Mittwoch, 10. Februar 2021

Rezension zu Kai Hirschmann: Europa zwischen Abbruch und Aufbruch

Hirschmann, Kai (2020): Europa zwischen Abbruch und Aufbruch. Die Europäische Union vor existenziellen Herausforderungen, Bundeszentrale für politische Bildung Bonn.

Rezension

Autorin: Tammy Lee Bren

Der Politikwissenschaftler Kai Hirschmann (*1965) ist Doktor der Wirtschaftswissenschaften und zählt die Erforschung staatlicher Fragilitätsprozesse, die Krisen- und Konfliktforschung, sowie die Terrorismus- und Extremismusforschung zu seinen Schwerpunkten. Sein Buch „Europa zwischen Abbruch und Aufbruch – Die Europäische Union vor existenziellen Herausforderungen“ ist 2020 als Band in der Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen.

Hirschmann beschreibt in dem Band die aktuelle Stimmung in der Europäischen Union, die er als kräftezehrend betrachtet. Vorangegangene Krisen wie die Eurokrise, aber auch aktuelle Themen wie die Geflüchtetenkrise, der Brexit, aufstrebende nationalpopulistische Anti-EU-Parteien und die steigenden illiberalen Tendenzen in Zentral- und Osteuropa stellen die EU vor große Herausforderungen. Dadurch steht die Europäische Union an einem Scheidepunkt: Sie hat die Möglichkeit, die nationalstaatlichen Ordnungen wiederherzustellen, sich also zu restaurieren, oder sich zukunftsweisend weiterzuentwickeln und sich somit zu revolutionieren. Europa steht demnach zwischen einem restaurativen Abbruch der EU und einem revolutionären Aufbruch.

Im ersten Kapitel führt Hirschmann zur Thematik hin. Dabei beschreibt er die Entwicklung der Europäischen Union. Er sieht die EU in einer „Sandwich-Position“. Darunter versteht er die verwobene Situation der EU, die in Teilen einen Staatenbund und in Teilen einen Bundesstaat darstellt, jedoch keines von beidem vollständig darstellen kann. Synonym dafür kann die auf diesem Blog verwendete Metapher vom „Schnabeltier EU“ gesehen werden.

Es werden die Herausforderungen, vor denen die EU aktuell steht, aufgeführt und die Wichtigkeit der Revolution dargestellt. Da das Erbe der Finanzkrise, die Geflüchtetenkrise, der Brexit, aufstrebende nationalpopulistische Anti-EU-Parteien und die steigenden illiberalen Tendenzen in Zentral- und Osteuropa eine Grundlage für die Restauration bilden, die die Wiederherstellung der nationalstaatlichen Ordnungen als Ziel hat und dementsprechend zu einem Abbruch der Europäischen Union führen würde.

Das zweite Kapitel beschäftigt sich zunächst mit der Geschichte der EU, wie sie sich von der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) zur Europäischen Union, die wir heute kennen, entwickelt hat. Anschließend zeigt Hirschmann anhand von Datensätzen auf, dass die EU bei den Unionsbürger*innen beliebter denn je ist und auch die Wahlbeteiligung 2019 mit 50,6% auf dem Höchststand seit 1994 ist. Als Grund dafür vermutet er die Aktualität von gesamteuropäischen Themen, wie die Klimapolitik und die Geflüchtetenkrise.

Dennoch spaltet sich die europäische Gesellschaft. Viele Bürger*innen kritisieren die Arbeitsweise der EU und werfen ihr fehlendes Interesse an den Bürger*innen vor. Diese Kritik kommt vorwiegend von gesellschaftlich und wirtschaftlich Verunsicherten, die eher populistische Parteien wählen – zuversichtliche Bürger*innen hingegen wählen meist Parteien der Mitte. Aus dem Kapitel geht letztlich hervor, dass die Mehrheit der europäischen Bevölkerung Vertrauen gegenüber der EU hat, sich allerdings eine Veränderung in der europäischen Politik wünschen.

