Mittwoch, 11. Juli 2018

Essay zum FAZ-Gastbeitrag "Ein Kontinent der Wahrhaftigkeit" von Papandreou/Droutsas

Giorgios A. Papandreou und Dimitris P. Droutsas: Ein Kontinent der Wahrhaftigkeit, FAZ vom 23.02.2017 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/europa-kann-gerechtigkeit-und-wohlstand-schaffen-14885837.html)

Autorin: Lena Lehmeier

Giorgios A. Papandreou war von 2009 bis 2011 Premierminister Griechenlands und damit in einer sehr dunklen Stunde Griechenlands verantwortlich für die Nation. Papandreou stand in der Pflicht, das Gemeinwohl zu erhalten und Griechenland aus der Schuldenkrise zu leiten, dafür hält er sich an den aus der griechischen Antike stammenden Begriff der „Parrhesia“ und deckt 2010 die Wahrheit über das Haushaltsdefizit auf, das 15,7% statt den angenommenen 5,6% betrug.

Auf diesen Schritt hat Europa seiner Ansicht nach damals vollkommen falsch reagiert. Der EZB-Chef Jean-Claude Trichet verlangte, die Staatsausgaben umgehend zu senken, indem die Löhne, Gehälter und Pensionen gekürzt werden. Papandreou wirft der EZB vor, dass durch diesen Beschluss die Last lediglich auf die Bürger umverteilt wurde, obwohl diese keinerlei Verantwortung für den finanziellen Zustand Griechenlands tragen. Er sieht in der Verpflichtung zur Sparpolitik den Grund für den Zerfall Griechenlands, dessen Konsequenzen sich auf die gesamte Europäische Union ausgewirkt haben. Für Papandreou wäre die Umsetzung radikaler Reformen in Form von Schaffung einer transparenten Politik, Bekämpfung der Korruption und der Herstellung einer Meritokratie viel wichtiger gewesen und hätten seiner Meinung nach zu einer Verbesserung der Lage beigetragen.

Das Haushaltsdefizit war für Papandreou lediglich ein Symptom eines viel größeren Problems, das nicht allein durch die Senkung des Defizits gelöst werden kann. Dies war jedoch das oberste Ziel Europas, um das Gleichgewicht auf den Märkten wiederherzustellen. Diese Fehlannahme sieht Papandreou als eines der zwei größten Probleme im Umgang mit Griechenlands Schuldenproblem. Das zweite Problem sieht er in der Fixierung des Blickes auf Griechenland als einziges sorgenbereitendes Land in der Europäischen Union.


Papandreou stellt die These auf, dass gewisse Narrative großen Einfluss auf die europäische Politik und deren Umsetzung haben. So auch während der Finanzkrise. Durch Klischeedenken und Vorurteilen gegenüber den Griechen spitzte sich die Einstellung Europas gegenüber Griechenland zu und Griechenland trug alleine die Verantwortung für den Umbau des Steuersystems. Papandreou empfindet dies als eine „bequeme Wahrheit“, welche den anderen EU-Länder erlaubte, sich vollkommen aus der Verantwortung zu ziehen und somit keinen Einfluss auf die Umsetzung der Reformen nehmen zu können. Diese Handhabung der anderen EU-Länder führte nach Papandreous Ansicht zu einer Haltung, bei der sämtliche Probleme, die auf europäischer Ebene zu regeln sind, völlig ignoriert werden.

Durch die Schuldzuweisung an Griechenland und die Fokussierung auf die Umsetzung der Reformen und der Sparpolitik in diesem Land wurden alle anderen Probleme in ihrer Wichtigkeit stark abgeschwächt und gerieten in den Hintergrund. Papandreou zählt die Probleme auf, welcher seiner Ansicht nach mit genauso starkem Ehrgeiz bekämpft hätten werden müssen wie das Haushaltsdefizit Griechenlands: Zum einen die unterschiedlichen Zinssätze für Staatsanleihen innerhalb einer gemeinsamen Währung, zum anderen die Ungleichheit zwischen Überschuss- und Defizitländern, die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit, das zersplitterte Bankensystem sowie die deflationären Tendenzen aufgrund der Sparpolitik, die eine Verbesserung der finanziellen Lage Griechenlands fast unmöglich machten.

