Krise, bezieht die finanzielle (politische) Krise mit ein und schlägt mehrere Ansätze und einen konkreten Lösungsweg für die Zukunft vor.

Wenn man beim Lesen nicht gerade begeistert und mitgerissen wird, so findet dennoch jede Leserin einen Gedanken, eine Zeile, einen Satz, der sie zum Nach- und Weiterdenken anregt und somit (kleine) neue Dimensionen eröffnet. Man muss Menasse nicht an den Lippen hängen und ihm blind auf Schritt und Tritt folgen, man kann sich ihm und seinen Ideen aus sicherer Distanz kritisch gegenüberstellen – und dennoch davon profitieren.

„So oder so leben wir am Vorabend eines Untergangs“ (S. 108).

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