Montag, 11. Januar 2021

Rezension zu Aleida Assmann: Der europäische Traum

Assmann, Aleida (2018): Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte, C.H. Beck (oder als Lizenzausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2019).

Rezension

Autor: Luca Blaszczyk

Die Autorin Aleida Assmann wurde 1947 geboren und ist emeritierte Professorin für Anglistik und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2018 erhielt sie zusammen mit ihrem Ehemann Jan Assmann den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Sie schrieb das Buch, um zu erläutern, wie man aus der Geschichte Europas lernen kann und welche Lehren für ein friedliches Leben auf dem europäischen Kontinent man aus ihr ziehen kann.

Sie plädiert für ein gemeinsames europäisches Leitbild, ein Pendant zum amerikanischen Traum. Dieser europäische Traum ist ihre Antwort auf die Frage, wie sich Krisen und rechtspopulistische Bewegungen in Europa bewältigen lassen. Assmann teilt ihr Buch in zwei Teile, im ersten Teil behandelt sie die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann, hier geht sie auf die vier Lehren ein, im zweiten behandelt sie Fallbespiele zu den jeweiligen Lehren.

Erster Teil

In diesem Teil stellt sich Assmann die Frage, ob man aus der Geschichte lernen kann. Dies macht sie mit gezieltem Blick in Richtung Europäische Union. Geschichtlich bezieht sie sich dabei auf die grausamsten Episoden in der europäischen Geschichte, die Diktaturen, Kriege, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit und auch das Europa, welches sich als Herrenrasse sah und auf der ganzen Welt ausbreitete, lässt sie nicht außer Acht.

Die erste Lehre, welche sie zieht, ist die Friedenssicherung. Sie stellt dar, wie das westliche Europa durch den Ost-West-Konflikt auf Konfrontation, Ausschluss und Polarisierung gegründet wurde und wie sich die EU durch den Fall der Mauer in ihrer Zusammensetzung änderte. Friedensschlüsse und die Versöhnung von Erzfeinden konnten nur erreicht werden, indem man anstelle von Rache auf Zusammenarbeit und gemeinsames Gedenken setzte.

Die zweite Lehre besteht darin, die Demokratisierung nicht als abgeschlossen, sondern als immer wieder zu durchlaufenden Prozess zu sehen. Nahezu alle EU-Staaten hatten einmal mit Diktaturen und den darauffolgenden Verbrechen zu tun. Gerade der Zweite Weltkrieg war maßgeblich dafür, dass man neue Rechtsprinzipien auf internationaler Ebene einführte. Seit den Nürnberger Prozessen sind Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Teil des internationalen juristischen Fundus. Es ist wichtig, dass man sich bewusst wird, dass demokratische Werte auf einer sozialen, politischen und kulturellen Ebene zu erneuern und zu schützen sind.

Die dritte Lehre, die Assmann zieht, handelt von dem Aufbau einer deutschen Erinnerungskultur. Man ist vom Vergeben und Vergessen abgekommen hin zu einer Alternative, nämlich der historischen Wahrheit und ihrer Aufarbeitung. Ein besonderes Augenmerk liegt wieder auf dem Nationalsozialismus. Der Schritt, das Kriegsende nicht als Niederlage, sondern als Befreiung zu sehen, ist äußerst wichtig. Assmann spricht von einem geschichtlichen Trennungsstrich seit der Wende. Es geht darum, die Vergangenheit und Gegenwart zu trennen, jedoch nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, sondern vielmehr sich mit ihr auseinanderzusetzen. Der Transitionsprozess von der Diktatur hin zur Demokratie ist durch Beteiligung von Staat, Kultur, Justiz, Historik, Anerkennung der Opfer, Kunst, Medien und der Zivilgesellschaft zu vollziehen.

Die vierte und letzte Lehre ist die Wiederentdeckung der Menschenrechte. Es geht darum, wie mit Flucht und Migration umgegangen wird, und darum, dass Menschenrechte in einem System von Nationalstaaten nichts wert sind, wenn man staatenlos ist und keine Bürgerechte besitzt. Die Europäische Union hat die Macht, als transnationaler Verbund zu handeln und über Staatsgrenzen hinweg für Menschenrechte einzustehen.

Während in Europa ein nahezu friedliches Leben herrschte und man Binnengrenzen abgebaut hat, verschloss sich Europa vor den Geschehnissen in der Welt. Mit dem beginnenden Flüchtlingsstrom 2015 wurden die Menschen in Europa erstmals wieder mit dem Leid der Welt konfrontiert. Ziel dieser Lehre ist es, die Erfolge, aber auch die Fehler der Integrationsgeschichte sichtbar zu machen.

Als europäischen Traum sollte die EU ein klar kommunizierbares Selbst- und Leitbild erfinden, ein gemeinsamer Richtungssinn, der aus der gemeinsamen Geschichte hervorgeht. Man sollte so handeln, wie man nach dem Zweiten Weltkrieg gehandelt hat. Man hat die Deutschen nicht isoliert, sondern resozialisiert und in die europäische Gemeinschaft aufgenommen. Der europäische Traum basiert also auf den Lektionen, die man aus der Geschichte gelernt hat.

