Samstag, 7. Juli 2018

Essay zum FAZ-Gastbeitrag „Viele Wege führen nach Rom“ von Werner Abelshauser

Werner Abelshauser: Viele Wege führen nach Rom, FAZ vom 20.03.2017 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-24-viele-wege-fuehren-nach-rom-14921424.html) 

Autor: Magnus Wiedemann

Die Europäische Union, eines der komplexesten politischen Systeme der Menschheitsgeschichte, ist ein Symbol der Hoffnung auf Zusammenarbeit für die Einen, ein zum Scheitern verurteiltes, undurchführbares System für die Anderen. Noch ist die EU jung und aufgrund ihrer Neuartigkeit kann niemand sagen, wohin uns die EU führen wird, wohin die EU selbst sich entwickeln wird, ob die EU bestehen bleiben wird oder ob sie untergehen wird. Doch eben weil dies noch in den Sternen steht, gilt es, sich auf den Moment zu konzentrieren.

Seit Gründung der EU hat sie eine Wandlung durchgemacht, ein stetiger Wandel zwischen politischen Entscheidungen, die mal in eine supranationale, mal in eine intergouvernementale Richtung tendierten, und auch heute sind sich die Mitgliedstaaten noch nicht einig, ob die EU nur eine Basis für Frieden und wirtschaftliche Zusammenarbeit sein soll, oder ob sie doch die Funktionen der einzelnen Nationalstaaten früher oder später ablösen soll.

Selbst was die wirtschaftliche Richtung angeht, lässt die Frage der Funktion der EU viel Spielraum offen. Was aber wohl jeder einzelne Mitgliedstaat durchaus erreichen will, ist ein wirtschaftlicher Vorteil für sich. Deshalb versucht man schon seit Jahrzehnten die eine Antwort auf die wirtschaftliche Integration der EU zu finden. Am 20.03.2017 veröffentlichte der Wirtschaftshistoriker Professor Dr. Werner Abelshauser zu diesem komplexen Thema einen Artikel in der FAZ, in dem er die großen Fragen der wirtschaftlichen europäischen Integration aufgreift und kommentiert.


Zu Beginn seines Artikels verweist Abelshauser auf die Feststellung, dass Leidensdruck oftmals zu schneller Integration bzw. Zusammenarbeit führt. Am Beispiel des Goldstandards und der Börsenkrise 1929 wird diese Feststellung ersichtlich, denn obwohl alle Beteiligten am Goldstandard von diesem überzeugt waren und ihn für unabdingbar hielten, brauchte es nur einen kleinen Anstoß, nämlich den Austritt Großbritanniens, um einen nach dem anderen folgen zu lassen, bis schließlich 30 weitere Mitglieder austraten. Zwar heißt das nicht, dass man sich auf Krisen und Leidensdruck verlassen soll, jedoch ist schon in vielen Bereichen ein gewisser Leidensdruck vorhanden, weshalb Abelshauser darauf verweist, sich auf den Umgang mit einer Krise vorzubereiten, um schließlich zur europäischen Integration zu finden.

Schon seit 1997 ist eine verstärkte Zusammenarbeit in der EU durch den Vertrag von Amsterdam vorgesehen, wenngleich sie bisher nicht wahrgenommen wurde. Aufgrund der immensen Unterschiedlichkeit der verschiedenen Mitgliedstaaten konstruierten Wolfang Schäuble und Karl Lamers die Idee des „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ oder auch „Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“. Das Konzept sah vor, dass man eine unterschiedliche Beteiligung der Mitgliedstaaten erlaubte. Man konnte sich mehr oder weniger integrieren, so wollte man auch politisch und wirtschaftlich weniger stabilen Staaten die Möglichkeit und den Anreiz geben, sich zu integrieren. Allerdings konnte dieses Konzept nicht aufgehen, da in fast allen Mitgliedstaaten der Nationalismus immer mehr Früchte trug, hervorgerufen durch Angst vor zunehmender Migration, und somit eine europäische Integration undemokratisch gewesen wäre.

