Mittwoch, 17. Februar 2021

Aufsatz zur Kerneuropa-Idee

In diesem Beitrag stellt Melanie Kuhn folgenden Aufsatz vor:

Loth, Wilfried (2015): Die „Kerneuropa-Idee“ in der europäischen Diskussion; in: Journal of European Integration History, Jahrgang 21, Heft 2/2015, S. 203 - 216 (online unter: https://www.nomos-elibrary.de/10.5771/0947-9511-2015-2-203/die-kerneuropa-idee-in-der-europaeischen-diskussion-jahrgang-21-2015-heft-2).

Bei der Kerneuropa-Idee handelt es sich um die Idee einer „differenzierte[n] Integration vorwiegend mit der Idee einer Kernbildung“ (S. 203), so Loth. Kernbildung meint dabei eine intensivierte Kooperation und Integration eines Teils der Gemeinschaftsmitglieder, das als Vorangehen in bestimmten Integrationsbereichen mit der Absicht bezeichnet werden kann, nichtbeteiligte Gemeinschaftsmitglieder zur Mitwirkung bewegen zu können.

Zur historischen Entwicklung konstatiert Loth, dass sich im Grunde schon die Gründung der Montanunion 1950/51 mit ihren sechs Mitgliedstaaten Westdeutschland, Frankreich, den Benelux-Staaten und Italien als Kernbildung beschreiben lässt (vgl. S. 203). Hier wurde nicht explizit über die Frage einer Kernbildung diskutiert, da eine solche innerhalb dieses „Europas der Sechs“ (S. 204) nicht zielführend erschien; implizit schien diese Frage im Zusammenhang mit der EWG-Erweiterung aber wohl an der Tagesordnung zu stehen. So kann Charles De Gaulles Projekt einer Politisches Union durchaus als Versuch verstanden werden, einer atlantischen Orientierung der Wirtschaftsgemeinschaft infolge des Hinzutretens von Beitrittskandidaten wie Irland, Großbritannien und Dänemark „durch die Bildung eines politischen Kerns der Sechs“ (S. 204) entgegenzutreten. Dieser Versuch scheiterte jedoch.

Der deutsch-französische Vertrag im Jahr 1963, der eine verstärkte Zusammenarbeit Frankreichs und Deutschlands insbesondere in der Außen- und Verteidigungspolitik vorsah, kann als erste praktische Anwendung dieser Kernbildungs-Idee gesehen werden. Die Verwirklichung im Vertrag war auch verknüpft mit dem Ziel, die Verhandlungen zu einer Politischen Union der Sechs wieder aufleben zu lassen, was jedoch scheiterte (vgl. S. 204).

Der Vorschlag des deutschen Bundeskanzlers Kurt-Georg Kiesinger, Beitrittskandidaten wie Irland, Norwegen, Österreich, Portugal und Spanien „nur an einer ‚ökonomisch-organisierten Lösung‘“ (S. 205), die die Vorteile eines Gemeinsamen Marktes bot, teilhaben zu lassen, und gleichzeitig mit Großbritannien eine Politische Union zu schaffen, scheiterte an dem Protest Dänemarks und Norwegens.

Mit seinem Vorschlag einer Abstufung der wirtschaftlichen Integration im Jahr 1974 erfuhr Willy Brandt größere Zustimmung als Kiesinger. Um die weitere Zusammenarbeit der Gemeinschaft zu gewährleisten, sollten diejenigen Mitglieder, die wirtschaftlich dazu in der Lage waren, die Integration voranbringen, während die wirtschaftlich schwächeren mit aktiver Unterstützung auf einen späteren Beitritt vorbereitet werden sollten (vgl. S. 205). Ziel war auch die Verwirklichung einer Währungsunion.

Diese Idee einer Pionierstrategie im wirtschaftlichen Bereich wurde wieder aufgegriffen, aber zunächst nur außerhalb der bestehenden Verträge praktiziert. Im Vertrag von Maastricht waren ansonsten Bestimmungen enthalten, die einzelnen Staaten ein Zurückbleiben, ein Opting out, hinsichtlich der dritten Stufe der Währungsunion zugestanden (vgl. S. 206).

Im Jahr 1994 erhielt die Kerneuropa-Diskussion im Zusammenhang mit dem Blockieren weiterer Ausbauprojekte durch die britische Regierung und absehbaren Beitritten weiterer Staaten erneut Auftrieb. Unter anderem sprachen sich der französische Premier in seinem berühmten Balladur-Interview (vgl. S. 207) sowie Schäuble und Lamers in einem Papier dafür aus. Das Schäuble-Lamers Papier geriet jedoch wegen seiner gleichzeitigen Forderung nach einem erweiterten föderalen Europa in Kritik; ebenso fiel die Reaktion in den Staaten, die nicht zum Kern Europas gerechnet wurden (dazu zählte auch Italien), äußerst abwehrend aus (vgl. S. 208).