Hirschmann geht weiter auf den Populismus in der EU ein. Dabei definiert er diesen als Nationalpopulismus, da der heutige gängige Populismus Weltanschauungen des linken und rechten Spektrums vereint und somit eine Kombinationsideologie darstellt. Mit dieser Ideologie und den gängigen Charakteristika, den Alleinvertretungsanspruch zu haben, das System in Frage zu stellen, anti-pluralistisch und anti-elitär zu sein, stellen sie eine Gefahr für die Demokratie dar. Zum einen besteht die Gefahr der dauerhaften Spaltung der Gesellschaft, zum anderen ist es der EU bisher nicht gelungen, wirksam gegen Verstöße gegen die europäischen Werte vorzugehen.

Der Nationalpopulismus zieht die Europäische Union in die Schuldposition, da diese als abstrakt und schwer durchschaubar gilt, mit dem Ziel, die Kompetenzen, die momentan bei der EU liegen, wieder auf die nationale Ebene zu verlagern. Der von Hirschmann zitierte Jan-Werner Müller schreibt dazu:

“Bei dieser gesamteuropäischen Erscheinung handelt es sich um die größte Herausforderung, mit der das europäische Projekt seit Beginn der europäischen Einigung zu kämpfen hat“ (S. 68)

In Kapitel 4 wird auf den Brexit eingegangen, welcher als „Posse“ benannt wird. Zunächst wird auf den Weg Großbritanniens eingegangen, der zum Brexit geführt hat. Dabei liegen die Fehler, die zu dem Referendum führten, vorrangig bei der britischen Regierung, die der EU häufig Schuld zuwies und diese nur als Wirtschaftsvereinigung ansah. Im weiteren Verlauf begründet Hirschmann seine Aussage, wieso er den Brexit als Posse sieht. Er geht auf das Hin-und-her-Gerede um den Austritt ein und beschreibt diesen ausführlich. Er fasst das Grundproblem der Briten mit folgendem Bild zusammen:

„Viele sind offensichtlich der völlig abwegigen Auffassung, dass Leute, die eine Party vorzeitig verlassen und zuvor den Gastgeber auf das Übelste beschimpft haben, weiterhin bestimmen können, was es (danach) zu essen gibt und welche Musik gespielt wird“ (S. 91).

Mit dem Referendum stellt sich Großbritannien einer weiteren Herausforderung, da die Bevölkerung zerrissen ist und Schottland ein weiteres Unabhängigkeits-Referendum in Aussicht stellt, es droht der Zerfall des Vereinigten Königreichs. In Abgrenzung dazu ist mit weiteren Austritten aus der Europäischen Union nicht zu rechnen, obwohl nationalpopulistische Parteien weiter an Stimmen gewinnen. Neben den hohen Kosten überwiegen auch die politischen und wirtschaftlichen Nachteile, die ein Austritt mit sich bringen würde.

Weiter wird auf die Einwanderungs- und Asylpolitik eingegangen, die auf dem Gemeinsamen Europäischen Asylsystem (GEAS) beruht. Die Qualifikationsrichtlinie besagt darin, dass die EU neben „politisch Verfolgten“ auch Opfer von (Bürger-) Kriegen schützt, welche unter die „subsidiären Schutzberechtigten“ fallen. Die Ursache der „Flüchtlingskrise“ liegt nach weiterer Betrachtung (1) bei Konstruktionsfehlern des GEAS, das in einem Abkommen besagt, dass Geflüchtete unter die Zuständigkeit des Staates fallen, in dem sie zuerst einreisen. Dieses System kam durch die Massenflucht zu Fall, da die Staaten Flüchtende nicht mehr registrierten, sie ungehindert weiterreisen ließen, sie zurückschickten oder Grenzkontrollen wieder einführten.

Somit sind (2) die Mitgliedsstaaten als Ursache zu sehen, da diese die vereinbarten Regelungen missachteten, ganz nach dem Motto: Recht wird nur beachtet, wenn es dem Nationalstaat Vorteile bringt. Zu den Staaten, die sich nicht an die Regelungen gehalten haben, gehören mehrheitlich Regierungen mit nationalpopulistischem Einfluss. Auch hier zeigt sich für Hirschmann deutlich: Nationalpopulisten sind Krisensuchende und schüren mit Krisen das Gefühl von Bedrohung und Feindbilder.

