In diesem Beitrag stellt Greta Bachmann folgenden Aufsatz vor:
Thum, Gregor (2004): Europa im Ostblock. Weiße Flecken in der Geschichte der europäischen Integration; in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1/2004, S. 379-395, online unter https://zeitgeschichte-digital.de/doks/frontdoor/deliver/index/docId/2046/file/ZF_3_2004_379_395_Thum.pdf.
Am 1. Mai 2004 traten im Rahmen der Osterweiterung zehn Staaten, darunter auch Gebiete der ehemaligen Sowjetunion, der Europäischen Union bei (vgl. S. 379). Bis zu diesem Zeitpunkt konnte die voranschreitende europäische Integration als „eine gänzlich westeuropäische Angelegenheit“ (S. 380) bezeichnet werden. Im Rahmen seines Aufsatzes befasst sich Gregor Thum mit dem Einfluss der Bürger osteuropäischer Staaten auf die europäische Integration bereits vor der Osterweiterung.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 könnte die Idee von „einer europäischen Föderation [als] ein gesamteuropäisches Projekt“ (S. 381) bezeichnet werden. Die Paneuropa-Bewegung der 1920er-Jahre wurde sowohl von West- als auch von Mitteleuropäer_innen ins Leben gerufen. Sie sprach sich für einen Staatenbund von Portugal im Westen bis zur sowjetrussischen Grenze im Osten aus (vgl. S. 381).
Hinzu kamen mehrere regionale Projekte, die eine mentale Vorarbeit für die transnationalen Strukturen der europäischen Integration leisteten. Zu nennen wären etwa im Donauraum ansässige Föderationsprojekte, die nach dem Ende der Habsburger Monarchie „nationale Eigenständigkeit mit der ökonomischen Notwendigkeit größerer Wirtschaftsräume“ (S. 382) verbinden sollten. Ebenso tragen „Dokumente der europäischen Einigungsbewegung wie das Manifest von Buchenwald“ (S. 382) auch Unterschriften von osteuropäischen Widerstandskämpfer_innen aus dem Zweiten Weltkrieg.
Tatsächliche Ergebnisse der europäischen Einigungsbewegung konnten jedoch erst nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Rahmen des Ost-West-Konfliktes erzielt werden. Als Gründe hierfür benennt Thum neben dem geographisch deutlich verkleinerten Raum auch den Druck auf die westeuropäischen Regierungen durch den bestehenden Konflikt der beiden Supermächte, sich zu einem Staatenverbund zusammenzuschließen (vgl. S. 384).
Die Trennung Europas in Ost- und Westeuropa nach 1945 sorgte nicht nur für eine unterschiedliche politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, sondern auch für die Entstehung von zwei unterschiedlichen kulturellen Sphären.
„Europa als eine den ganzen Kontinent umfassende Einheit hörte auf zu existieren“ (ebd., 385).
Auf sowjetischer Seite wurde die voranschreitende europäische Integration durch die sowjetische Führung im Allgemeinen verteufelt als eine antisowjetische, imperialistische Blockbildung (vgl. S. 391). Dennoch kam es auch innerhalb der sowjetischen Zone zu einer Staatenintegration, wobei dieser Vorgang nach Thum jedoch nicht mit der Europäischen Gemeinschaft, kurz EG, und der EFTA verglichen werden kann.
Der 1949 gegründete „Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (S. 383), kurz RGW, war insgesamt „jedoch zu sehr von der Sowjetunion selbst inspiriert, als dass er eine mit der EG vergleichbare emanzipatorische Funktion gegenüber der Hegemonialmacht erfüllen“ (S. 384) könnte.
Erste Schritte für eine Zusammenarbeit zwischen West- und Osteuropa erfolgten erst im Rahmen der „Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (S. 391) als Reaktion auf die Kubakrise von 1962. Trotz der weiterhin existierenden Grenzen wurde die Kommunikation wieder aufgenommen. Ende der 1970er-Jahre verschlechterten sich die wirtschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Sowjetunion zunehmend.
Die Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen dem sozialistischen und kapitalistischen System in Bezug auf den wirtschaftlichen Wohlstand wurde für die Bevölkerung des Ostblocks immer deutlicher. Aufgrund dieser Tatsache verlor die sowjetische Führung zunehmend an Autorität und Ansehen. Auf die mit dem bestehenden System unvereinbaren wirtschaftlichen Probleme folgten unvereinbare politische Probleme. Diese Probleme traten in Osteuropa zu einem Zeitpunkt auf, „als die EG eine Phase außerordentlicher Prosperität und beschleunigter Integration durchlief“ (S. 392).
In den 1980er-Jahren wurde sowohl in West- als auch in Osteuropa die sogenannte Mitteleuropa-Debatte mit der Intention geführt, Europa friedlich zu vereinen. Die Debatte sorgte dafür, dass sich Ostmitteleuropäer_innen auf die Zugehörigkeit ihres Heimatlandes zu Europa besannen und sich gegen ihre unfreiwillige Zugehörigkeit zur Sowjetunion wandten (vgl. S. 393).
Doch nicht nur die ostmitteleuropäischen Staaten, sondern auch die Sowjetunion versuchte sich einen Platz in der Europäischen Gemeinschaft zu sichern. Bereits 1981 sprach der damalige sowjetische Generalsekretär Leonid Breznev bei einem Besuch in Bonn von einem „Gemeinsamen Europäischen Haus“ (S. 394). Diese Idee wurde von seinem Nachfolger mit der Intention aufgegriffen, die Sowjetunion als eine fest Größe in Europa zu etablieren. Eine tatsächliche Realisierung dieser Vorstellungen wurde jedoch durch den Zerfall der Sowjetunion verhindert.
Bislang umfasst die Osterweiterung der Europäischen Union lediglich Staaten westlich von Russland. Auch wenn Russlands Präsident die Idee des Gemeinsamen Europäischen Hauses im Jahr 2001 aufgriff, ist ein russischer Beitritt bislang nicht in Sicht.
„EU-Europa hat nämlich noch keine Antwort darauf gefunden, in welchem Verhältnis es in Zukunft zu seinem großen Nachbarn im Osten stehen will.“ (S. 395).
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