Autor: Matthias Hartmann
In Europa geht es nicht nur um die derzeit stark diskutierte Migrationsfrage. Dies macht der am 16.09.2016 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienene Artikel „Europa muss wieder gerecht werden“ klar. Zwar wird auch diese Frage in dem von Christian Kern (damaliger Bundeskanzler der Republik Österreich) verfassten Essay behandelt, allerdings beschäftigt er sich hauptsächlich mit der Wohlstandsfrage der Europäischen Union unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit.
Demnach wird seiner Ansicht nach das Wohlstandsversprechen der Europäischen Union für die Bürger nicht mehr erfüllt, weshalb diese das Vertrauen in die europäische Politik verloren haben. Dies zeigt sich daran, dass viele die EU nicht mehr als Wohlstandsgenerator sehen, sondern als Förderer einer unfairen Modernisierung, die große Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt hat. In Kombination mit einer anhaltenden Globalisierung und einer Digitalisierung solle so die EU die Bürger vor zu starken Veränderungen in der Wirtschaft und im Arbeitsmarkt schützen, tut dies aber nicht.
Seit der Finanzkrise gibt es seiner Meinung nach eine wirtschaftliche Stagnation, die auf Grund mangelnder Investitionen eingetreten ist. Diese wirkt sich zudem auf die Entwicklungen am Arbeitsmarkt aus, indem beispielsweise die Jugendarbeitslosigkeit in südlichen Staaten Europas auf bis zu 40 bzw. 50% angewachsen ist. Eine solche Wirtschaftskrise wurde in eine Krise des Wohlfahrtstaates umgedeutet, wodurch der Bürger das Versprechen, dass es ihm bessergehen wird, nicht mehr als erfüllt ansieht.
Nicht nur in dieser Frage sei die EU den Bürgern Antworten schuldig. So auch in der schon oben genannten Flüchtlingsthematik, die derzeit stark polarisiert und in der noch keine gemeinsame europäische Lösung gefunden werden konnte. Ein solcher Zustand spiele den Rechtspopulisten Europas wie der AFD in Deutschland oder der Front National in Frankreich in die Hände. Zusammen mit den anderen offenen Fragen Europas, wie der erwähnten Wohlstandfrage und einer Steuerfrage, würden viele Europa nur als Konstrukt sehen, das einigen wenigen, den so genannten „Eliten“ nützlich ist. Auch dies lasse die Rechtspopulisten erstarken.
Dabei nimmt Kern an, dass der EU-Bürger an anderen Thematiken, wie beispielsweise, „Ob der Kommissionspräsident zu viel Macht hat oder eher der Ratspräsident, ob das EU-Parlament zu wenig Kompetenzen hat […]“ nicht interessiert ist. Dabei handelt es sich zwar laut Kern um eine wichtige Frage, allerdings sei dies nicht die „Quelle unserer Malaise“. So müsse man Europa wieder relevant für die Menschen machen.
In Folge der von ihm genannten Probleme, in der sich die Europäische Union befindet, müsse man seiner Meinung nach zum einen die offenen Fragen der EU, wie zum Beispiel die endlosen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, endlich beantworten, zum anderen aber die EU wieder zu dem machen, was sie damals verkörperte. Sie solle wieder ein „Projekt der Hoffnung“ und kein Europa der Märkte, sondern ein Europa der Aufklärung werden. Damit könne man sich wieder die Legitimität der Bürgerinnen und Bürger sichern und das Vertrauen in die europäischen Institutionen stärken.
Um dies zu erreichen, sollen neue Investitionen, wie z.B. in Infrastruktur, getätigt werden. So sei der dafür entstandene Juncker-Fonds mit seinen 315 Milliarden Euro nicht groß genug, da er nur einen Investitionsschub von 0,75 % des Bruttoinlandsprodukts der EU pro Jahr bedeuten würde. Andere Konjunkturprogramme, so zum Beispiel das der USA zwischen 2009 und 2010, seien deutlich stärker gewesen mit einem Investitionsschub von 2,8 %.