Die EU hat mit der Stärkung des Grenzschutzes, den Reformen bei Asylprozeduren und weiteren Punkten vieles in der Asyl- und Migrationspolitik richtig gemacht. Bei der Maßnahme zur gerechten Verteilung der Geflüchteten auf die EU-Staaten hat sie jedoch versagt. Diese Punkte greift Hirschmann auf und kommt zu dem Entschluss, dass dadurch die Stimmung in der EU aufgeheizt und eine (vorläufige) Lösung nicht in Reichweite ist.

Die EU gilt als größter Wirtschaftsraum der Welt und möchte durch eine intensivere Interessensvertretung zum Global Player werden. Andere Global Player,wie die USA, Russland und China versuchen jedoch auf verschiedene Weisen, die EU zu schwächen. Trump sieht ein Feindbild in der Europäischen Union und versucht, diese zu spalten, wie die Unterstützung des Brexits zeigt. Es bleibt spannend, wie sich unter dem neuen Präsidenten Joe Biden die Zusammenarbeit entwickelt.

Russland hingegen will durch Desinformationskampagnen und die Polarisierung der Bevölkerung das Vertrauen in die Wahlprozesse schwächen, um so die EU zu schwächen. China verteilt große Kredite an europäische Staaten, um seine Handelsroute weiterzuentwickeln. Dadurch verfolgen diese Staaten keinen chinakritischen Kurs mehr, wodurch es zu Uneinigkeiten innerhalb der EU kommt und diese handlungsunfähig wird. Die eingeschränkte Handlungsfähigkeit der EU ist problematisch, da sie sich den äußeren Herausforderungen stellen und bei der anstehenden Neuordnung der globalen Einflusskonstellationen eine gewichtige Rolle spielen sollte. Stattdessen wird die Europäische Union immer poröser.

In einigen Mitgliedsstaaten der EU besteht der Wunsch nach Unabhängigkeit in Bevölkerungsteilen. In Katalonien, Schottland und Flandern sind die Bestrebungen dazu besonders groß und werden in Kapitel 7 beschrieben. Den drei Gebieten ist gemeinsam, dass sie eine eigene Identität in Abgrenzung zum Zentralstaat besitzen, nach Autonomie streben und wirtschaftliche Vorteile darin sehen. Die separatistischen Regionen streben nach einer Abspaltung die Mitgliedschaft in der EU an, da sie von dieser profitieren würden - ein Dilemma für die EU, deren Vertrag territoriale Unversehrtheit festschreibt. Zudem müssten die neuen Staaten das mehrjährige Aufnahmeverfahren durchlaufen und die Zustimmung aller Mitgliedsstaaten wäre für die Aufnahme nötig, was als relativ unwahrscheinlich gilt.

Die Europäische Union steht an einer Weggabelung, sie steht zwischen Aufbruch und Abbruch. Die Europäische Kommission legte dazu 2017 fünf Zukunftsszenarien vor. Hirschmann kommt auf Grundlage der Annahme, dass die EU einen Reformbedarf hat, eine Rückkehr zu den Nationalstaaten niemand ernsthaft wollen kann, eine „Wer will, tut mehr“- Politik nicht zielführend ist und die politische und wirtschaftliche Situation ein gemeinsames Handeln erfordert, zu dem Punkt, dass allein eine weitere Vertiefung der EU zielführend sein kann. Über die Zukunft der EU muss allerdings schnell ein Konsens gefunden werden, anstatt in einer sich verändernden Welt stillzustehen. Hirschmann identifiziert fünf Kernelemente für ein stabiles uns zukunftsfähiges Fundament der EU:

  • Es braucht eine klare Grundsatzentscheidung zugunsten einer fortschreitenden europäischen Integration, wohin sich die EU entwickeln will.
  • Eine weitere Föderalisierung hin zu einer ‚Bundesrepublik Europa‘ ist notwendig. Dahingehend braucht es ein Europäisches Parlament und eine EU-Regierung, die die legislative und exekutive Gewalt ausüben können. 
  • Mit der Föderalisierung einhergehend ist die Subsidiarität grundlegend. Alle Zuständigkeiten, die nicht bei der EU besser aufgehoben sind, sollen bei den Mitgliedsstaaten bleiben.
  • Um die dauerhafte Funktionsfähigkeit der Währungsunion zu sichern und zu stabilisieren, ist der Ausbau der Fiskalunion notwendig.
  • Durch das Entwickeln einer europäischen Identität würde sich eine Gruppenzugehörigkeit der Europäer*innen entwickeln. Zudem sollte die Demokratisierung vorangetrieben werden, dies kann durch einheitliche europäische Wahlen ermöglicht werden. Dabei sollten sowohl die Wahllisten als auch die Wahlbedingungen einheitlich sein.