Weiterhin zeigt Abelshauser auf, dass dieses Konzept auch aus wirtschaftlicher Sicht wenig Aussicht auf Erfolg hatte. Die große Problematik bestand darin, dass zwar die „Stärke“ der Integration selbst bestimmt werden konnte, es allerdings nicht zur Debatte stand, „wo rein“ man sich integrierte. Anders ausgedrückt: Es wurde ein eindeutiger wirtschaftlicher Kurs für die EU bestimmt, in dem man selbst bestimmen konnte wie sehr man sich integrieren möchte. Doch die Mitgliedstaaten unterscheiden sich nicht nur anhand von Zahlen in ihrer Wirtschaft. Vielmehr haben die verschiedenen Mitgliedstaaten teilweise völlig andere Auffassungen von Wirtschaftspolitik und wie sie betrieben werden soll. Deshalb schlägt Abelshauser eine Alternative vor, die allen Mitgliedstaaten entgegenkommen soll:
„Eine alternative Strategie für Europa verlangt daher nach einer Wirtschaftspolitik, die in der Lage ist, unterschiedliche Entwicklungspfade nicht einzuebnen, sondern klug zu vernetzen, um so eine Einheit in Vielfalt zu gestalten.“
Mit diesem Konzept hebelt Abelshauser gleich mehrere Probleme aus, die das „Europa der zwei Geschwindigkeiten“-Modell hatte. Zum einen muss kein Staat seine Konzeption von Wirtschaft aufgeben, um eine gemeinsame EU-Wirtschaftspolitik anzunehmen (in der zwar der Grad der Integration selbst bestimmt werden kann, jedoch nicht das Konzept, in das man sich integriert), zum anderen verschwindet damit auch komplett die Angst der Mitgliedstaaten, eigene Souveränität zu Gunsten der EU aufzugeben. Gerade dies ist eines der größten Hindernisse im Prozess, eine Identifikation als EU zu schaffen und sich mehr von Nationalstaaten loszulösen. So verwundert es auch nicht, dass in Sachen Außenpolitik eine europäische Vergemeinschaftung weder vorstellbar noch wünschenswert ist, so Abelshauser.

Und genau diese Aussage trifft wohl den Kern des bisherigen Scheiterns der europäischen Integration: Ein System, das die Vorstellung hat, eine Einheit zu bilden, das aus Leuten besteht, die keine Einheit wollen, oder besser gesagt nur in solchen Themen eine Einheit zu haben, in denen es ihnen als einzelner Nationalstaat nützt. Natürlich klingt das einfacher als es letztendlich ist, die Vorstellung „Wir setzen uns alle an einen Tisch und sind nun die größte Weltmacht“ kann allein schon deshalb nicht so einfach funktionieren, weil die Anzahl der Mitglieder proportional zu der Komplexität steht. Je mehr Mitglieder vorhanden sind, desto mehr Interessen müssen vermittelt werden, je mehr Interessen vorhanden sind, desto komplizierter wird es, einen Kompromiss zu finden.

Genau deshalb ist es aber wichtig, sich darauf zu konzentrieren, wo man eine Einheit bilden kann, und genau da kommt wieder die wirtschaftliche Pluralität ins Spiel. Abelshauser hat hierzu folgende Idee:
„[…] sollte sich die Außenwirkung der Europäischen Union darauf beschränken, ein konzertiertes Vorgehen von Mitgliedstaaten gleicher Wirtschaftskultur auf dem Weltmarkt möglich zu machen und ihnen gleichzeitig die Freiheit zu lassen, ihre Interessen im Rahmen der global governance auf eigene Rechnung (und Gefahr) zu vertreten.“
Auch wenn dieses Konzept erst einmal ziemlich paradox wirken mag, Integration durch Pluralität zu schaffen, zeigt uns die Geschichte doch deutlich, dass man eher bereit ist, sich in Gemeinschaften zu integrieren, wenn man dabei seine eigenen Vorstellungen und Werte nicht aufgeben muss, sondern diese beibehalten kann. Durch diese Konzeption gäbe es also durchaus ein gemeinsames Auftreten von Mitgliedstaaten ähnlicher Wirtschaftskulturen, dennoch muss niemand fürchten, von anderen mit in den Ruin getrieben zu werden, denn das Risiko bleibt beim einzelnen Akteur.

Gleichzeitig gäbe es auch kein Konkurrenzdenken mehr in der Form, dass jeder eine Führungsposition in der EU anstrebt. Frankreich will diese Position wahrnehmen, da sie weltpolitisch einen hohen diplomatischen Status haben, Deutschland ist wirtschaftlich sehr dominant. Wenngleich es eine Führungsposition nicht anstrebt, wird doch deutlich, dass je nachdem, auf was man sich beruft, die Argumente für viele verschiedene Staaten sprechen würden, wer die Führungsposition der EU einnimmt. Wenn es nun aber keine eindeutige Richtung gibt, in die die EU sich bewegt, und sie stattdessen mehrere Richtungen erlaubt, ist auch dieses Problem aus der Welt.

