Montag, 9. Juli 2018

Essay zum FAZ-Gastbeitrag „Keine Alternative für Deutschland“ von Stephen Green

Lord Stephen K. Green: „Keine Alternative für Deutschland“, FAZ vom 05.04.2017 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-26-keine-alternative-fuer-deutschland-14943544.html)

Autor: Markus Wild

Die EU ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus einer globalen Krisensituation heraus entstanden und hat im Lauf ihrer persönlichen Entwicklungshistorie so manche Hürde überwinden müssen. Gesellschaftliche und politische Wandlungsprozesse stellten für die Europäische Union als supranationalen Staatenverband stets neue Herausforderungen dar und sind bis heute stets ein wichtiger Katalysator für den politischen Fortschritt.

Die am Anfang recht überschaubare Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) entwickelte sich von einem wenige Staaten umfassenden Wirtschaftsverbund im Lauf der Jahrzehnte zu einem hochkomplexen, supranationalen politischen Staatengeflecht. Im Jahr 1973 wurde Großbritannien gemeinsam mit Irland und Dänemark im Zuge der Norderweiterung in die Europäische Gemeinschaft eingegliedert.

Nach über vier Jahrzehnten der Mitgliedschaft erschüttert das Ergebnis des Brexit-Referendums am 24. Juni 2016 die Europäische Union zutiefst und lässt die Menschen und Politiker sowohl innerhalb der EU als auch in Großbritannien selbst mit gemischten Gefühlen zurück. Der Politiker Lord Stephen K. Green versucht in seinem FAZ-Beitrag den Brexit sowie seine Hintergründe aus verschiedenen Positionen zu beleuchten und erörtert zusätzlich die Rolle Deutschlands an der zukünftigen politischen Führungsspitze der Europäischen Gemeinschaft.


Den Schock über das positive Brexit-Referendum begründet Green vor allem mit der lange Zeit falsch eingeschätzten Gesamtstimmung innerhalb der britischen Gesellschaft. Auch wenn das Referendum insgesamt recht knapp ausgefallen ist, weist Green darauf hin, dass die wenigsten Ergebnisse in den einzelnen Wahlkreisen nah beieinander lagen. Meistens waren starke Tendenzen in die eine oder andere Richtung ausschlaggebend für das Gesamtergebnis des Votums.

Green beschreibt Großbritannien vor dem entscheidenden Referendum als eine in sich tief gespaltene Nation, in der verschiedene Akteure gegeneinander arbeiten. Zum einen der Generationenkonflikt zischen Alt und Jung, auf der anderen Seite die politische und wirtschaftliche Bildungselite in den Großstädten und Schottland gegen das bürgerliche Establishment in den restlichen Provinzen des Vereinigten Königreichs.

Für Green ist es an der Zeit, nach Ursachen für den Brexit zu suchen, und er findet diese zum Teil schon während der Entstehungshistorie der EU und in der Geschichte des Vereinigten Königreichs. Während viele andere europäische Staaten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für eine neue Art der Gemeinschaft entschlossen haben und dieses Ziel mit voller Ambition verfolgten, blieb für Großbritannien der Gedanke an das „glorreiche Empire“ aus politischer Sicht lange Zeit wegweisend.

Green ist der Meinung, dass ein leidenschaftlicherer Partizipationsgedanke und ein beherzteres Mitwirken am europäischen Entwicklungsprozess die strukturellen Voraussetzungen der EU sowie die allgemeine Akzeptanz in der britischen Bevölkerung positiv beeinflusst hätten. Selbst nachdem das britische Empire aufgelöst wurde, blieb in Großbritannien das Gefühl, eine große Weltmacht zu sein, fester Bestandteil des britischen Weltbilds.
„Sehen sich die Briten als Europäer? Oder ist Großbritannien ein einzigartiges Land, das im tiefsten Sinn anders ist und das absolut dazu in der Lage ist, seinen eigenen Weg in der Welt zu finden? Wer sind wir, die wir uns Briten nennen?“
In welcher Identitätskrise sich Großbritannien befindet, wird durch das Zitat von Green sehr deutlich. Der Stolz der Briten auf die zahlreichen historischen Errungenschaften aus den glorreichen Tagen eines vergangenen Empire hat dazu geführt, dass die Briten im Umgang mit ihrer eigenen Geschichte unreflektiert vorgehen und sich auf der Rolle eines einstigen Weltreichs ausruhen. Green vertritt den Standpunkt, dass der Brexit als Scheideweg und Chance des politischen Umdenkens verstanden werden muss.

