Viktor Orbán: Bist du gegen den Frieden?, FAZ vom 15.07.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/zerfaellt-europa/zerfaellt-europa-12-bist-du-gegen-den-frieden-14338398.html)
AutorInnen: Robert Keintzel, Josefa Ulrich, Felix S. Schöllhorn
Inhalt
Im ersten Abschnitt beginnt Viktor Orbán damit, dass er über einen Besuch bei Helmut Kohl in Oggersheim berichtet und sich mit ihm über Europa unterhält. Er insinuiert auch, dass er öfters mit Herrn Kohl über Europa gesprochen hatte. Der ungarische Ministerpräsident besuchte daneben auch das Haus von Konrad Adenauer. Überleitend fragt er sich, warum die EU in so einen labilen Zustand geraten konnte.
Orbán benutzt den Brexit, indem er an diesem Beispiel zeigt, dass die EU die Unterstützung der Mehrheit der britischen Bürger verloren hat. Nach seiner Ansicht hat damit ein neues Kapitel begonnen, es ist notwendig, Antworten auf dringliche Fragen zu geben. Am Ende des ersten Abschnittes vergleicht der ungarische Ministerpräsident den Lösungswillen der EU mit der der ehemaligen DDR. Hier gibt er ein Argument wieder: „Bist Du gegen den Frieden? “. Nach seiner Meinung ist dieses Argument unzureichend und Lösungen sind notwendig, um den Fortbestand der EU zu gewährleisten.
Im zweiten Abschnitt beschreibt Orbán, wie die Vertiefungs- und Erweiterungsrunden wie die Zähne eines Reißverschlusses ineinandergriffen. Bis zum Jahr 2005. Hier haben die Bürger zweier Gründungsstaaten, Frankreich und Niederlande, den Verfassungsvertrag abgelehnt. Die gute wirtschaftliche Situation konnte die Brüche überstrahlen, bis zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Die Krise von 2008 wuchs zu einer Demokratiekrise und gipfelte 2014 in der Ukraine- und Migrationskrise. Im Jahr 2016 wurde die Desintegration mit dem britischen Referendum unübersehbar.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich anfangs mit dem Vereinigten Königreich. Es hat nach seiner Sicht eine strahlende Zukunft ohne die EU vor sich, auch wenn eine Neugeburt immer mit viel Leid verbunden ist. Man sollte sich eher um die EU Sorgen machen. Die EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten und den 444 Millionen Bürgern hat große Kraft und Potential. Diese Gemeinschaft kann aber nur erfolgreich sein, wenn man jeden Menschen, jede Nation und jeden Mitgliedsstaat mitnimmt. Institutionen müssen helfen und koordinieren, aber nicht die Mitgliedsstaaten in den Hintergrund drängen. Die Schwächung des Nationalstaats und die Idealisierung der EU müssen gestoppt werden. Entscheidungen sollen im Konsens getroffen werden und nicht mehr in Form einer Mehrheit und Minderheit, sonst werden andere Staaten den Briten folgen. Daneben beschreibt Orbán, dass die EU ein weites Herz hat, aber ihre Möglichkeiten endlich sind, daher muss man verantwortungsbewusst haushalten.
Der vierte Abschnitt trägt den Titel: „Wie kann Ordnung geschaffen werden?“. Zu Beginn sagt der ungarische Ministerpräsiden, dass die EU reich aber schwach ist und ein immer größerer Teil der Bürger Zweifel hat. Es gibt unterschiedliche Meinungen in der EU, aber hinter jedem Standpunkt stehen Bürger. Um eine Ordnung in dieser Vielfalt zu erhalten, schlägt er das Prinzip „united in diversity“ vor. Die EU muss selbst gemachte Regeln einhalten, gleiche Maßstäbe an allen Mitgliedsstaaten anwenden und die Rolle der nationalen Parlamente respektieren.
Darauf folgt der Abschnitt: „Ungarn hat seine Schuld zurückgezahlt“. Durch die Missachtung der Regeln wurden die beiden größten Errungenschaften riskiert, meint Orbán. Einmal die gemeinsame Währung und daneben der durch die Außengrenzen geschützte einheitliche Binnenmarkt. Für Orbán ist dies eine Gefährdung der Wirtschafts- und Lebensform. Die EU ist für ihn eine Werte- und Verantwortungsgemeinschaft. Die Verantwortung beginnt aber für ihn nicht in Brüssel, sondern im jeweiligen Mitgliedsstaat. Hilfe von der Gemeinschaft gibt es, wenn ein Mitgliedsstaat ohne eigenes Verschulden in Not geraten ist.
