Dienstag, 17. Juli 2018

Essay zum FAZ-Gastbeitrag "Europäischer Friede, christlicher Glaube" von Bernd Irlenborn

Bernd Irlenborn: Europäischer Friede, christlicher Glaube, FAZ vom 29.12.2016 (URL: http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/zerfaellt-europa-21-europaeischer-friede-christlicher-glaube-14592357.html)

Autorin: Jessica Toth

Professor Dr. Dr. Bernd Irlenborn ist seit 2006 Lehrstuhlinhaber für Geschichte der Philosophie und Theologische Propädeutik an der Theologischen Fakultät Paderborn. Zudem wurde er 2017 im Rahmen der Jahresversammlung der Arbeitsgemeinschaft der Philosophisch-Theologischen Hochschulen und Theologischen Fakultäten in kirchlicher Trägerschaft für die nächsten drei Jahre zum Vorsitzenden gewählt.

Er beginnt seinen Artikel mit der Ansprache von Papst Franziskus vom 6. Mai 2016 anlässlich der Verleihung des Karlspreises, in der er das „müde und gealterte Europa“, das Anziehungskraft verloren habe und eines „neuen europäischen Humanismus’“ bedürfe, kritisierte. Das große Ziel des Friedens sei nur in einer Kultur des Dialogs von Dauer, nicht aber in einem Europa, das sich in sich selbst verschanze.

Diese Kritik griff EU-Parlamentspräsident Martin Schulz auf und beklagte die Renationalisierung und Entzweiung der EU-Staaten. Das Brexit-Referendum, der (noch immer andauernde) Streit um die Flüchtlingspolitik und Terrorakte stellten eine gegenwärtige Misere einer tiefgreifenden Identitätskrise der EU dar. Der Frieden komme nicht wie der Strom aus der Steckdose, sondern sei immer wieder in Gefahr und müsse neu erarbeitet werden, so Schulz. Dieser übte dabei unter anderem auch Kritik an osteuropäischen Staaten, die sich als christliche Länder verstünden und aufgrund dessen keine Muslime aufnehmen wollten. Diese kritischen Befunde werfen bei Irlenborn die Frage auf, welche Bedeutung der christliche Glaube für das Projekt der europäischen Einigung aus heutiger Sicht besitzt.
„Der französische Außenminister Robert Schuman hatte mit seiner vielzitierten „Schuman-Erklärung“ vom 9. Mai 1950 den Grundstein für eine europäische Föderation gelegt, als er vorschlug, die französisch-deutsche Stahl- und Kohleproduktion unter eine gemeinsame Aufsichtsbehörde zu stellen.“
So Irlenborn. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), deren Gründungsmitglieder Frankreich, Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg waren, war die erste einer Reihe supranationaler europäischer Institutionen, die schließlich zur heutigen Europäischen Union wurden. Allerdings, so Irlenborn, sei das Motiv für diesen Vorschlag und die Vorstellung einer demokratischen europäischen Föderation nicht primär von einem politischen oder ökonomischen Leitbild Europas bestimmt gewesen, sondern Schumans christlichem Glauben zu verdanken.


Weiter schildert er, dass Schuman Politik und Religion trennte, sich aber ein demokratisches Europa nicht ohne die christlichen Prinzipien der Nächstenliebe und Barmherzigkeit vorstellen konnte. Um das Verhältnis von Christentum und Europa zu verdeutlichen, zieht Irlenborn die Debatte über die Präambel des Vertragsentwurfs für eine neue Verfassung der EU von 2003 heran. In dieser Debatte konnten sich die Mitglieder des Europäischen Verfassungskonvents weder auf einen Gottesbezug noch auf einen ausdrücklichen Verweis auf das christliche Erbe Europas in der Präambel einigen.
„Im Schlussentwurf folgte auf den Passus, in dem die Werte des Humanismus erwähnt wurden, ein Hinweis auf die kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas. Dieses Vorgehen wurde selbst von nichtchristlicher Seite als Ausdruck eines ideologischen Laizismus kritisiert.“
Das große Projekt einer europäischen Verfassung scheiterte jedoch. Als Fazit hält er fest, dass die christliche Prägung der ersten Integrationsschritte heute einem Pluralismus gewichen ist, in dessen politischem Rahmen Europe nicht als „christlicher Club“ erscheinen kann.