Ein weiteres politisches Druckmittel, das nach Papandreous Ansicht die Lage in Griechenland noch weiter verschlechterte, waren die Aufrufe zum Grexit. Durch diese Diskussion wurden die Bürger verängstigt und eine noch größere Unsicherheit in der Bevölkerung machte sich breit. Als Folge davon wurde der Konsum auf ein Minimum reduziert und die Rezession verschlimmerte sich. So schwappte die Krise auf Italien und Spanien über.

Papandreou sieht den Schritt Mario Draghis, der 2012 sagte, dass die EZB „alles tun wird, um den Euro zu erhalten“, als ein wichtiges Symbol für den Zusammenhalt der Europäischen Union an. Obwohl diese Reaktion für die peripheren Länder viel zu spät kam, zeigt diese Aussage, „dass eine gemeinsame, integrierte, konzentrierte Reaktion Europas Wirkung zeigen kann“.

Daraus stellt Papandreou die These auf, dass Europa als Gemeinschaft ungenutzte Potenziale hat, durch die sich die EU in ihren Möglichkeiten stark einschränkt. Doch es bleibt nach Papandreous Ansicht nicht nur bei einer Einschränkung der Möglichkeiten, sondern verstärkt darüber hinaus die Glaubwürdigkeit all derer, die antieuropäische Gedanken und Meinungen propagieren.

Den Grund hierfür sieht Papandreou zum einen in der Reaktion auf die Finanzkrise, aus der heraus das Narrativ entstand, dass jedes Land für sich selbst einen Weg aus der Krise finden muss, zum anderen hat sich genau diese Haltung auf andere Bereiche der europäischen Politik ausgebreitet, sodass innerhalb Europas eine Haltung entstanden ist, die gegenteilig zu der ist, die Papandreou sich vorstellt, um die Probleme Europas lösen zu können. Statt die gesamten Kräfte und Fähigkeiten der einzelnen Mitgliedsstaaten zu bündeln und die gesamten Risiken zusammenzulegen, um Europa und vor allem Griechenland zu retten, weisen sich die Nationen untereinander die Schuld zu und stehen in der stetigen Angst, dass sie durch eine Zusammenarbeit selbst in Schwierigkeiten kommen.

Diese Einschränkung in ihren Möglichkeiten verschärft sich nach Papandreous Ansicht. Das Hauptproblem Europas beschreibt er mit folgender Formulierung:
„In einer Zeit, in der unsere Union eigentlich einer tieferen Integration bedürfte, haben wir eine öffentliche Meinung geschaffen, die auf Distanz zu solch einer Vision geht. Diese Rhetorik unterminiert die eigentlich notwendige Zusammenarbeit.“
Papandreou sieht einen Widerspruch zwischen dem, was die Politik sich als Ziel setzten sollte, und dem, was durch die Medien propagiert wird. Durch die Herstellung einer öffentlichen Meinung, die die Distanz zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten immer weiter vergrößert und teilweise sogar Feindseligkeiten fördert, gerät eine Zusammenarbeit und ein europäischer Zusammenhalt außer Reichweite. Die Probleme sind mittlerweile jedoch so groß, dass eine Zusammenarbeit unerlässlich ist, um Lösungen zu finden.

Papandreou beschreibt drei Faktoren, um den Erfolg der Reformen in Griechenland zu sichern und damit einen ersten Schritt zur Verbesserung der europäischen Probleme zu leisten. An erster Stelle stehen die Bürger. Diese müssen erneut Vertrauen gegenüber dem Staat und im besten Fall auch gegenüber dem Zusammenhalt Europas aufbauen, sodass die Mitarbeit an den Reformen gesichert ist und eine langfristige Stabilität erreicht werden kann, auf deren Grundalge die Bürger wieder beginnen, in die Wirtschaft zu investieren.

Die zwei anderen Faktoren betreffen Europa. Er verlangt zum einen, dass die Schuldenlast verringert werden muss, und begründet dies mit der Anschuldigung, dass die EU den Staatshaushalt Griechenlands zunächst zu wenig überwacht hat. Zum anderen soll Europa die Verantwortung für Probleme innerhalb der europäischen Länder teilen und nicht auf das betroffene Land allein abwälzen.