In diesem Sinne legitimiert Ungarn seine Grenzpolitik. Für Orbán ist die Stärkung der europäischen Zusammenarbeit in manchen Bereichen von der guten Vernunft diktiert, so beispielsweise in der Digitalisierung, dem Schutz der Außengrenzen oder der Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Die flexible Integration ist für ihn Realität und er hält es für gefährlich, den geregelten Rahmen zu verlassen. So ist eine obligatorische Verteilung der Flüchtlinge ein Bruch mit den derzeitigen Regelungen. Zuletzt zeigt Orbán auf, dass anfangs Ungarn für seinen Schutz der Außengrenze kritisiert wurde und dies als nicht zu verteidigend eingestuft wurde. Das ungarische und spanische Modell hat aber etwas anderes bewiesen.
Im sechsten Abschnitt macht er deutlich, dass ein Zusammenhalt unter den Mitgliedsstaaten notwendig ist. Durch die zentrale Position Deutschlands bekommt dieses eine immer wichtigere Rolle. Auch macht Orbán deutlich, dass Ungarn seinen Beitrag leistet, indem es den Grenzzaun gebaut hatte. Der Zaun ist für ihn alternativlos.
Der siebte Abschnitt rechtfertigt den Bau des Zauns an der ungarischen Grenze. Ungarn hat nach Orbán den Eisernen Vorhang 1989 durchgeschnitten. Die deutsche Einheit hängt für ihn deshalb eng mit der ungarischen Unabhängigkeit und Freiheit zusammen. Beide können nicht von der Einheit Europas getrennt werden. 2015 sah Ungarn die europäischen Errungenschaften gefährdet, daher beschloss Orbán, die Lebens- und Wirtschaftsform der Europäer zu beschützen. Zusätzlich gibt er die Sicherheit als weiteres Ziel an.
Im nächsten Abschnitt geht er auf Kritik an Ungarn ein. So ist der Schutz der Außengrenzen keine Frage der Ästhetik und kann nicht mit Blumen und Plüschtieren bewerkstelligt werden. Darüber hinaus geht er auf den Vorwurf des Populismus ein. Gemäß Shakespeare sind Populisten, die den Spaten Spaten und die Katze Katze nennen. Die Ungarn nennen die Dinge nur beim Namen. Die Migrationslast gilt es nicht zu verteilen, vielmehr soll diese aufgelöst werden. Um die Migrationskrise zu lösen, muss eine Freiwilligkeit herrschen. Ungarn hat daher ein Referendum durchgeführt.
Darauf folgt der Abschnitt „Keine Garantie für Erfolg“. Hier wird darauf eingegangen, dass jede Form von Verteilung nur eine Einladung ist, solange die Außengrenze nicht sicher ist und die Flüchtlinge sich entscheiden können, wo sie sich niederlassen können. Darüber hinaus ist ein besseres Leben kein Grundrecht und es gibt auch keine konsistente europäische Gesetzesregelung. Europa hätte kein Recht, sich im Bereich der Demographie einzumischen. Das Gesellschaftsbild und das Zukunftsbild der Gesellschaft fällt unter nationale Befugnis.
In dem vorletzten Abschnitt schreibt Orbán, dass das Sicherheitsgefühl der Bürger wiederhegestellt werden muss. Es muss eine gemeinsame europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie Entwicklungspolitik geben. Die Länder des Westbalkans, die von der EU umschlossen sind, sollen eine neue Perspektive erhalten. Das größte Problem der EU ist die Demographie. Einer schrumpfenden Bevölkerung und Wirtschaftsleistung stehen hohe Sozialausgaben gegenüber. Die Migrationskrise hat den Fokus von wichtigen Herausforderungen abgelenkt.
Im letzten Abschnitt betont Orbán die Möglichkeiten der EU. Die EU braucht eine positive Agenda sowie Sicherheit und Wachstum. Neue Methoden in der Wirtschaft müssen etabliert werden. Deutschland ist ein Beispiel für Erfolg. Der Kern ist Haushaltsdisziplin, Wettbewerbsfähigkeit und Strukturreformen. Eine Renaissance des europäischen Gedankens ist möglich.