Dabei sieht Kern den industriellen Sektor als Quelle von Investition und als Basis einer stabilen ökonomischen Entwicklung Europas. Daher darf es zu keiner Schwächung der europäischen Industrie kommen, um auf internationalen Märkten konkurrenzfähig zu bleiben. Durch Investitionen in Verkehrs-, Energie,- aber auch digitale Netze soll dies verwirklicht werden. Öffentliche Investitionen dürfen so seiner Ansicht nach nicht zurückgehen.
Auch das Verhalten nach der Wirtschaftskrise wird im Essay angesprochen. So wurde die Wirkung von Austeritätsprogrammen, wie sie in Griechenland oder Spanien vorgenommen wurden, unterschätzt. So haben weitere Investitionen des Staates gefehlt, wodurch hohe Arbeitslosenquoten bei Jugendlichen entstanden seien und der Glaube an das Wohlstandsversprechen der EU gänzlich verloren ging.
Europa braucht damit sowohl neue Allianzen für eine progressive Wirtschaftspolitik, muss aber auch dafür sorgen, dass die Löhne wieder steigen, die Arbeitslosigkeit sinkt und Globalisierungsgewinne gerechter verteilt werden. Gewinner und Verlierer der Globalisierung gäbe es nach Kern immer, daraus darf keine Erosion der Mittelschicht entstehen, da dies wieder für ein Wachstum allgemein, aber auch für ein Wachstum, das bei jedem EU-Bürger ankommen soll, hinderlich ist. Er stellt zu diesem Themenkomplex auch die Frage, ob Freiheit nicht auf Kosten der Fairness geht.
Außerdem müsse es gemeinsame Grundlagen beispielsweise in der Steuerpolitik geben, da Firmen Steuern innerhalb der EU umgehen. Dies liegt hauptsächlich an einem Konkurrenzverhalten der einzelnen Mitgliedsstaaten, das nach Kern beendet werden muss. So gibt Kern ein Zitat, bezogen auf die Frage der Fairness, aber auch auf die Konkurrenz der Länder, von Dani Rodrik wieder: „[…] dass Arbeiter, wenn man sie leichter durch billigere und andere ersetzen kann, Instabilität in ihren Einkommen ernten und dass ihre Verhandlungsmacht erodiert“. Dies wird von ihm jedoch nicht weiter kommentiert.
Er kommt zu dem Schluss, Europa müsse die Jugend wieder begeistern, indem es die noch offenen Fragen gemeinsam löst. Dabei fehle jedoch der politische Mut, diese Antworten zu finden oder zu geben, da sich die europäischen Institutionen in zu langen Entscheidungsfindungen aufhalten würden. Und dies nur, da die Politiker Angst vor dem Zorn des Wählers hätten, der nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden will, diese aber schon längst durchschaut habe.
Kern sieht in seinem Essay die Probleme, weshalb die EU das Vertrauen der Bürger verliert, hauptsächlich in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Deshalb sind seine beiden zentralen Elemente zum einen Investitionen in die Wirtschaft beziehungsweise in die Infrastruktur und zum anderen der Schutz der „kleinen Leute“ vor der Globalisierung und der Digitalisierung. Dabei spricht er aber das eigentliche Problem, das in beiden Bereichen eine entscheidende Rolle spielt, gar nicht an. So sehe ich den immer noch anhaltenden Konflikt, ob Europa einen supranationaler oder einen intergouvernementaler Zusammenschluss darstellen soll.
So liegt der Schutz der Verlierer der Globalisierung in den Händen der einzelnen Mitgliedsstaaten, da diese die Umverteilungsmechanismen festlegen und steuern. Auch werden die Sozialversicherungen und Sozialleistungen von den einzelnen Regierungen festgelegt und reguliert und können sich demnach in der EU drastisch unterscheiden. Das Soziale in der EU ist also intergouvernemental gestaltet.
Damit die europäischen Institutionen die Bürger als Verlierer der Wandlungen im Arbeitsmarkt effektiv schützen kann, müssen gemeinsame Standards für Sozialsysteme erarbeitet und beschlossen werden. Ein darauffolgender Schritt könnte sogar die Einführung EU-weiter Sozialleistungen und Sozialversicherungen sein, um eine wie in Kerns Essay angesprochene Umverteilung realisieren zu können. Auf diese Möglichkeit wird allerdings nicht eingegangen, sie wird nicht einmal erwähnt. Vielleicht aus „Angst vor dem Zorn des Wählers, der nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden will“?
Zudem lässt sich so die bestehende wirtschaftliche Konkurrenz der einzelnen EU-Staaten umgehen. Wie das zuvor eingebrachte Zitat von Dani Rodrik sagt, fehlt Arbeitnehmern die Verhandlungsmacht, wenn sie jederzeit durch günstigere Arbeiter ersetzt werden können. In einem gemeinsamen Binnenmarkt, wie ihn die EU besitzt, ist es, denke ich, nicht zu vermeiden, dass Arbeitskraft und damit auch Arbeitskräfte wie ein Gut gehandelt werden und sich Unternehmen gegebenenfalls in für sie vorteilhaften Staaten niederlassen. Staaten, in denen die Produktionskosten durch geringe oder mangelnde Sozialversicherungen und Regelungen wie geringe Mindestlöhne optimiert sind. Durch gemeinsame Regelungen würde die Produktion in jedem Land ähnlich viel Kosten verursachen, weshalb ein Abwandern der Firmen in das europäische Ausland für diese nur wenig Sinn machen würde. Hier muss aber auch daran gedacht werden, ob Unternehmen dann nicht in andere, nicht der EU zugehörige Staaten abwandern würden.
Dies spricht Kern an, indem er meint, Europa und damit auch der europäische industrielle Sektor muss auf internationalen Märkten mithalten können. Durch die von ihm angesprochenen Investitionen kann sicherlich mehr Wachstum generiert werden, aber die Gewinne eines solchen Wachstums müssen, wie er selbst sagt, auch bei den Bürgern spürbar ankommen. Wie dies allerdings geschehen soll, wird auch nicht genauer angesprochen.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Staaten, die die Profiteure einer innereuropäischen Konkurrenz, auch was die Steuerpolitik betrifft, sind, keine Veränderungen darin erzielen möchten. Eine Änderung und damit das Schaffen von gemeinsamen Standards in Steuer- und Sozialpolitik würde die EU weiter zu einem supranationalen Gebilde vorantreiben. Ein solcher Weg weg von einem intergouvernementalen Verständnis dürfte sich allerdings als schwierig erweisen. Zwar hätte so die Europäische Union international gesehen mehr Möglichkeiten, aber die einzelnen Staaten müssten auf einen Teil ihrer Macht und ihrem Einflüss auf Entscheidungsfindungen in der EU verzichten. Der sich in den Einzelstaaten stärker ausbreitende Nationalismus, wie ihn viele Rechtspopulisten nutzen und weiter aufbauen, dürfte dabei auch keine Hilfe sein, ganz im Gegenteil.
Kern spricht damit einige wichtige und ungelöste Fragen der EU an, die Antworten oder Lösungen auf diese stellt sich aber meiner Meinung nach als schwierig dar. Um mehr international gesehenen Einfluss und damit auch Möglichkeiten sowohl in politischen als auch wirtschaftlichen Fragen haben zu können und somit das Wachstum der Wirtschaft weiter steigern zu können, müssen die Einzelstaaten die europäische Integration weiter vorantreiben. So wären auch weitere Investitionen in und für den industriellen Sektor möglich.
