Wolfgang Reinhard: Von der Expansion zur Krise, FAZ vom 30.09.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-16-von-der-expansion-zur-krise-14441344.html)
Autorin: Tammy Lee Bren
Inhalt
Früher expandierten die Staaten Europas in alle Länder der Welt, selbst Länder mit formaler Unabhängigkeit unterlagen der wirtschaftlichen und politischen Kontrolle Europas, es handelte sich hierbei um sogenannte Halbkolonien. Großbritannien galt als erfolgreichste Kolonialmacht, da sie nach Asien und Nordamerika expandierte. Nach dem Zweiten Weltkrieg endete die Kolonialzeit langsam durch Aufstände. Die letzten Staaten erlangten bis Ende des 20. Jahrhunderts ihre Unabhängigkeit.
Europa entstand durch drei sich überschneidende Expansionsprozesse. Während das Römische Reich nach Norden expandierte und die Barbarenvölker aus dem Nordosten in das Römische Reich eintraten, gingen beide Völker zugrunde, wodurch die römische Kirche als „Erbin des Imperiums" fungierte. Dadurch wurden die Bewohner des neu entstandenen Reichs lateinische Christen, wodurch die Christenheit und somit auch Europa entstand. Bis heute sind die Zugehörigkeiten der europäischen Staaten strittig, denn „Europa lässt sich weniger denn je territorial definieren, sondern nur prozessual als mentales, dabei aber durchaus reelles Konstrukt mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten.“
Durch die Französische Revolution wurde aus der Staatsmacht der Vollstrecker des angeblichen Willens des Volkes, wodurch der Staat die Macht bekam, Gut und Blut einzufordern, Minderheiten zu unterdrücken und andere Nationen zu verteufeln. Und durch die Einheitlichkeit des Staatsvolkes durch dieselben Rechte und Pflichten für alle sowie dieselbe Abstammung und Sprache der Bürger, wurde eine Nation.
Die moderne Staatsgewalt ist in der EU mittlerweile einheitlich. Die Adelsherrschaft und die Gemeindeautonomie sind verschwunden, der Staat hat das Monopol über die rechtmäßige Anwendung von Gewalt durch Judikative und Exekutive, und der Staat stellt das Recht her und hebt es gegebenenfalls wieder auf.
In den einzelnen Staaten sind die politischen Systeme allerdings verschieden aufgebaut, Grund dafür sind die geografischen Unterschiede der Staaten und die historische Stärkung. Dieser politische Pluralismus ist nicht nur ein Alleinstellungsmerkmal von Europa, sondern auch der Grund, weshalb weder Napoleon, Hitler noch Andere es fertiggebracht haben Europa dauerhaft zu einigen. Dem im Original lautenden Kommentar von Boris Johnson “Napoleon, Hitler, various people tried this out, and it ends tragically”, gibt Professor Dr. Wolfgang Reinhard recht.
Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand 1951 die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, seitdem waren die Vereinigten Staaten von Europa immer wieder im Gespräch, bis durch Margaret Thatcher diese Idee 1988 komplett verworfen wurde. Heute unterscheidet man zwischen Staatenbund (souveräne Mitglieder), Staatenverbund (abgetretene Souveränitätsrechte) und souveränem Staat. Auch wenn Deutschland seit der Wiedervereinigung durch die „Berliner Republik“ die EU nicht mehr so attraktiv findet wie die Kriegs- und Nachkriegsgeneration, so ist der Wille doch noch da.
Die EU ist mittlerweile eine wirtschaftliche Interessensgemeinschaft und bietet sowohl Arbeitgebern, Arbeitnehmern, als auch Kriminellen Vorteile.
Anfangs wollte die EU wirtschaftlich und politisch expandieren, wodurch die unterschiedlichsten Volkswirtschaften aufgenommen wurden. Unter diesen hastigen Fehlentscheidungen leidet die EU bis heute. Außerdem akzeptieren die Mitgliedsstaaten die Verteilung der Fördermittel, nicht aber die Lastenaufteilung. So wird der Souveränitätsverlust nur negativ belastet, während die Vorteile der EU als selbstverständlich wahrgenommen werden. Hinzu kommt, dass übersehen wird, dass das Bürokratieregime mit dem national gewählten Parlament rechtlich und politisch auf Gemeinschaften nationaler Exekutiven beruht, die ihre nationalen Parlamente ausmanövrieren. Für diese politischen Klassen darf es kein europäisches Volk geben und somit auch keine Volkssouveränität.