Kommentar
FINANZKRISE
Orbán meint, die Wirtschafts- und Finanzkrise und somit die Krise der Elite in mehreren Mitgliedsstaaten der EU führe zu einer Demokratiekrise. Allerdings muss man sich hier fragen, inwieweit Orbán über eine sogenannte Demokratiekrise urteilen kann, während er selbst langsam die Rechtsstaatlichkeit Ungarns abbaut und das Land zu einer illiberalen Demokratie oder sogar einer Autokratie formt, in der Meinungsvielfalt wenig erwünscht ist. Langsam wird die zu einer Demokratie gehörige Unabhängigkeit der Justiz durch die Besetzung der Ämter mit Mitgliedern seiner Partei abgebaut. Doch sind nicht gerade diese Werte für die Europäische Union entscheidend? Hat sein Land beim Beitritt zur EU nicht gerade Werten wie Demokratie oder der Wahrung der Menschenrechte und der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, zugestimmt?
FLÜCHTLINGSPOLITIK
Ungarn hat durch den Beitritt zur EU das europäische Wertesystem und die EU-Verträge anerkannt und vielen Ungarn sind europäische Werte wichtig. Durch den Beitritt wurde Souveränität an die EU übertragen, das heißt aber auch Souveränitätsverlust, dies gilt für alle Mitglieder. Im Abschnitt „Wie kann Ordnung geschaffen werden?“ meint Orbán, dass unproduktive ideologische Diskussionen über die Frage nach mehr oder weniger Europa vermieden werden sollen. Er äußert: „ [...] wo mehr benötigt wird, brauchen wir mehr, dort wo weniger nötig ist, brauchen wir weniger.“
Allerdings stellt sich hier die Frage, wer entscheidet, wo mehr und wo weniger Europa gebraucht wird, wenn es keine „ideologischen Diskussionen“ darüber geben soll. Hier kommt eine gewisse Widersprüchlichkeit zum Ausdruck. Auf der einen Seite will er mehr Souveränität und Mitspracherecht, auf der anderen jedoch soll es keine Diskussionen darüber geben. Im selben Abschnitt befasst sich Orbán mit der Frage, wie in dem Durcheinander der EU Ordnung geschaffen werden kann. Als Durcheinander bezeichnet er Pluralität und Meinungsvielfalt. Diese Werte, die Grundwerte der Union sind, machen Orbán zu schaffen. In Ungarn sind für ihn Pluralität und Meinungsvielfalt genauso ein Problem wie in der Union, worauf ich später noch einmal zurückkommen werde.
Allerdings wird nun zuvor noch auf die Aussage, dass die „von uns selbst gemachten Regeln“ eingehalten werden müssen und es zu einer konsequenten Anwendung des europäischen Rechts kommen muss, eingegangen. Mit dieser Aussage schießt Orbán sich tatsächlich selbst ins Bein, da sich in seinem Handeln wenig Euphorie für europäische Regeln zeigt, im Gegenteil, diese werden missachtet. Auch die konsequente Anwendung des europäischen Rechts umgeht er selbst, indem er sich dem Beschluss des Europäischen Gerichtshofes in Bezug auf die Verteilung von Flüchtlingen widersetzt. Eine solche Provokation gegen den EuGH gab es zuvor noch nicht. Durch die Widersetzung werden Grundwerte der Union wie Rechtsstaatlichkeit tiefgreifend verletzt.
Wird durch die Nicht-Einhaltung des Urteils des Gerichtshofs die EU gespalten? Wird die EU geschwächt und gibt es Nachzügler, die sich ebenfalls nicht mehr an das EU-Recht halten wollen, wenn diese nicht eingreift? Inwiefern kann die EU gegen die eigenen Reihen vorgehen und wird die Solidarität dadurch verletzt? All dies sind Fragen, die die Problematik aufwirft. Ungarn will die Union nicht verlassen, sich jedoch nicht an internationales Recht halten, während Orbán mit einer kaum zu ertragenden Selbstverständlichkeit für diese Einhaltung des Rechts plädiert? Wenn jedes nationale Parlament macht, was es will, und Entscheidungen der Union missachtet, ist das Gerüst der Union dann noch tragfähig? Macht diese Gemeinschaft dann überhaupt noch Sinn?
Er nennt die ständige und systematische Verletzung der Regeln von Schengen und Dublin als Grund für die Instabilität der EU. Allerdings begibt sich diese Aussage vage auf die Ebene der Komik, da Ungarn unter anderem ein Land ist, welches die Regeln von Dublin missachtet und eingereiste Flüchtlinge möglichst schnell in andere Länder weiter befördern will. Orbán predigt Dinge, die er selbst nicht einhält.