Schonungslose ehrliche Selbstanalyse und reflektives Aufarbeiten der eigenen Historie sowie die Besinnung auf das aktuelle politische Zeitgeschehen sollen dazu führen, dass das Vereinigte Königreich zu einer neuen politischen Identität findet. Durch dieses neue Selbstverständnis bzw. auch Selbsterkenntnis der britischen Nation sieht Green den Brexit als Chance, mit neuem Wind in den Segeln den nachbarlichen Verpflichtungen innerhalb Europas, aber auch auf globaler Ebene gerecht zu werden und das Gemeinwohl aller als politischen Leitsatz zu etablieren.

Der Brexit wirkt sich nicht nur auf Großbritannien als politischen Akteur aus, sondern hat auch Auswirkungen auf andere Staaten innerhalb des europäischen Binnenmarkts. Green thematisiert in seinem Artikel vor allem Deutschland und dessen wichtige Rolle als neues Flaggschiff der EU. Laut Green befindet sich auch die EU in einem reformbedürftigen Zustand, der nach einem neuen Identitätsbewusstsein mit einem selbstbewussten Deutschland als Führungsspitze und Wegbereiter verlangt.

Europa ist nicht mehr ein zweigeteilter Kontinent, der sich zwischen den Supermächten im Kalten Krieg befindet, sondern ein lebendiges, vielfältiges Staatengeflecht, dass die eurasische Landmasse besiedelt. Während China seinen Weg zur wirtschaftlichen und globalen Großmacht wiedererlangt hat und auch viele andere asiatische Staaten ihre Volkswirtschaften in Modernisierungsprozessen an die Spitze führen, prägen Verunsicherung und Zukunftsängste die Europäische Union. Die Euro-Krise und die spätere Flüchtlingskrise sorgten dafür, dass die Reformprozesse innerhalb der EU teilweise stagnierten und im Falle der Flüchtlingskrise den Zusammenhalt zwischen den Staaten auf eine harte Probe stellten.

Die derzeitige Flüchtlingssituation sorgt dafür, dass sich zwischen den Ländern Meinungsunterschiede und Konfliktherde anbahnen. Zusätzlich war der Brexit für das Gemeinschaftsprojekt Europa und dessen Fortschritt ein herber Schlag, der an dessen Grundpfeilern rüttelte und die Institution der EU als Gesamtheit in Frage stellte.

Trotz allen Widrigkeiten und derzeitigen politischen Spannungsfeldern sieht Green jedoch in Deutschland eine wichtige Schlüsselfigur und den Baumeister für das zukünftige politische Gerüst der Europäischen Union. Hinter Europa verbirgt sich mehr als eine reine Regierungsstruktur, sondern auch eine wichtige Wertegemeinschaft, die sich ihre Grundsätze und Normen hart erarbeitet hat. Die Jahrhunderte der europäischen Geschichte, aber auch die Philosophen und Denker prägten die Entwicklung ganzer Kontinente sowie unterschiedliche Staaten nachhaltig.
„So wie die Briten den Brexit als Gelegenheit zur Reflexion benützen müssen, genauso sollte die EU diesen als Scheideweg ansehen, um über radikale Reformen nachzudenken.“
Der Brexit sollte nicht als Anfang vom Ende verstanden werden, sondern als Grundstein für ein reformbedürftiges Gebäude. Jeder einzelne Mitgliedstaat der EU trägt seinen Teil zum Bau und Erhalt dieses politischen Gebäudes bei. In Zeiten des Krieges, der Krise und des Terrors ist es um so wichtiger, sich nicht durch politische Hetzkampanien, Hassreden und doppelzüngigen Populismus verunsichern zu lassen.

Deutschland steht nun gemeinsam mit den anderen Staaten der EU vor einer schwierigen Aufgabe und hat als einer der wichtigsten Baumeister die Aufgabe, das Projekt der europäischen Entwicklung mit allen Kräften voranzutreiben und zu fördern. Diese Aufgabe mag zwar ihre Schwierigkeiten und Hürden mit sich bringen, aber gleichzeitig ist sie obligatorisch und lässt keine Alternative für Deutschland zu.

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