Patel, Kiran Klaus (2018): Projekt Europa. Eine kritische Geschichte, C.H. Beck.
Rezension
Autorin: Dilan Akyüz
Das Buch "Projekt Europa. Eine kritische Geschichte" von Patel Kiran Klaus erstreckt sich über acht Kapitel und signalisiert dem Leser: „der Schein trügt“. Eingebunden ist das Buch in den typischen Farben der Europäischen Union, gelb und blau. Gelb für die Sterne, symbolisch als Zeichen für die verschiedenen Völker Europas vor dem blauen Hintergrund, welches den Himmel zum Ausdruck bringen soll. Nicht zu übersehen sind die Risse auf dem Cover des Buches, dies soll die Zerrissenheit und das immer größer werdende Ungleichgewicht innerhalb der EU symbolisieren.
Zusammengefasst auf 360 Seiten Text veranschaulicht Patel eine kritische Sicht auf Europa und seine Vorgeschichte. Kapitel 1 konzentriert sich auf die experimentelle Phase der europäischen Integration nach dem Zweiten Weltkrieg 1945. Im zweiten Kapitel rüttelt Patel am Selbstbild der EU als Garant des Friedens in Europa. Dann, in Kapitel 3, diskutiert Patel den wirtschaftlichen Aufschwung Europas. Im vierten Kapitel erläutert der Autor die Schwierigkeiten innerhalb der EU und das von den Medien nach außen vermittelte Bild. Das fünfte Kapitel zeigt die Widersprüche der EG/EU auf. Im sechsten Kapitel erörtert Patel die institutionellen Strukturen und deren Machtverhältnisse: "bürokratisches Monster oder nationales Instrument". Das siebte Kapitel befasst sich mit dem Austritt von Algerien und Grönland: “Desintegration und Dysfunktionalität“; schließlich diskutiert der Autor im achten Kapitel die Bedeutung der Europäischen Gemeinschaft für die Welt.
In groben Zügen zieht Patel eine Zwischenbilanz über die Europäische Union. Dies ist eine Zwischenbilanz, die bis in die 1990er Jahre reicht, dem Leser aber immer wieder Ausblicke in die Gegenwart gewährt. Patel entlarvt die großen "Errungenschaften" der europäischen Integration - Frieden, Demokratie, Sicherheit und Menschenrechte -, die ihre politischen und professionellen Verteidiger immer gerne präsentieren. Es waren andere Akteure oder besondere geschichtliche Umstände, die es Europa ermöglichten, von diesen "Errungenschaften" zu profitieren.
Klare Erfolge zeigt die Europäische Union in wirtschaftlichen Bereichen auf, mit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 1957. Um die EWG effektiv zu regeln, entstand auch das europäische Recht, das der Autor in seiner Breitenwirkung, aber auch in seiner Widersprüchlichkeit als zweite Säule des europäischen Projekts bezeichnet. Patel geht natürlich nicht nur auf die negativen Aspekte der EU ein, sondern ist auch der Überzeugung, dass in beiden Bereichen Vorteile für die Bürgerinnen und Bürger und nicht nur für die Wirtschaftsunternehmen der Mitgliedsstaaten zu entdecken sind.
Aber gerade weil sich dieser Schnittpunkt als eine wissenschaftlich basierte und rationale Angelegenheit entpuppt hat, mit aktiver, aber eher verdeckter Beteiligung von Lobbyisten, Anwälten und Verwaltern, ist das europäische Projekt, wie Patel beschreibt, einerseits in Krisensituationen so stark, aber andererseits so anfällig für nationale politische Gegen- und Vetospieler geblieben. Bis 1990 und darüber hinaus konnte Bürgernähe weder durch PR-Kampagnen noch durch Sonntagsreden erreicht werden.
„Projekt Europa. Eine kritische Geschichte“ bietet also geschichtliche Aufklärung im wahrsten Sinne des Wortes. In allen acht Themenbereichen, die der Autor erforscht, fällt ein Mythos oder ein achtlos aufrechterhaltener Irrglaube weg. Müsste man dem inhaltlichen Zusammenhang eine Farbe erteilen, so wäre es die Farbe grau oder eher "mausgrau" (S. 236), eine Farbe, die Patel wählt, um den Brüsseler öffentlichen Dienst zu charakterisieren.
Denn das ist es, was Patel dem Leser deutlich macht: Die Brüsseler Institutionen sind effektiv und im Laufe der länger als 50 Jahre andauernden Zusammenarbeit sehr eng mit den Verwaltungen und Ministerien der Mitgliedsstaaten verwoben. Dies hat zu einer besonderen Form des modernen Verwaltungsstaates geführt, der die vertrauten Kategorien der Staats- und Verfassungstheorie längst hinter sich gelassen hat.