Abelshauser führt weiterhin vier wirtschaftliche Kulturkreise an, die den Auftritt der europäischen Wirtschaft in der Weltwirtschaft bestimmen: Die angelsächsische Wirtschaftskultur, die ihr Vertrauen in die unsichtbare Hand des Marktes legt; die Wirtschaftskultur des europäischen Kerngebiets, vom französischen Spitzenmanager und Autor Michel Albert „capitalisme rhénan (rheinischer Kapitalismus)“ genannt, die in gewisser Weise im Gegensatz zur angelsächsischen Wirtschaftskultur steht; die südeuropäische Wirtschaftskultur, die durch eine distanzierte Haltung wirtschaftlicher Akteure zum Staat definiert ist; die vierte Wirtschaftskultur ist noch nicht klar definiert. Sie wird vor allem Staaten zugeschrieben, die derzeit in einer Orientierungsphase sind, weil sie z.B. unter langer Herrschaft anderer nicht die Möglichkeit hatten, eine eigene Kultur herauszubilden.

Zur Wirtschaftskultur Europas lässt sich vor allem auch die Meinung von John Stuart Mill herausheben, der meinte, dass Europa gerade von der Pluralität seiner Entwicklungspfade profitiert, sowie Douglass C. North, der die Gründe für Wachstum und Wohlstand Europas in dem Fehlen eines europäischen Einheitsstaates sieht. Insgesamt stellt man schnell fest, dass es eine durchaus oft und argumentativ stark vertretene Meinung ist, dass der Wohlstand in Europa im Gegensatz zum Rest der Welt vor allem aus dem Wettbewerb der Wirtschaftskulturen resultiert.

Der 1992 unterzeichnete Vertrag von Maastricht verhalf schließlich zu grundlegenden Kriterien, die eine Währungsunion braucht, ohne die Wirtschaftskulturen der Mitgliedstaaten anzugreifen, und so blieb ihnen nur noch die Aufgabe, diese wenigen Kriterien gesetzlich zu verankern bzw. einzuhalten. Dass sich dies aufgrund der Bankenkrise 2010 für viele Mitgliedstaaten als doch nicht akzeptabel erwies, konnte man nicht vorhersehen, doch auch hier muss man sich wieder mit der Frage auseinandersetzen, ob eine einheitliche Herangehensweise oder eventuell doch eher differenzierte Wirtschafts- und Finanzpolitik schließlich zur Krisenbewältigung führen werden.

Und auch das Scheitern des Euro birgt nicht die Gefahr für die europäische Integration, die viele darin sehen. Der Unternehmer Anton Börner drückte sich dazu mit den Worten „Wir können auch ohne den Euro leben“ aus. Ein möglichst umfassendes europäisches Währungssystem, das feste Wechselkurse gewährleistet, würde durchaus genügen.

Zuletzt muss man sich jedoch fragen, ob dieses Konzept der Pluralität überhaupt durchsetzbar ist. Hierbei appelliert Abelshauser an die Mitgliedstaaten. Sie sind es, die die Verantwortung für die Entwicklung dieser komplexen Wirtschaftsstrategien übernehmen müssen, denn der Brüsseler EU-Apparat wäre damit definitiv überfordert.

Unabhängig davon, ob man alternative Strategien parat hat, sie erst ausarbeiten müsste, oder auch sich überhaupt nicht damit beschäftigt, kann man heute davon ausgehen, dass der Plan, Europa in mehreren Geschwindigkeiten zu integrieren, gescheitert ist. Wenn aber die Vereinheitlichung sich als Fehlschlag erweist, bleibt nicht viel Spielraum für Alternativen. Jedem ist bewusst, dass die EU vor allem wirtschaftlich im Euroraum unabdingbar ist. Das heißt aber auch, dass man neue Konzepte ausprobieren muss, wenn alte gescheitert sind. Und aus diesem Grund wäre es nun an der Zeit für die Mitgliedstaaten, Verantwortung zu übernehmen, sich nicht zurückzulehnen und alles den EU-Apparaten zu überlassen, sondern gezielt für eine Lösung zu arbeiten, die Pluralität der Wirtschaftskulturen als wertvolles Werkzeug zu verwenden, um staken wirtschaftlichen Einfluss weltweit geltend machen zu können.

Ob dieses System funktionieren wird, oder ebenfalls zum Scheitern führt, wird sich zeigen, doch ein definitiv gescheitertes System weiter zu verfolgen, ist keine Lösung. Doch was geschehen wird und wie es geschehen wird, kann uns letztendlich nur die Zukunft zeigen.

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