Die EU befindet sich derzeit an einem Punkt, an dem sie ‚überdehnt‘ ist. Der politische und ökonomische Zusammenhalt ist nicht gegeben, weshalb Hirschmann die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten kritisch betrachtet. Stattdessen richtet er seine Hoffnung auf den EU-Ratsvorsitz, den Deutschland im zweiten Halbjahr 2020 innehielt.

Mit den ständigen Rückblicken auf die Entstehungsgeschichte der Europäischen Union und den anschaulichen Abbildungen ist der Band verständlich und lesefreundlich geschrieben. Ein gewisses Vorwissen zur Europäischen Union und zum politischen System in Großbritannien ist für das Verständnis allerdings unabdingbar. Hirschmann bringt immer wieder seine eigene Meinung ein: Er stellt sich beispielsweise klar gegen den Nationalpopulismus und bezeichnet den Brexit als Posse, was die Ernsthaftigkeit der Themen auflockert, zeitweise jedoch voreingenommen wirkt. Dies reflektiert er auch in seinem Vorwort, mit den Worten: „Das Buch ist weder neutral noch ausgewogen noch umfassend“ (S. 7). In jedem Fall liefert der Band jedoch eine grundlegende Basis, auf welcher der aktuelle Stand der Europäischen Union beleuchtet werden kann.

Die Ereignisse, die 2020 globale Auswirkungen hatten und haben, waren zum Zeitpunkt des Erscheinens (März 2020) noch nicht vorauszusehen, sie sind jedoch für die Auseinandersetzung mit der Europäischen Union und ihrem Reformbedarf nötig. Nicht zuletzt aufgrund dessen sind die Forderungen Hirschmanns an den deutschen EU-Ratsvorsitz nicht seinen Wünschen entsprechend umgesetzt worden.

Die Pandemie durch den Erreger SARS-CoV-2 zeigt, dass die Europäische Union auch in Krisensituationen vorteilhaft sein kann, was unter anderem die Unterstützung der Gesundheitssysteme und die Aufnahme von Patient*innen aus Mitgliedsstaaten, deren Gesundheitszentren überfüllt waren, deutlich macht. Auch die negativen Seiten, wie die nahezu stillstehende Situation mit Menschen auf der Flucht an den Außengrenzen Europas, werden durch die Pandemie deutlicher. Zuversicht über die Zukunft der EU bietet folgendes Zitat:

„Es waren […] gerade immer wieder die Krisen und Gefährdungen der EU, die Integrationsfortschritte hervorbrachten. Europa wird in Krisen geschaffen, und es wird die Summe der Lösungen der Krisen sein.“ (S. 204)

Die Europäische Union, das macht Hirschmann deutlich, ist an einem Punkt angekommen, der Handeln erzwingt, und das möglichst schnell. Die Herausforderungen durch die aufstrebenden nationalpopulistischen Parteien innerhalb der EU und der Druck anderer Global Player werden nicht kleiner, solange die Angriffsfläche groß ist. Dazu müssten sich die Mitgliedsstaaten jedoch auf einen Konsens einigen, um eine klare Strategie zu verfolgen, statt – wie bisher – Kompromisse zu schließen, die keine Lösung darstellen. So ist die größte Hürde die eigene innere, die als erste überwunden werden muss, um weiterhin funktionsfähig zu sein. Fakt ist, dass die aktuelle Position der Europäischen Union weitaus besser sein könnte, oder um es mit den zitierten Worten von Schmale zu sagen:

„Es liegt doch auf der Hand, dass die EU in ihrer jetzigen Form als Bündnis kriselnder Nationalstaaten keine langfristige Zukunft mehr hat. Sie wird so auch nicht durch das Drehen an irgendwelchen Stellschrauben zu retten sein. Doch wir dürfen dieses einmalige Friedensprojekt des 20. Jahrhunderts nicht einfach lustlos und verdrossen so zerbröseln lassen, wie das seit Jahren geschieht.“ (S. 182)

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