Was den Leser am meisten anspricht, ist, dass er tatsächlich über all die Vorurteile aufgeklärt wird, die er mit sich herumträgt und die er ablegen muss, um das "Monster von Brüssel" zu verstehen: neoliberal? Ja, aber nur in begrenztem Maße, denn Brüssel hat sich schon immer energisch in wirtschaftliche Angelegenheiten eingemischt, indem es Preise festgesetzt, Binnenmärkte geschlossen und Subventionen verteilt hat.
Die 1970er Jahre als die Krisenjahre der Union? Ja, aber gleichzeitig ebneten neue gemeinsame Initiativen den Weg für die lebhafte Expansion der Integration in den 1980er Jahren. Die Europäische Union als "Rettung der europäischen Nationalstaaten"? Ja, aber nur in bestimmten Bereichen und keineswegs als Strukturprinzip und universelle Triebfeder des Handelns. Die Brüsseler Kommission und ihre Verwaltung als Ergebnis der "spill-over"-Effekte, wie der Neofunktionalismus behauptet? Ja, auch, aber keineswegs als selbstverherrlichende Kraft in allen Bereichen und als historisches Gesetz der Entwicklung.
Das Buch ist so aufgebaut, dass der Leser in jedes beliebige Kapitel einsteigen kann, da jedes Kapitel ein anderes Thema umfasst. Dieser Aufbau ist ebenso nützlich wie programmatisch: Denn die kritische Geschichte hat trotz ihrer Lust an der Entlarvung von Mythen eine eigenwillige Lesart des europäischen Projekts: Es ist ein fragiles Ganzes aus sehr unterschiedlichen Handlungsfeldern und Akteuren - allen voran den Mitgliedstaaten - geblieben.
Die Europäische Union ist in den verschiedenen Bereichen sehr unterschiedlichen Logiken gefolgt und ihre Flexibilität sollte und muss insofern gewürdigt werden. Es sind in der Tat unterschiedliche Projekte. Um die vielfältige Anpassung der EU zu veranschaulichen, könnte man sie mit einem Chamäleon vergleichen, das sich z.B. in seiner Außenhandelspolitik mit Asien, USA oder Afrika erst als spätes Kolonialmachtprojekt, dann als agrarprotektionistischer “Extremist“ und gleichzeitig als flexibler Juniorpartner des großen Verbündeten USA präsentiert (Kapitel 8). In Kapitel 7, das sich mit "Desintegration und Dysfunktionalität" beschäftigt, erlebt man die Brüsseler Institutionen als unbeweglich: Grönland und Algerien verließen die Union lange vor Großbritannien. Wegen des Vetos einflussreicher Mitgliedstaaten konnten vereinbarte Ziele nicht umgesetzt werden.
Aus einer freundschaftlichen Verbundenheit mit diesem Projekt schreibt Patel diesen kritischen Bericht. Dies lässt sich direkt in der Inhaltsangabe erkennen, Kapitel 1 über Frieden und Sicherheit, Werte und Normen in Kapitel 5 sowie Partizipation und Technokratie in Kapitel 4. Das Buch lässt den Leser mit ambivalenten Gefühlen zurück. Seine Ermahnung bezüglich der aktuell andauernden Debatten, einen kühlen Kopf zu bewahren und die Vorteile und Möglichkeiten dieses Projekts nüchtern zur Kenntnis zu nehmen, ist richtig und wichtig.
Dass seine geschichtliche Analyse bei 1990 aufhört, hat allerdings einen besonderen Grund: Die Energie der letzten 20 Jahre, mit den Stichworten wie Eurokrise, Finanzmärkte, Globalisierung und Osterweiterung, wird in diesem Buch nicht behandelt. Bekannt ist jedoch, dass gerade diese Ereignisse Probleme geschaffen und strukturelle Folgen hinterlassen haben, die für die aktuelle Debatte über die Zukunft Europas ganz wesentlich geworden sind.
Es wäre schön, diesbezüglich von den Erkenntnissen des Autors profitieren zu können, um Vorurteile und Schnellurteile zu revidieren. Wir brauchen also mehr denn je die Perspektive einer kritischen Geschichte Europas. Auch wenn nicht jedes Argument des Autors überzeugend ist, hat Patel ein sehr lesenswertes, anregendes Buch geschrieben. Er fasst nicht einfach den Stand des Wissens in einem Lehrbuch zusammen, sondern eröffnet Perspektiven für die Forschung, zum Teil unter Verwendung neuer archivalischer Quellen.
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