Zweiter Teil

Im zweiten Teil veranschaulicht sie die vier Lehren anhand von mehreren Fallbeispielen. Zur ersten Lehre, der Friedenssicherung, bringt sie das Beispiel, wie unterschiedlich mit dem 8. und 9. Mai umgegangen wird - zwei historisch wichtige Daten, einerseits die Grundsteinlegung für die EU und andererseits das Ende des Zweiten Weltkriegs. Außerdem behandelt sie die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, welcher in Europa sowohl Staatsgrenzen als auch Bevölkerung massiv veränderte.

Bei der zweiten Lehre, der Demokratisierung, behandelt sie als Fallbeispiele den Umgang mit den zwei Diktaturen, mit denen Deutschland im 20. Jahrhundert konfrontiert war, und wie die darauffolgenden Demokratien durch Stillschweigen und dem Verlangen nach Klarheit aufgebaut wurden, und den Spanischen Bürgerkrieg und wie die Spanier den Übergang von Diktatur in eine Demokratie durch Schweigen und durch Angst vor einem Rückfall vollzogen haben. Sie erläutert, wie es zu einer Aufarbeitung kam und welche Rolle die Veränderung transnationaler Gesetzgebung dabei spielte.

Zur dritten Lehre, der Erinnerungskultur, gibt Assmann wieder zwei Beispiele. Zuerst beschreibt sie, welche Rolle die 68er Bewegung für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit spielte und wie diese eigentlich erst 20 Jahre später zur Aufarbeitung beitrug. Speziell die Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht sorgte für Empörung und war gerade deshalb so wichtig. Als zweites Fallbeispiel führt sie das monologische und dialogische Erinnern in Europa auf. Sie erläutert zunächst die Grundstruktur des nationalen Gedächtnisses und wie sich dieses im europäischen Kontext verändert hat. Am Beispiel des europäischen Museums zum Zweiten Weltkrieg in Polen wird deutlich, wie schwierig das Erinnern heute noch ist.

Zu der vierten und letzten Lehre, den Menschenrechten, behandelt sie zunächst die vergessene deutsche Migrationsgeschichte und wie deutschstämmige Siedler nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden, weil auf ihnen die Geschichtsschuld der Deutschen lag. Danach behandelt sie das Thema Schicksalsvergleiche – zwischen Empathie und Abwehr. Dieses Kapitel hat vorwiegend mit den Flüchtlingsströmen der letzten Jahre zu tun und wie man die einzelnen geschichtlichen Kapitel vergleichen kann. Ein Beispiel ist der Vergleich der deutschen Fluchtgeschichte mit der heutigen Migrationspolitik.

Den letzten Abschnitt des Buches nennt sie "Differenzen, Defizite, Desiderate". In diesem geht sie zuerst auf das linke und rechte Unbehagen an der deutschen Erinnerungskultur ein. Die Linken machen sich Sorgen, dass durch die alltäglich gewordene Erinnerungskultur das Erinnern in Vergessenheit gerät, und die Rechten wollen ganz und gar mit dem Erinnern an die schlechten Zeiten abschließen und eine Erinnerungskultur des Stolzes aufbauen.

Als nächstes geht sie auf die Ost-West-Spaltungen ein. Es geht dabei darum, wie sich die osteuropäischen Staaten schon fast zum Nachahmen des Westens gezwungen fühlen und ihre Geschichte in Europa nicht so behandelt wird, wie man es mit der der westlichen Länder handhabt. Das Ziel wäre nicht das Nachahmen des westlichen Europas, sondern das gemeinsame Aufbauen eines neuen Europas.

Zuletzt thematisiert sie das koloniale Erbe Europas und wie es noch immer im Schatten der zwei Weltkriege und des Nationalsozialismus verborgen bleibt. Europa muss sich der Verbrechen in der Kolonialzeit genauso wie den anderen bewusst werden. Die Kunstschätze aus der Kolonialzeit müssen mit den Herkunftsländern geteilt, wenn nicht gar zurückgegeben werden, und man muss endlich damit anfangen, andere Länder nicht mehr auszubeuten.

In ihrem Buch erläutert Aleida Assmann sehr genau und anhand vieler Beispiele, was die europäischen Staaten gemeinsam geschafft haben. Jedoch zeigt sie, dass alles, was aufgebaut und erreicht wurde, nicht genug ist und man noch vieles in der europäischen Geschichte aufzuarbeiten hat, dass man das schon erreichte mit ganzer Kraft schützen muss und dass Europa und die Europäische Union dies nur gemeinsam schaffen kann.

Sie hat aufgezeigt, dass die Europäer, auch wenn es noch vieles zu lernen gibt, aus ihrer Geschichte gelernt haben und dass es an den Bürgern Europas liegt, diese Errungenschaften zu erhalten und zu verteidigen und mit der ganzen Welt zu teilen. Aleida Assmann hat den Glauben an ein Europa des Friedens und der Gerechtigkeit noch nicht verloren und das sollten wir auch nicht!

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