Deutschland und Frankreich trugen im Folgenden die Idee vor den Europäischen Rat, eine Klausel im Maastricht-Vertrag zu integrieren, die bestimmten Staaten auf Wunsch eine verstärkte Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen möglich machen sollte. Nach Meinung der Briten sollten die Bereiche der verstärkten Zusammenarbeit jedoch von allen Unionsmitgliedern abhängig bleiben. Die Möglichkeit der verstärkten Zusammenarbeit wurde schließlich in einem Vertragsentwurf von 1997 in einem bestimmten Rahmen eingeräumt (vgl. S. 209), bei der Amsterdamer Tagung im selben Jahr jedoch nur mit Einschränkungen festgeschrieben, die eine tatsächliche Realisierung ziemlich unwahrscheinlich machte. Der deutsche Bundeskanzler und die Regierungschefs der kleineren integrationswilligen Staaten setzten dem britischen Beharren letztlich keinen Widerstand entgegen, weil keine neuen Politikfelder zur Anwendung der Klausel in Sicht waren. Unter anderem war zu diesem Zeitpunkt die Währungsunion auch ohne britische Beteiligung nicht mehr gefährdet.

Dennoch setzten sich Befürworter der stärkeren Integration bei der Regierungskonferenz im Jahr 2000 wieder dafür ein, das Vetorecht bei der Einführung verstärkter Zusammenarbeit zu beseitigen (vgl. S. 210). Jaques Delors hingegen verlangte Ende 1999 eine europäische Avantgarde, wie er sie nannte, die über eigene Institutionen verfügen und auf dem Weg zur weiteren Integration entschlossen vorangehen sollte.

Der damalige deutsche Außenminister Fischer griff diese Idee auf und nutzte sie als subtile Drohung gegen diejenigen Mitgliedstaaten, die sich gegen eine Europäische Föderation stellten. Er bezeichnete die Avantgarde als „Gravitationszentrum“ (S. 211), das bereits alle Elemente der späteren Föderation beinhalten würde. Die Vertiefung sollte laut Delors entweder gemäß dem Verfahren verstärkter Zusammenarbeit oder, falls erforderlich, auch außerhalb des Unionsvertrags stattfinden.

Die einschränkenden Bedingungen im Amsterdamer Vertrag zur verstärkten Zusammenarbeit konnten beim Vertrag von Nizza zumindest teilweise gelockert werden (vgl. S. 212). Nach den Bestimmungen des Vertrags von Lissabon wirkt die verstärkte Zusammenarbeit auch insofern stärker kernbildend, dass dem Parlament in mehr Bereichen das volle Mitwirkungsrecht zusteht. Bisher diente diese Zusammenarbeit jedoch nicht der Errichtung eines Gravitationszentrums, sondern eher der Auflockerung von politischen Blockaden in der Union (vgl. S. 213).

„Die Sorge um die Kohärenz der Union und die Furcht vor Marginalisierung [ließ] die Mitgliedsländer […] davor zurückschrecken, im großen Maßstab auf das Instrument der verstärkten Zusammenarbeit zurückzugreifen.“ (S. 313f).

Im Zeichen der Euro-Krise seit 2010 kamen die Forderungen nach einem Kerneuropa in solchen nach Vollendung der Banken-, Wirtschafts- und Fiskalunion Europas zum Ausdruck. Sowohl die „Glienicker-Gruppe“, ein Zusammenschluss deutscher Wissenschaftler und Europapolitiker, wie auch die französische „Eiffel-Gruppe“ legten ein Programm hierfür vor.

In seinem Fazit schreibt Loth, dass sich die Kerneuropa-Diskussion „als unvermeidliche Begleiterscheinung der Heterogenität“ (S. 215) innerhalb der Europäischen Union darstellt. War es zunächst die Wahrung der Perspektive einer politischen Union, in den 1970er Jahren das unterschiedliche wirtschaftliche Können und Wollen auf dem Weg zur Währungsunion, bildete in den 1990er Jahren die Frustration über die britische Blockadehaltung und schließlich die Furcht vor einer Überdehnung der Union das Zentrum der Kerneuropa-Diskussion (vgl. S. 215).

Tendenziell ließen sich statische Konzepte, die ein langes Nebeneinander von Kern und weiterer Gemeinschaft vorsehen, und Konzepte, die die Pionierfunktion des Kerns betonen, unterscheiden. Beide betrachten die Kernbildung dennoch nur als transitorisches Phänomen. Realisiert wurden solche Vorstellungen bisher nur in einzelnen Sektoren; für Loth erscheint es dennoch zielführend, solche zu realisieren oder auch nur anzudrohen, um die Integration voranzutreiben.

Loth sieht es auch als wahrscheinlich an, die differenzierte Integration als pragmatische Lösung spezifischer Integrationsprobleme heranzuziehen. Als strategisches Konzept hält Loth ein Kerneuropa nicht für sinnvoll, da in seinen Augen eine Unterscheidung in integrations- und weniger integrationswillige Eurozonen-Länder nicht möglich ist und er eine doppelte Kernbildung im Sinne einer Haushaltsunion innerhalb der Währungsunion nicht für sinnvoll und praktikabel hält (vgl. S. 216).

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