In diesem Zusammenhang nennt Papandreou die Vollendung der Bankenunion sowie die Einführung von Eurobonds. Diese Maßnahmen spiegeln die Vision eines europäischen Zusammenhalts wider. Papandreous geht davon aus, dass die Bündelung der Kräfte billiger und auch effizienter für die globalen Märkte ist, als die Einhaltung der geographischen Grenzen auf die wirtschaftlichen Grenzen zu übertragen. Durch eine wechselseitig intakte Beziehung zwischen den einzelnen Ländern und Europa als übergreifende Macht können Reformen durchgesetzt und realisiert werden. Das heißt, wenn Griechenland alles in seiner Möglichkeit stehende tut, um die Reformen durchzusetzen, soll, muss Europa das Land finanziell unterstützen.

Für Papandreou steht fest, dass der falsche Umgang mit der Wirtschaftskrise ein entscheidendes Problem für den Zerfall Europas darstellt. Die Uneinigkeit und Planlosigkeit führen zu Zweifel an der Führungskraft Europas, die eigentlich als eine positive, stabile und vorantreibende Kraft genutzt werden könnte. Die nationalen Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten sollen geographisch zwar erhalten werden, jedoch in allen anderen Bereichen nahezu verschwinden. Papandreou formuliert seine Vorstellung folgendermaßen:
„Wir sind zu einer hochgradig interdependenten globalen Gesellschaft geworden. Auf nationaler Ebene werden die Länder am stabilsten sein, die über starke demokratische Institutionen und eine Kultur der Teilhabe verfügen, die ihre Bürger durch Bildung stärken und ihnen einen starken Sozialvertrag, Solidarität und ein Sicherheitsnetz bieten.“
Papandreou will, dass globale Probleme auf globaler Ebene gelöst werden, die Verantwortung auf alle gleichermaßen verteilt wird und diese auch in kritischen Situationen von allen Ländern gleichermaßen getragen wird. Hierfür fehlen laut Papandreou jedoch die globalen Strukturen und Normen, sodass jedes Land eine Schutzhaltung einnimmt, auf die nationalen Strukturen des Landes zurückgreift und sich innerhalb der eigenen Identität absichert. Genau das stellt das Hauptproblem der Globalisierung dar: Die Unsicherheit über die politische Führung auf globaler Ebene führt zur Untergrabung demokratischer Institutionen durch die gewaltige Kraft von Minderheiten, die auf jeglichen globalen Ebenen die Angst und Unsicherheit der Bevölkerung nutzen.

Dadurch haben alle Gruppierungen, die antieuropäische Strömungen verbreiten, eine viel größere Angriffsfläche, um diese Ansichten zu verbreiten und glaubwürdig zu verkaufen. Ein Paradebeispiel hierfür ist der Aufstieg der AfD in Deutschland. Ängste der Bevölkerung werden geschürt, um sich Macht zu sichern und die Werte Europas immer weiter zu unterdrücken. Papandreou sieht für dieses Problem nur eine Lösung: Eine höhere Bürgerbeteiligung. Dadurch wird eine Sicherung des Allgemeinwohls erreicht, welches die Bürger Europas als ihr Eigen ansehen können, für das man sich einsetzen kann, um eine Verbesserung zu erreichen. So kann die Macht der Lobbys, sozialen Medien und politischer Institutionen eingedämmt und der ursprünglich antike Gedanke der Demokratie wieder durchgesetzt werden.

Die beschriebenen Probleme entstehen nach Papandreous Ansicht aus dem Druck der Globalisierung, der durch unzureichende Handlungen der Politik immens hoch geworden ist. Diesem Druck kann man nur standhalten, wenn globale Strukturen und Normen festgelegt werden, die nationalen Grenzen verlassen werden, um supranationale Politik zu betreiben. Durch die aktuellen politischen Geschehnisse wird der Bevölkerung jedoch genau das Gegenteil vorgelebt. Papandreou nennt hier Beispiele wie den arabischen Frühling oder den Klimawandel.