Im nächsten Abschnitt geht Irlenborn auf die gegenwärtige Verortung des Christentums ein. Zu dieser zähle nicht nur die Koexistenz mit einer Vielheit anderer Religionen, sondern auch die Säkularisierung und der Erosionsprozess des christlichen Glaubens in Europa. Des Weiteren hat sich die EU im Vertrag von Lissabon verpflichtet, den Status der christlichen Kirchen in den Mitgliedsstaaten zu achten und mit ihnen einen regelmäßigen Dialog zu führen.

Hier steht die Frage, welche Position die EU im Allgemeinen und der Europäische Gerichtshof im Besonderen bei religionspolitischen Stellungnahmen und Entscheidungen in Zukunft einnehmen werden, im Vordergrund. Irlenborn unterscheidet drei mögliche Positionen: die Position eines Säkularismus, die Position einer distanzierten Neutralität mit der Tendenz der Privatisierung der Religion und der Position einer offenen Neutralität, wobei die erste Position aus christlicher Perspektive zu kritisieren wäre, da sie auf eine Ideologisierung der Politik hinausliefe.

Irlenborn erläutert in seinem Essay, dass sich aus der christlichen Weltzuwendung des Philosophen Josef Pieper, der von einer „theologisch gegründeten Weltlichkeit“ des Abendlandes, die durch eine bejahende Zuwendung zur Welt und die Einsicht in die Gutheit allen Seins geprägt sei, sprach, die Idee des vereinten Europas nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs entwickelte.
„Aber auch wenn die europäische Identität nicht ohne den christlichen Glauben gedacht werden kann, ist weder das heutige Europa ein „christliches Abendland“ noch das Christentum eine europäische, auf den Raum „Europa“ beschränkte oder mit diesem identifizierbare Religion.“
Allerdings bedeute die grundsätzliche Trennung von Politik und Religion aus christlicher Sicht nicht, dass der Glaube apolitisch wäre. So bestehe der Auftrag der Verkündigung der Gottes- und Nächstenliebe für die Kirchen unabhängig vom jeweiligen politischen System oder auch Nationalstaat, in dem die Christen gerade leben. Der Grundsatz bleibt immer der gleiche: Sie sollen ihren Glauben leben und unter den jeweils gegebenen rechtlichen Umständen für diesen eintreten. Dieser Auftrag beziehe sich dementsprechend auch auf das suprastaatliche Gemeinwesen der EU.
„Aus christlicher Perspektive besteht nur eine einzige formale Vorgabe, und zwar die Bevorzugung einer Politik, die die Achtung der Menschenwürde und die Entfaltung des religiösen Lebens fördert, vor einer Politik, die Freiheitsrechte einschränken und religiöses Leben unterdrücken will.“
In dem darauf folgenden Abschnitt definiert Irlenborn zwei unterschiedliche Vorstellungen von Frieden. Die EU wurde mit dem Ziel, einen vorbehaltlosen Frieden in der Welt zu stiften, gegründet. Jedoch hat die Einsicht, dass jede Friedensstiftung fragil bleibt, zu zwei unterschiedlichen Vorstellungen von Frieden geführt: eine politisch-temporäre Friedensidee mit dem Verständnis des Friedens als eines vertraglich zu sichernden Waffenstillstands (im Kontext eines begrenzten Territoriums und einer bestimmten historischen Konstellation) und eine teleologisch-universale Friedensidee, die sich in ihrer Verwirklichung ausrichtet an der Zielvorstellung einer zukünftigen vorbehaltlosen Friedensstiftung.

Laut Irlenborn schließt die teleologische Friedensvision den jeweils erreichten temporären Friedenszustand ein, ohne sich darin zu erschöpfen. Dem zeitlichen Frieden in seiner fragilen Natur komme nur eine vorbehaltliche Existenz zu, die vorausweist auf das Ziel eines universalen Friedenszustands. Dieses Ziel könne entweder politisch unter rein endlichen Bedingungen oder als kosmisch-theologische Vision gedacht werden, wie im christlichen Glauben.