Ein Grund für dafür, dass die Bürger der Mitgliedsstaaten gegen die EU sind, ist, dass es keine gemeinsamen europäischen Medien gibt.
Folgen des Brexits sind weitere Auflösungserscheinungen sowie Impulse der EU- Erneuerung. Sollten die Impulse folgenlos bleiben, so droht trotzdem kein EU-Zerfall, denn die bestehenden Eirichtungen sind träge. Deshalb ist es aber auch so schwierig, Veränderungen in Richtung Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen.
Deshalb sollten wir künftig die europapolitischen Aktivitäten daran messen, wie weit sie uns den Vereinigten Staaten von Europa näherbringen beziehungsweise uns davon entfernen und bei Wahlen nach diesen Aktivitäten entscheiden.
Kommentar
Professor Dr. Wolfgang Reinhard spricht viele Gründe an, wieso die Völker der Mitgliedsstaaten sich gegen die EU aussprechen, allen voran die fehlende Aufklärung, die wie so oft der Genickbruch in der Politik sein kann. Sowohl Parteien als auch Regierungen haben durch Verschwiegenheit nach den nächsten Wahlen verloren. Fraglich hierbei ist, wieso Fehler, die leicht behoben werden könnten, nicht geradegebogen werden. Wie Reinhard das Problem der Vielsprachigkeit anspricht, wirft sich die Frage auf, wozu Kinder in der Schule Englisch als Weltsprache lernen, wenn diese bei internationalen Problemen nicht genutzt wird.
Wie aus dem Gastbeitrag hervorgeht, ist der unbändige Wille europäischer Staaten und somit auch der EU die rasche Expansion. Wobei nach jeder Ausweitung irgendwann ein Rückfall kam. Sei es der Untergang des Römischen Reichs oder die Entkolonialisierung. Dass die EU ohne große Überlegungen Staaten aufgenommen hat, ist allein auf den Machtwillen zurückzuführen. Mittlerweile wurde dieser Fauxpas durch ein Beitrittsverfahren eingedämmt, die Folgen des Ausrutschers sind jedoch bis heute spürbar.
Ein weiterer Punkt, den Reinhard anspricht, ist, dass die jeweiligen Staaten sich nur die Rosinen des Staatenverbundes herauspicken wollen, beispielsweise werden die Fördermittel der EU mit Freude angenommen, während, sobald es zu Problemen kommt, wie die derzeitige Flüchtlingssituation, nur noch wenige Staaten für eine gemeinsame Lösung bereit sind. So gebe ich Reinhard recht, dass sich Großbritannien ein Eigentor schießen wird, denn der freie Güter-, Geld- und Personenverkehr wird nach dem Brexit höchstwahrscheinlich nicht gleichbleiben, womit etwas für alle Europäer mittlerweile Selbstverständliches plötzlich wegfallen wird.
Freudig ist, die Europäische Union in Sicherheit zu wissen, dass die Begründung dafür allerdings in der Trägheit der Einrichtungen liegt, löst allgemeines Kopfschütteln aus. Selbst wenn die oben genannten Impulse nicht weiterverfolgt werden sollten, passiert im Großen und Ganzen überhaupt nichts.
Dass die beste Option, die wir als EU-Bürger haben, das Zusehen und bei Wahlen Reflektieren ist, ist meiner Meinung nach zu wenig. Wir sollten unsere Faulheit ablegen und gemeinsam für eine europaweite Aufklärung kämpfen, denn nur so ist eine Veränderung im Denken der EU-Bürger möglich, und somit der Staatenverbund wieder an Attraktivität dazu gewinnt, denn momentan erinnert mich diese Situation an den Spruch, der über die Weimarer Republik gesagt wird: Eine Demokratie ohne Demokraten. Im Falle der EU einen Staatenverbund ohne Unionsbürger. Denn viele sehen nur das Negative, von den Medien aufgebauschte und nicht, dass die EU mit ihrem Vorgänger der „Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl von 1951 (…) die erste übernationale Institution Europas“ ist und man somit nicht aus Vorgängermodellen lernen kann, sondern ein neues Terrain betreten hat, welches man noch erkunden muss.
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