So ist es nicht verwunderlich, wenn die antieuropäischen, rechtsradikalen Strömungen von der Bevölkerung angenommen werden, denn es herrscht ein allgemeines Gefühl der Unsicherheit und Angst, das die europäische Demokratie noch stärker ins Wanken bringt. Es werden Schuldige gesucht, statt sich als europäische Nation zu vereinen und so gegen die Machtkonzentration zu kämpfen. Europa hat die Möglichkeit, die Globalisierung zu humanisieren, indem über die Grenzen hinweg zusammengearbeitet wird und die Probleme als europäischen Probleme angesehen und auch in diesem Sinne gelöst werden. Papandreou fordert von Europa:
„Es muss dafür sorgen, dass eine globalisierte Welt eine Welt der Chancen, der Gleichheit, der Nachhaltigkeit, des Wohlstands, des Schutzes der Menschenrechte, der Vielfalt und der Rechtsstaatlichkeit sein kann - statt einer Welt der Angst vor Ungleichheit, Armut und Konflikten.“
Um diese Forderungen umzusetzen, erklärt Papandreou praktische Maßnahmen für die größten europäischen Probleme. Zum einen müssen Regeln für das Finanzsystem aufgestellt werden, die den Bürgern ein Gefühl der Gerechtigkeit und Gleichheit geben. Zum anderen sollen klare Ziele zur Bekämpfung der Steuerparadiese und des Klimawandels formuliert werden. Außerdem müssen Gelder investiert werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und dadurch das Wachstum zu fördern, sodass auch die Gesamtentwicklung vorangetrieben wird. Auch in der Flüchtlingskrise muss die Verantwortung gerecht auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden.

Papandreou plädiert für die Einführung einer europäischen Staatsbürgerschaft, sodass eine europäische Identität entsteht, die eine feste Grundlage für Europa darstellen soll. Die europäischen Werte sollen dadurch ausgedrückt und in die Praxis getragen werden. Jeder Bürger soll über die gleichen Rechte und Pflichten verfügen. Europa wird dadurch nicht mehr von einer kleinen Elite geführt, sondern von den Bürgern selbst. Der Zusammenhalt soll gestärkt werden, sodass gemeinsam gegen die Probleme gekämpft werden kann. Jedes Land soll gleichermaßen in die Verantwortung genommen werden, dies wird nur gelingen, wenn man sich als zusammenarbeitende Einheit sieht. Dafür müssen die Bürger stärker in die Politik einbezogen werden, und nicht nur ihr Land, sondern auch Europa als Teil der eigenen Identität anerkennen.

In der Konsequenz werden dadurch akute Probleme wie Fremdenfeindlichkeit, autoritäre Herrschaft und soziale Ungleichheit bearbeitet und effektiv nach Lösungen gesucht. So zumindest die Vorstellung Papandreous. Ob diese Vorstellung in der Realität tatsächlich umsetzbar ist, ist fraglich. Papandreou versucht mittels seiner Argumentationsweise, die Probleme Griechenlands zu reduzieren und die Verantwortung auf ganz Europa zu übertragen.

Der Ansatz Papandreous, eine europäische Identität zu schaffen, klingt sinnvoll und würde die Bearbeitung einiger Probleme sicherlich erleichtern. Hier ist die Flüchtlingskrise ein gutes Beispiel. Wäre jedes Land bereit, gleich viele Ressourcen zu investieren, wären die Probleme um einiges geringer. In der Praxis wird das Gefühl einer europäischen Identität jedoch nicht ohne weiteres verbreitet werden können. Die Identifikation mit dem eigenen Land entsteht meist durch einen familiären Hintergrund, der bereits tiefe Wurzeln geschlagen hat. Um dies auch bei der Identifikation mit Europa zu erreichen, ist von Seiten der Politik ein hoher Aufwand nötig, der sich über mehrere Jahre erstecken muss, um tatsächlich eine europäische Identität herzustellen. Die Humanisierung der Globalisierung als Antrieb für dieses Ziel zu sehen, ist grundsätzlich ein sehr guter Gedanke. Dieser bedarf jedoch weiterer Überlegungen, um in der Praxis damit tatsächlich eine Veränderung zu schaffen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen