Freitag, 26. Februar 2021

Rezension zum Sammelband "Kann Kultur Europa retten?"

Grätz, Ronald (Hrsg.) (2017): Kann Kultur Europa retten?, Bundeszentrale für politische Bildung (für 4,50 € bestellen).

Rezension

Autor: Jan Bartosch

Verschiedene Autoren widmen sich in diesem von der Bundeszentrale und dem Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) herausgegebenen Sammelband dem „Projekt“ geeintes Europa und den damit verbundenen Herausforderungen und auch Chancen. Europa wird unter wirtschaftlichen, soziologischen und ethischen Gesichtspunkten in Verbindung mit seinen kulturellen Möglichkeiten betrachtet. Die Definition von Kultur sowie deren Wirkungsgrad wird beleuchtet. Die Notwendigkeit, Kultur als „Kitt“ für ein Europa der Zukunft „ins Auge fassen zu müssen“ ist Kernthematik dieses Buches.

Zentrale Intention der Autoren scheint die Darstellung des Paradoxons zu sein, wie man durch Kultur Europa retten will; wobei Europa retten zu müssen, oder gar zu hinterfragen, ob es gerettet werden will, genau das offensichtliche Problem darstellt. Dieses Werk kann eine sehr inspirierende Quelle für angehende Lehrer, Politikstudenten, aber auch für viele politikverdrossene Bürger der EU sein.

Ronald Grätz sowie all die anderen Autoren in diesem Buch sprechen hier gezielt all die Probleme an, mit denen Europa momentan massiv zu kämpfen hat. Die Vision, die die Gründerväter Europas von einem friedlichen Miteinander über die wirtschaftlichen und politischen Interessen hinaus hatten, scheint bedroht durch den zunehmenden Rechtspopulismus, Protektionismus, finanzielle und finanzpolitische Probleme, Flüchtlingsströme und nicht zuletzt durch die überzeugte Euro-Gegnerschaft. (vgl. S. 7)

Das gemeinsame Kulturerbe, die gemeinsamen kulturellen Wurzeln der europäischen Staaten, sollten doch dabei helfen, vom Nationalen den Sprung ins Übernationale zu realisieren, so der Gedankengang der Autoren.

Die ersten Kapitel dieses Werkes umschreiben sehr eindrucksvoll die historische Gestaltung und Notwendigkeit der Bildung von Staaten, so auch am Beispiel der deutschen Nation, ehemals 40 Kleinstaaten, die im Verbund in jeglicher Weise profitieren. (vgl. S. 21) Dies jedoch, so der Tenor, sollte eben der Zwischenschritt zum nachnationalen Europa sein, das im Moment stagniert.

Die Globalisierung hat längst begonnen und die Probleme und Phänomene, für die Antworten gesucht werden, sind längst transnational. Angesprochen sind sowohl die Wertschöpfungskette, Investitionen, Energieerfordernisse, Ökologie, Kontrolle im Sinne von moderner Kommunikation und weitere Sektoren. (vgl. S. 21) Der Autor Robert Menasse verweist auf den „Hegelschen Tod“, der besagt: „Der Mensch stirbt auch aus Gewohnheit“; als Fazit dafür, dass Europa weiter gestaltet werden muss! (vgl. S. 26)

Was ist Kultur? In den folgenden Seiten geht der Autor David Engels gezielt der Definition von Kultur nach. Klar ist wohl, dass Kultur für Vieles stehen kann, so häufig als Synonym für „Zivilisation“ (vgl. S. 36). Gleichwohl wurde in der Vergangenheit Kultur auch als „künstlerische Blütezeit“ bezeichnet, in der Gegensätze als kreatives Chaos gewertet wurden. Kultur im Sinne von Toleranz, Offenheit, Schönheit, Kunst, Geist, Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Freiheit und der Wille, eine ideale Gesellschaftsordnung zu bilden, so das Bestreben! (vgl. S. 40)

Auch der Soziologe Andreas Reckwitz unterscheidet vier Bedeutungsdimensionen des Begriffes Kultur, wobei die vierte Definition eine zentrale Rolle spielt. Diese besagt, dass alle Menschen komplexen Denkmustern, Ideen und Empfindungen folgen, die gemeinsamen kulturellen Zeichen und Symbolen entstammen, aber letztlich auch nicht zu fixieren und sehr fluide sind. (vgl. S. 46)

Zusammenleben heute, in der Unterschiedlichkeit die Vielfalt zu sehen und die Möglichkeit, ein neues Narrativ zu bilden, das ist die große Herausforderung, die wir zu bewältigen haben. Vorbehalte gegen „das Fremde“ gilt es zu überwinden in vielerlei Hinsicht. Interessant auch die mögliche „Schlüsselrolle“ der zukünftigen Lehrer. Europäische Bildung ist ebenso ein Schlüsselwort in diesem Band (vgl. S. 62).