Weiter geht Irlenborn auf den Traktat des Abtes Charles-Irénée Castel de Saint-Pierre ein, dessen Idee, ein „vereinigtes Europa“ als Völkerbund zu schaffen, von Immanuel Kant weitergeführt wurde. Kant grenzte den bloß zeitlichen „Friedensvertrag“ klar von dem vorbehaltlosen „Friedensverbund“ ab, der als Ideal nicht bloß einen bestimmten Krieg, sondern alle Kriege für immer zu beendigen verpflichtete. Außerdem sei der vorbehaltlose Friede für Kant kein bloßes Hirngespenst gewesen.

Die Idee eines vorbehaltlosen Friedens wurde durch die beiden Weltkriege von Grund auf erschüttert. So griff im Angesicht dieser Entzweiung die Schuman-Erklärung die teleologische Friedensidee im Rahmen eines neuen Plans für die Vereinigung Europas auf. Irlenborn spricht von zwei wichtigen Aspekten in dieser Friedensvision: das große Wagnis des Friedensprojekts der europäischen Integration und die Einsicht, dass die Verwirklichung dieser Friedensvision in Europa eine Dynamik erfordere, die nicht utopisch, aber teleologisch sei. Nach Schumans Vision solle die europäische Einigung der früher verfeindeten Mächte als Antizipationsgestalt eines über Europa hinauswachsenden Friedens in der Welt wirken.

Irlenborn selbst schreibt, dass die Schuman-Erklärung zeige, dass der universale Friedensbegriff für Europa sowohl für eine christliche Deutung als auch für eine politisch-säkulare Konzeption offen sein kann. Außerdem stellt er klar, dass in dieser Universalisierung ein teleologisches Friedensideal steckt:
„Es gibt nicht mehr vorrangig Deutsche und Franzosen, West- und Osteuropäer, nicht mehr zuerst Basken und Bayern; denn alle sind eins als Europäer.“
Diese Universalisierung zielt ab auf eine Hierarchie der Selbstidentifizierung, aber nicht auf eine Aufhebung von Vielfalt. Die Frage, was das Ziel der politischen Universalisierung sein soll, beantwortet Irlenborn mit einem solidarisch-vereintem Europa in der Zukunft, ohne die Gefahr des trennenden Hasses und der Ausgrenzung des Anderen, die in starken nationalpolitischen oder ethnischen Identitätszuschreibungen liegen können.

So kommt Irlenborn zu dem Ergebnis, dass im Zeitenabstand der erreichte Friedenszustand in Europa für viele als historische Normalität erscheinen mag. Abermals betont er, dass der Frieden als Unterbrechung oder Außerkraftsetzung des kriegerischen Naturzustands immer wieder neu gestiftet werden muss. Frieden ergebe sich nicht von selbst. Unablässig drohen Menschen, Völker und Staaten in einen gesetzlosen Naturzustand zurückzufallen, warnt er. Zudem stellt er die Frage, ob denn nicht die Vernachlässigung der für die europäische Einigung zentralen Friedensidee und die immer stärkere Herausstellung problematischer Leitbilder für Europa zur heutigen Identitätskrise der EU beigetragen haben.

Zusammenfassend denke ich, dass Irlenborn mit seiner Aussage, dass der erreichte Friedenszustand in Europa für viele Menschen als historische Normalität erscheinen mag, durchaus Recht hat. Für die meisten Menschen ist dieser Friedenszustand in Europa zur „Normalität“ geworden. Während unsere Großeltern meist noch in den Krieg zogen, gilt ein Krieg in Europa heutzutage trotz aller Krisen für viele als unvorstellbar. Das sollte uns aber nicht in Sicherheit wiegen, denn der Frieden wird immer wieder bedroht, sei es durch die Flüchtlingspolitik oder den Terrorismus, der bereits in Europa angekommen ist.

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