Donnerstag, 21. Juni 2018

Essay zum FAZ-Gastbeitrag "Einheit und Eigenständigkeit" von Klaus Hänsch

Dr. Klaus Hänsch: Einheit und Eigenständigkeit, FAZ vom 31.08.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-14-einheit-und-eigenstaendigkeit-14409971.html)

Autorin: Katharina Maixner

Klaus Hänsch leitet seinen Artikel durch eine Feststellung ein. Die Europäische Union wurde gegründet, um ein kriegsfreies Europa zu gewähren. Krisen hingegen gab es laut ihm schon immer. Der Unterschied zu den heutigen Krisen ist, dass die Menschen von den heutigen Krisen vermehrt in ihrem persönlichen Raum getroffen werden. Trotz der Krisen in der Vergangenheit hielt die EU durch Kaufen von Zeit, Bankenrettung, Reformdruck und Sparzwang zusammen.


Die Finanzpolitik wurde dafür bislang von der EZB zusammengehalten. Laut Hänsch hätte der Euro nicht eingeführt werden müssen. Allerdings ist er eingeführt und deshalb musste er auch gerettet werden. Die Rettung des Euros wird noch länger dauern, allerdings ist das eine Krise, welche laut Hänsch überwunden werden kann.

Nachdem er das ausführte, beginnt er die Probleme der EU in der heutigen Zeit aufzuführen, beginnend mit der Flüchtlingskrise. Für alle Beteiligten, so schreibt Hänsch, ist es eine schwierige Krise. Kolonialmächte mit erheblichem Anteil an ethnischen Minderheiten, aber auch die an das Mittelmeer grenzenden Ländern, mit schon jahrelang überstrapazierter Aufnahmebereitschaft, sowie Deutschland, welches das Sehnsuchtsland der Flüchtlinge ist, durch seine wirtschaftliche und soziale Stärke. Hänsch schreibt, dass die Angst einiger Bürger vor dem Verlust der Identität zu verstehen ist. Die Willkommenskultur der Deutschen ist nicht das non plus ultra.

Als nächstes Problem wird das Thema Russland erwähnt. Russland fühlt sich laut Hänsch übergangen. Die EU vermittelte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, dass das postsowjetische Gebiet das Einflussgebiet der EU ist. Putin hätte durch die widerrechtliche Annexion der Krim gerne eine Meinungsspaltung der EU. Jedoch hat die EU bemerkenswert souverän und krisentauglich reagiert, laut Hänsch.

Durch die Osterweiterung von 2004/7 bedrohte sich die EU selbst. Je größer die EU wird, desto instabiler wird sie. Der Türkei sowie der Ukraine dürfe keine Hoffnung auf eine Aufnahme in der EU gemacht werden.

Das nächste Problem, welches Hänsch anspricht, ist der Brexit. Das erste Mal seit dem Bestehen der Europäischen Gemeinschaft beziehungsweise der EU kam es vor, dass ein Staat aus dieser Konstruktion freiwillig austreten will. Hänsch hat dazu eine ganz eigene Meinung. Er bestreitet, dass der Austritt eines Mitgliedsstaates ein existentielles Risiko für die EU darstellt. Laut des EU- Vertrages von 2009 hat jedes Mitgliedsland ganz offiziell die Möglichkeit, aus der EU legal auszutreten. Der Austritt von Großbritannien wird erst dann zum Problem, wenn das Land, welches austritt, die Richtlinien des Austrittes diktiert. Sobald das passiert, werden auch andere Länder versuchen, Sonderregelungen auszuhandeln und notfalls mit dem Austritt zu drohen.

Aus der EU kann jeder aussteigen, abgesehen von Deutschland und Frankreich, welche durch ihre historischen Rollen zu einer Mitgliedschaft verpflichtet sind. Deutschland hat diese Mitgliedschaft sogar in seinem Verfassungsauftrag. Die Rolle, welche Deutschland jedoch hat, darf es nicht dazu verleiten, überheblich zu werden, das wiederum wäre ebenfalls ein erheblicher Fehler. Nachdem Hänsch nun diese Probleme aufgezeigt hat, dringt er zum Kern des Aufsatzes vor.

Das eigentliche Problem seiner Meinung nach ist, dass Brüssel und somit die EU sich zu sehr auf kleine und kleinste Probleme beschränkt, statt Politik zu machen. Die EU beschließt, welche Krümmung Gurken besitzen dürfen und lässt sich bei den Verhandlungen über CETA von einem Staat ausbremsen. Die Rückverlagerung diverser Bereiche in die Länder, beispielsweise Sport und Tourismus, ist möglich, nicht aber, wenn es um den Binnenmarkt geht.

Es gibt diverse, teilweise auch alte Ideen, die EU zu restaurieren. Die Union auf ein Kerneuropa zu schrumpfen, eine Neugründung, jede dieser Möglichkeiten ist nicht diskutabel. Keine Vertragsbestimmungen können die oben genannten Krisen laut Hänsch lösen. Ein bestehendes System kann auf die EU nicht angewendet werden. Ein neues System muss entwickelt werden, welches alleine auf die EU zugeschnitten ist.

Das ist der Dreh- und Angelpunkt des Artikels. Die EU muss, um weiterhin handlungsfähig zu bleiben, ein eigenes System entwickeln. Der größte Feind der EU ist die EU selbst, welche sich durch die extreme Bürokratie und ewige Diskussionen um Kleinigkeiten zerstören könnte.