Fehlende gemeinschaftliche nationale Geschichte wird hier ebenfalls als mögliche Ursache bei der Identifikationsdebatte der EU angesprochen. (vgl. S. 76)

Enorme Spannungsverhältnisse herrschen offensichtlich zwischen Demokratie und Recht in der Europäischen Union. Markant ist auch die „knackige Zusammenfassung“ von Ludger Kühnhardt: „die EU will ein Europa repräsentieren, in dem das Recht die Macht und nicht die Macht das Recht hat!“ (S. 102)

Ein wichtiger Punkt bei der Debatte, wie Europa weiterwachsen kann, ist natürlich das Europarecht und die Bereitschaft der EU-Mitgliedsstaaten, ihre Souveränitätsansprüche an die Organe der EU abzugeben. (vgl. S. 106) Trotz vieler Unterschiede in der Auslegung und Handhabung in Sachen europäischer Politik hat man beim Lesen doch das Gefühl, es bestünde noch Hoffnung auf eine „funktionierende“ europäische Gesellschaft.

Die Beiträge zum digitalen Wandel unserer Gesellschaft und den damit verbundenen Möglichkeiten zur Schaffung von Transparenz, Partizipation bis hin zur Stabilisierung von Sozialität, fallen allerdings recht kritisch aus. Hier wird deutlich gemacht, dass die Europäische Union offensichtlich noch einen weiten Weg vor sich hat, um den digitalen Wandel adäquat zu gestalten. (vgl. S. 124)

Thematisiert wird auch die Möglichkeit der sozialen Gruppenbildung im virtuellen Raum, wobei auch auf die Gefahren der Förderung von populistischen und extremistischen Strömungen mahnend hingewiesen wird. Aber auch die positive Entwicklung, als Beispiel wie „Kunst als Seismograf“ für gesellschaftliche Freiheit funktionieren kann im digitalen Zeitalter, wird von der Autorin Antonia Blau eindrucksvoll erörtert. (vgl. S. 136)

Auch die Erwartungen, Hoffnungen und Ideologien der Menschen, die aus muslimisch geprägten Ländern nach Europa einreisen, werden hier eingehend beleuchtet. Kultur als Brücke für die Verständigung unterschiedlicher Prägungen, Weltanschauungen und religiöser Überzeugung, wird ins Feld geführt. Hier sehr prägnant zu bemerken, der Appell an die Institutionen, die für die Bildung zuständig sind. Kulturelle Bildung auch außerhalb der Schule zu fördern, ist ein erkennbares Ansinnen. (vgl. S. 156)

„Die Lösung eines Problems beginnt mit der Erkenntnis“! (Epilog von Keler, S198) Sehr anschaulich, aber auch pragmatisch schildern alle Autoren in diesem Werk, dass Europa, so wie es einst zumindest von Menschen wie beispielsweise Victor Hugo angedacht war, noch viele Probleme lösen darf. Ob und inwiefern Filme, Theater, Comics oder kulturelle Veranstaltungen dabei helfen können, liegt wohl an der Einstellung der Akteure, so das Fazit, dass ich daraus erkennen kann. Die Kunst, die Menschen zum Nachdenken bringt mit dem Bestreben einer humanen Gesellschaft, kann wohl doch ein probates Mittel sein auf dem Weg sich zukünftig gerne als Europäer fühlen zu wollen.

In diesem „Werk“ wird sehr strukturiert aber auch sehr dediziert auf die Problematiken eingegangen, die Europa zu bewältigen hat. Sehr authentisch machen die Autoren ihren jeweiligen Standpunkt klar und untermalen diesen auch mit Beispielen und eigenen Erfahrungen. „Erst glaubt man an ein Land, eine Partei, eine Idee, eine Lebensweise, und wenn das ideale System dann Mängel zeigt, beginnt die Periode der Ernüchterung und der Skepsis.“ (S. 222) Eine sehr bildhafte und gefühlsbetonte, aber auch pragmatisch Schilderung der Autorin Amanda Michalopoulou über ihre erste Reise von ihrer griechischen Heimat nach Paris.

Inhaltlich sind die meisten Themen unserer heutigen Zeit, speziell in Europa, aber auch über Grenzen hinaus sehr gut erfasst. Die Argumentationsstruktur ist recht schlüssig gehalten, wie sehr gut am Beispiel des Berliner Europahistorikers Hartmut Kaelble verdeutlicht wird: „anders als die in ihr vereinten Mitgliedsstaaten- keine einer Nationalgeschichte vergleichbare gemeinsame Geschichte aufweisen,“ (67) wird als Ursache für das Defizit der EU an geschichtsbasierenden Identifikationsfolien, angeführt.

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