Der Rat beschließt 2015, dass Ungarn neben Deutschland und der Slovakei rund 1200 anerkannte Flüchtlinge aufnehmen soll. Allerdings weigert sich dieses vehement gegen das Urteil des EuGH. Im Text äußert sich Orbán negativ gegenüber der obligatorischen Verteilung von Flüchtlingen. Als „Zusammenhalten der EU-Staaten“, wie er es predigt, kann dies jedoch nicht eingestuft werden. Allerdings hat Ungarn sich mit dem Beitritt zur Europäischen Union auch zur Einhaltung der Kriterien der europäischen Asyl- und Einwanderungspolitik verpflichtet. Sich diesen gezielt zu widersetzen, rechtfertigt Orbán mit der Aufgabe der Wiederherstellung des Sicherheitsgefühls der Bürger. Daraus geht klar hervor, dass er die Bürger seines Landes und auch die EU durch die Zuwanderung von Flüchtlingen gefährdet sieht. Allerdings plädiert die EU für Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Er legitimiert mit dem Begriff des Sicherheitsgefühls der Bürger den Bau des Grenzzauns zum Schutz der Außengrenzen und der Europäischen Union. Wie er verkündet, habe er durch den Zaun das Lebens- und Wirtschaftsmodell der Europäer beschützt. Die in den EU-Verträgen geschützte „nationale Identität“ meint jedoch keineswegs eine ethnische Homogenität der Länder. Auch gilt es weiter zu betonen, dass Werte, auf die sich die EU gründet, Achtung der Menschenwürde, Freiheit und Demokratie sind.
POPULISMUS
Dem Vorwurf des Populismus, den Orbán im Folgenden abstreitet, ist zu entgegnen, dass dieser mit einem für Populisten sehr typischen rhetorischen Mittel agiert. Er spricht ständig von einem „wir“. Es ist fraglich, welche Eigenschaften auf die Menschen, die er mit diesem „wir“ meint, zutreffen. Vermutlich meint Orbán das vermeintlich homogene Volk, für welches er einsteht. Allerdings gibt es zahlreiche Gegner seiner Grenzpolitik und des Baus des Zauns, was sich in Demonstrationen zeigt. So viel zu seiner Pluralismus-Vorstellung im eigenen Land, die bereits erwähnt wurde. Orbán behauptet, er spreche aus, was sich sonst niemand zu sagen traue.
Er sagt: „Wir möchten unser Gesellschaftsbild, wie und mit wem wir zusammenleben, selbst als nationale Befugnis entscheiden.“ Laut Orbán gilt es, die Migrationslast nicht zu verteilen, vielmehr soll diese aufgelöst werden. Da stellt sich die Frage, wohin die Flüchtlinge, die vor dem Zaun stehen, gehen sollen. Muss dieses Verfahren nicht eher bürokratisch oder präventiv gelöst werden, anstatt mit einem Zaun? Ist damit nicht gewissermaßen ein verantwortungsloser Rückschritt in Zeiten des Eisernen Vorhangs zu konstatieren? Eine seiner Aussagen ist: „Die Länder des Westbalkans [Serbien,Mazedonien,...] [...] müssen eine neue Perspektive erhalten.“ Durch den Grenzzaun Ungarns wird allerdings die Situation auf serbischer Seite problematisch und von neuen Perspektiven ist nichts zu spüren.
Alles in allem kann man sagen, dass Orbán viele Dinge auf einer ganz anderen Wellenlänge sieht als die EU und vielleicht sogar maßgeblich zur Spaltung dieser beiträgt. Er zeigt in seiner Flüchtlingspolitik keine Solidarität und ist primär auf wirtschaftlichen Fortschritt und Wohlstand ausgerichtet. Doch auch Modernisierungsprozesse wie Globalisierung und Digitalisierung stuft er als riskant ein. Letztendlich sieht Orbán sich als Retter, dem die EU danken sollte, da er den Grenzzaun baut, die EU erwartet hingegen eine ganz andere Herangehensweise, kann jedoch nicht viel tun. In seinem Artikel wird deutlich, dass Orbán eine vollkommen andere Wahrnehmung als andere EU-Mitgliedsstaaten hat. Er trifft sehr viele widersprüchliche Aussagen. Er kritisiert viel, jedoch werden keine konkreten Lösungsvorschläge für Probleme genannt.
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