Um dies effektiv realisieren zu können, ist ein Vertrauen der Bürger in die europäischen Institutionen und damit in die Union unabdingbar. Gerade dieses ist oft aber nicht mehr vorhanden. Ein solches Vertrauen kann durchaus wiederhergestellt werden, indem erstmal die Wohlfahrtsfrage gelöst wird. Die große Schwierigkeit dabei ist meines Erachtens allerdings, die Interessen der Leute und der Industrie zu vereinen und ausbalancieren zu können, vor allem ohne gemeinsame europäische Standards. Dieses Problem ist, denke ich, den Sozialdemokraten und damit auch der SPÖ von Kern gut bekannt.
Infolgedessen finde ich die Aussage, Europa müsse wieder ein „Europa der Aufklärung, nicht der Märkte“ sein, einen guten Anfang. Auch wenn ich die von Kern später im Essay gestellte Frage, ob Freiheit auf Kosten der Fairness geht, in diesem Zusammenhang als unpassend empfinde. Da vor allem die Freiheit ein zentraler Bestandteil der europäischen Aufklärung darstellt und somit auch eine entscheidende Gemeinsamkeit in der europäischen Wertegemeinschaft darstellt.
Und trotzdem bezieht sich Kern in diesem Essay mit Bezug auf die Wohlfahrtsfrage hauptsächlich auf die Märkte. Worauf Kern nicht eingeht, ist, den Bürger durch bereits Erreichtes der EU wieder in seinem Vertrauen zu festigen. Dies könnte zum Beispiel die Tatsache sein, dass die EU eines der größten Friedensprojekte ist, weitere europäische Kriege zu vermeiden versucht und schon Standards, wie in der Lebensmittelqualität geschaffen wurden, von denen jeder EU-Bürger am Ende profitiert. Auch der Binnenmarkt oder die gemeinsame Währung ist an dieser Stelle zu nennen.
Vielleicht ließe sich so wieder etwas Vertrauen, vor allem bei Jugendlichen, in die EU aufbauen, um eine notwendige europäische Integration voranzutreiben. Dabei müssen aber die EU und damit die Politiker auch wieder mehr Vertrauen in die Bürger haben. So sieht Kern in seinem Essay den „typischen EU-Bürger“ am Anfang als eine an den politischen Vorgängen und Entscheidungsfindungen der EU uninteressierte Person, die am Ende nur darauf achtet, dass die Wohlfahrtsfrage gelöst ist und es ihr dadurch besser geht, was sich an folgendem Zitat ableiten lässt:
„Ob der Kommissionspräsident zu viel Macht hat oder eher der Ratspräsident, ob das EU-Parlament zu wenig Kompetenzen hat, all das sind wichtige Fragen, aber sie interessieren die Bürger doch nicht wirklich. Wirklich interessiert sie, ob diese Europäische Union ihre Lebenschancen verbessert oder ob sie dazu beiträgt, sie zu reduzieren.“Wenig später jedoch spricht er davon, dass die Politiker Angst vor dem Zorn des Wählers hätten:
„Denn allzu oft steckt hinter diesen vorgeblichen Hindernissen nichts anderes als die Furcht vor dem Zorn des Wählers, der nicht mit der Wahrheit konfrontiert werden wolle. Meine recht gesicherte Vermutung ist jedoch, dass die Europäer diese ritualisierten Schonungen ihrer Komfortzone längst durchschaut haben und sich lediglich darüber ärgern, dass die Politik immer wieder versucht, eine Realität vorzuspiegeln, die sich von der erlebbaren Wirklichkeit deutlich unterscheidet.“Zusammenfassend denke ich, dass man wieder gegenseitig Vertrauen finden muss, damit Europa wieder gerechter werden kann und die europäische Integration und damit auch der europäische Gedanke erhalten bleiben kann. Ein solches Vertrauen wieder aufzubauen, kann sich als schwierig erweisen, ist aber immer wieder möglich. Kleine Aktionen, wie die aktuell laufende EU-weite Onlineumfrage zur Zeitumstellung, kann jedem Bürger das Gefühl bringen, seine Meinung werde gehört und die Europäische Union sei nicht nur ein Konstrukt der „Eliten“.
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