Hänsch ist Mitglied der SPD und war zwischen 1994 und 1997 Präsident des Europäischen Parlaments. Er vertrat zwischen 2002 und 2003 das Europäische Parlament im Konvent über die Zukunft Europas. Hänschs Meinungen und Argumente decken sich in vielen Bereichen mit der Meinung der SPD-Fraktion.

Die SPD möchte einen Aufbruch in der Europapolitik und eine Neuausrichtung in Europafragen, so Andrea Nahles. Außerdem möchte die SPD, laut ihrer Homepage, eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Hänsch behauptet, dass jeder Staat aus der EU austreten kann, außer Frankreich und Deutschland. Die SPD plädiert ebenfalls für eine enge Zusammenarbeit mit Frankreich.

Allerdings wird Hänsch konkreter, und da ist der Artikel spannend. Die klare Aufforderung zu mehr Handlungsfähigkeit der EU entspricht meiner Meinung. Die Bürger der EU sind verärgert, da sie von dem großen Konzept meistens nicht viel mitbekommen. Menschen sind oft politisch nur interessiert, wenn es um ihr eigenes Habitat geht. Von der EU bekommen die Menschen mittlerweile nur noch Negatives mit. Was anfangs noch höchstens mit Desinteresse quittiert wurde, ist mittlerweile zur Abneigung geworden. Die Menschen bekommen von der EU Sparzwänge auferlegt. Das ist objektiv nötig, um die Länder zu retten, aber ein Mensch, der plötzlich vor seiner gescheiterten Existenz steht und immer noch sparen soll, oder Jugendliche, die in ihrem Land arbeitslos sind, macht die EU dafür verantwortlich.

Es ist einfacher, in diesem Moment mit Ablehnung zu reagieren, als objektiv über das größere Problem nachzudenken. Die EU muss beginnen, Politik zu machen, welche die Bürger verstehen und annehmen können. Politik darf nicht so weit entfernt stattfinden, dass sich Bürger nicht mehr verstanden und wie unter einem Diktat fühlen. Es muss das Gefühl von Gemeinschaft vermittelt werden, die EU muss näher zusammenrücken, ohne dass man den Menschen eine Identität aufzwingt.

Auch das ist ein Argument, welches Hänsch anspricht. Den Bürgern einen Staat „Europa“ zu diktieren, ihnen die Identität als Europäer aufzuzwingen, funktioniert nicht. Europa hat mittlerweile mit über 70 Jahre die längste Friedenszeit in seiner Geschichte erlebt. 70 Jahre Frieden stehen Jahrhunderte in ständigem Krieg gegenüber. Jedes Land hat seine Geschichte, jedes Land kann auf Jahrhunderte zurückblicken. In diesen Jahrhunderten ist eine nationale Identität gewachsen. Italiener, Spanier, Engländer auch Deutsche, auch wenn der deutsche Sonderweg zur Bildung einer deutschen Identität etwas länger gedauert hat. Wie kann man dann verlangen, dass innerhalb von so wenigen Jahren eine Identität als Europäer gebildet werden kann. Die EU muss näher zusammenrücken, ja, aber ohne dass den einzelnen Ländern vorerst ihre Identität genommen wird.

Durch vernünftige Politik, saubere Entscheidungen und ohne die ständige Zerfleischung jeder Diskussion könnte die EU einiges an Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Ich teile die Meinung, dass es in einem System aus 28 Staaten nicht sein kann, dass ein einzelner Staat die Entscheidung kippen kann. Hänsch nennt als Beispiel das Handelsabkommen mit Kanada CETA. Allerdings ist Hänsch in diesem Punkt etwas ungenau, das liegt aber am Erscheinungsdatum des Artikels. Am 21 September 2017 trat das Handelsabkommen zumindest teilweise in Kraft. Allerdings ist das Argument trotzdem wichtig. Das Europaparlament nennt sich Parlament. Ein Parlament ist gekennzeichnet durch Mehrheitsentscheidungen, die dann aber auch durchgesetzt werden müssen. Eine Mehrheit zu erreichen oder einen Kompromiss auszuhandeln, ist leichter in einem kleineren Kreis. Je größer der Kreis, desto unterschiedlicher die Interessen.

Unter diesem Punkt ist auch Hänschs Forderung nach einem Stopp der Ausdehnung der EU verständlich. Die Ukraine und die Türkei, ganz zu schweigen davon, dass keiner dieser Staaten die rechtsstaatlichen Voraussetzungen für eine Aufnahme in die EU haben, würden die EU nur noch größer machen und somit zu einem geopolitischen Spielball der beiden Supermächte USA und Russland.

Der Einschätzung, dass der Austritt von Großbritannien zwar als schwere, aber nicht existenzielle Krise angesehen werden soll, stimme ich nicht vollständig zu. Die zunehmende Europa- und EU-feindliche Stimmung und der Aufschwung der rechten Parteien in fast allen Ländern Europas ist mit äußerster Vorsicht zu beobachten, stellt er doch auch ein Umschwung im Meinungsbild der Bevölkerung dar.

Hänschs Artikel ist meiner Meinung nach einem politisch versierten Menschen durchaus verständlich. Natürlich muss das Hintergrundwissen vorhanden sein. Meiner Meinung nach zieht der Autor einen Bogen von zu verstehenden und nachvollziehbaren Argumenten, Lücken in der Argumentation kann ich nicht finden. Natürlich ist der Aufsatz geprägt von seiner eigenen politischen Ansicht über Europa und Europapolitik, jedoch ist sie auf eine rhetorisch ansprechende Art vorgetragen.

Die EU muss näher an die Menschen, die in ihr leben, herantreten. Denn das einzige, was den Zusammenhalt der EU ernsthaft und irreparabel schädigen kann, ist die Zerstörung von innen heraus.

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